Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 16.10.2008
Aktenzeichen: 7 A 3096/07
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6 Abs. 11
Für die Unterscheidung, ob unselbstständige Teile einer baulichen Anlage oder aber mehrere Gebäude nebeneinander bestehen, ist bauordnungsrechtlich das Kriterium der in funktionaler und bautechnischer Hinsicht selbstständigen Benutzbarkeit maßgebend.

Weisen Gebäude gemeinsame Bauteile auf, kann zudem eine am Zweck des Gesetzes ausgerichtete wertende Betrachtung erforderlich sein.


Tatbestand:

Der Kläger wandte sich gegen eine bauliche Anlage ("Abstellraum") auf dem Grundstück der Beigeladenen. Der Abstellraum ist Teil eines Bauwerks, dessen Entstehung in die 70iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreicht. Auf dem Grundstück der Beigeladenen hatte ihr Rechtsvorgänger ohne Baugenehmigung mit der Errichtung eines Wohnhauses begonnen. Mit Bescheid vom 28.03.1974 forderte der Beklagte den Vater der Beigeladenen auf, das im Rohbau erstellte Gebäude abzubrechen. In der Folgezeit wurde der Rohbau mit Ausnahme des Kellers abgebrochen; der Keller wurde mit Erdreich verfüllt.

Im Jahre 1999 ließ die Beigeladene das angeschüttete Erdreich entfernen. Da das Gelände geneigt ist, konnten die Kellerräume zum rückseitigen Geländebereich geöffnet und als Pferdestall eingerichtet werden. Im Bereich zum Grundstück des Klägers tritt das ehemalige Kellergebäude maximal etwa 90 cm über die Geländeoberfläche hervor.

2002 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer nachträglichen Baugenehmigung für den bestehenden Pferdestall. Die Bauvorlagen sehen, dem tatsächlichen Bestand entsprechend, im "Erdgeschoss" mehrere Pferdeboxen sowie einen Raum für landwirtschaftliche Geräte vor. Im Erdgeschoss (früheres Kellergeschoss) wurde im Abstand von 3 m zur Grenze des Grundstücks des Klägers und zu dieser parallel verlaufend ein "Zaun" errichtet. Der Raum für landwirtschaftliche Geräte, der "Abstellraum", wurde entlang der durch den Zaun markierten Abstandlinie durch eine Zwischenwand von dem Pferdestall abgeteilt. Der Pferdestall wurde mit einem Satteldach, der "Abstellraum" mit einem "Flachdach" versehen.

Den Antrag des Klägers auf bauordnungsbehördliches Einschreiten gegen den Abstellraum lehnte der Beklagte ab. Die Klage blieb in zweiter Instanz erfolglos.

Gründe:

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte der Beigeladenen die Beseitigung des im 3-m-Bereich zu seiner Grundstücksgrenze errichteten "Abstellraums" aufgibt. Die Anlage entspricht vielmehr den Anforderungen des hier nur in den Blick zu nehmenden § 6 BauO NRW. Ob der Kläger nachbarliche Abwehrrechte verwirkt hat, bedarf daher keiner Entscheidung.

Der Entscheidung zugrunde zu legen ist die Bauordnung in der Fassung, die sie durch das Gesetz vom 12.12.2006, GV NRW 2006, 615, erhalten hat. Denn der Nachbar hat keinen Anspruch auf Abbruch solcher Gebäude, die nach früherer Rechtslage einmal rechtswidrig gewesen sein mögen, auf die der Bauherr nach derzeitiger Rechtslage jedoch einen Genehmigungsanspruch hätte.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 5.10.1965 - IV C 3.65 -, BRS 16 Nr. 97; Beschluss vom 22.04.1996 - 4 B 54.96 -, BRS 58 Nr. 157.

Diese rechtlichen Zusammenhänge wurzeln in der Bedeutung des durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentums und haben nichts mit der vom Kläger aufgeworfenen Frage zu tun, welches gesetzgeberische Anliegen mit der Änderung der Bauordnung, hier des § 6 BauO NRW verfolgt worden ist: § 6 BauO NRW zielt auch in seiner Neufassung nicht auf die Sanktionierung illegaler Bautätigkeit, sondern bestimmt die abstandflächenrechtlichen Anforderungen an bauliche Anlagen.

Gemäß § 6 Abs. 11 BauO NRW sind Gebäude mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m über der Geländeoberfläche, die zu Abstellzwecken genutzt werden, an der Grenze ohne eigene Abstandflächen zulässig, und zwar auch dann, wenn sie an ein Gebäude gebaut werden oder/und wenn sie über einen Zugang zu einem anderen Gebäude verfügen. Der durch Errichtung einer Trennwand entstandene Teil des Bauwerks ist ein Gebäude in diesem Sinne. Mit dem von der Beigeladenen angegebenen Nutzungszweck ist es als Abstellraum an der Grenze abstandrechtlich zulässig.

Gemäß § 2 Abs. 2 BauO NRW, der mit dem dort festgelegten Inhalt für sämtliche Vorschriften der Bauordnung gilt, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5.11.2007 - 7 E 737/07 -, sind Gebäude solche selbstständig benutzbaren, überdachten baulichen Anlagen, die von Menschen betreten werden können und geeignet oder bestimmt sind, dem Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen zu dienen. Selbstständige Benutzbarkeit setzt nicht Abtrennung oder Abtrennbarkeit von anderen baulichen Anlagen voraus, weshalb aneinander gebaute bauliche Anlagen auch dann mehrere Gebäude i. S. d. § 2 Abs. 2 BauO NRW sein können, wenn sie über eine gemeinsame Trennwand oder durchlaufende Stahlbetondecken verfügen.

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Juli 2008, § 2 Rdnr. 34.

Mit anderen Worten ist nicht entscheidend, ob das Gebäude bei statischer bzw. baukonstruktiver Betrachtung für sich Bestand haben könnte oder aber von dem anderen Gebäude aus konstruktiven Gründen nicht getrennt werden kann. Vielmehr ist für die Unterscheidung, ob unselbstständige Teile einer baulichen Anlage oder aber mehrere Gebäude nebeneinander bestehen, in bauordnungsrechtlicher Hinsicht das Kriterium der in funktionaler und bautechnischer Hinsicht selbstständigen Benutzbarkeit maßgebend.

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, a.a.O., § 2 Rdn. 34; Nds. OVG, Beschluss vom 26.02.1980 - 6 A 86/79 -, BRS 36 Nr. 151; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 13.12.1995 - 4 B 245.95 -, BRS 57 Nr. 79.

Dieser Gebäudebegriff ist für den Anwendungsbereich des § 6 BauO NRW durch seine Neufassung bestätigt und bestärkt worden, denn dort ist nunmehr der Fall als abstandrechtlich unschädlich ausdrücklich erfasst, dass von dem abstandrechtlich privilegierten Gebäude aus ein Zugang zu einem anderen Gebäude besteht. Der Gesetzeswortlaut stellt - in Übereinstimmung mit Sinn und Zweck der Vorschrift - auf den Zugang auch zu einem solchen Gebäude ab, das selbst nur mit eigenen Abstandflächen errichtet werden darf. Dieses Normverständnis wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt, denn danach sollte durch die Neuregelung einem vielfachen Wunsch nach einem direkten Zugang zwischen Wohngebäude und Garage bzw. Abstellraum Rechnung getragen werden.

Vgl. Gesetzentwurf der Landesregierung, Zweites Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, LT-Drucks. 14/2433, S. 16 f., unter Berücksichtigung auch der Gefahr einer unzulässigen Umnutzung der nach Abs. 11 privilegierten Gebäude zu Aufenthaltszwecken.

Soweit aus dem Gebäudebegriff darüber hinaus regelmäßig abzuleiten sein sollte, dass ein Gebäude einen eigenen Zugang haben muss, vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, a.a.O., § 2 Rdnr. 35, m.w.N., bedarf es hierzu keiner weiteren Ausführungen, denn der Abstellraum ist einzig über die zum rückwärtigen Grundstücksbereich ins Freie ausgerichtete Öffnung zugänglich. Der Vergleich des Klägers zu einem innerhalb eines Gebäudes gelegenen Raum, der geteilt wird, geht an diesen Gegebenheiten vorbei. Zudem blendet der Vergleich des Klägers die weitere Voraussetzung des § 2 Abs. 2 BauO NRW aus, nämlich die selbstständige Benutzbarkeit, die nicht festgestellt werden könnte, ohne dass die dem Raum bzw. dem Gebäude zugedachte Funktion mit in den Blick genommen wird.

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, a.a.O., § 2 Rdn. 33.

Allerdings kann in den Fällen, in denen Gebäude gemeinsame Bauteile aufweisen, eine wertende Betrachtung zur Frage erforderlich sein, ob es sich um zwei Gebäude oder ein Gebäude handelt. So kann beispielsweise ein über eine Garage bis zur Grundstücksgrenze hin abgeschlepptes Dach die Prüfung erfordern, ob das Wohnhaus (in abstandflächenrechtlich unzulässiger Weise) bis an die Grundstücksgrenze herangebaut ist oder nicht. In die Wertung ist einzustellen, ob bei natürlicher Betrachtungsweise, in die die baukonstruktiven Merkmale der Bauausführung sowie das Erscheinungsbild und die Funktion der betrachteten Bauteile einzubeziehen sind, das grenzständig errichtete Gebäude und das (Haupt-)Gebäude als zwei voneinander unabhängige Gebäude erscheinen und ob das grenzständige Gebäude weiterhin nur den Eindruck eines - grenzständigen - Anbaus an das (Haupt-)Gebäude vermittelt.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.05.2004 - 7 A 3556/02 -, Urteil vom 20.03.2006 - 7 A 3025/04 -, juris.

Die im vorliegenden Fall erforderliche Bewertung bestätigt, dass es sich bei dem Abstellraum um ein selbstständiges Gebäude handelt. Der Abstellraum ist mit dem Pferdestall nicht durch einen Durchgang verbunden. Er tritt als selbstständiges Gebäude optisch in Erscheinung. Er setzt sich von dem Pferdestall schon dadurch ab, dass über dem Pferdestall ein Satteldach errichtet ist und hierdurch der Eindruck eines größeren Gebäudes entsteht, an das ein eher garagenähnlicher, mit einem Flachdach versehener Baukörper angesetzt ist. Dieser Eindruck wird verstärkt durch den (aus Anlass einer zivilrechtlichen Regelung zwischen der Beigeladenen und dem Kläger) im Abstand von 3 m zum Grundstück des Klägers errichteten Zaun. Auch wenn der Zaun wieder entfernt werden sollte, bliebe der Eindruck eines eigenständigen Gebäudes bestehen, das sich äußerlich nicht von einem Gebäude unterscheidet, das nachträglich an den Pferdestall hätte angebaut worden sein können oder das als ein von vornherein zur eigenständigen Nutzung vorgesehenes Gebäude zusammen mit dem Hauptgebäude errichtet wurde.

Ob für die Bewertung der Gebäudegegebenheiten die Entstehung des Vorhabens in Fällen einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme der abstandrechtlichen Privilegierungstatbestände von Belang sein kann, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Die Beigeladene macht von den Möglichkeiten des § 6 Abs. 11 BauO NRW nicht rechtsmissbräuchlich Gebrauch. (wird ausgeführt)

Der Abstellraum hält die Abmessungen ein, die gemäß § 6 Abs. 11 Satz 5 BauO NRW an einen in den Abstandflächen zulässigen Abstellraum gestellt sind. Ein Flächenhöchstmaß sieht die Bauordnung für den abstandflächenrechtlich privilegierten Abstellraum nicht mehr vor. Die Privilegierung wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Abstellraum zur Zeit der Augenscheinseinnahme leer stand. Ein Abstellraum verliert seinen Nutzungszweck nicht, wenn in ihm vorübergehend keine Gegenstände abgestellt werden. Für die vom Kläger auch nicht formulierte Annahme, die Beigeladene wolle den Abstellraum zu bauordnungsrechtlich unzulässigen Zwecken nutzen, gibt es keine Grundlage.

Ende der Entscheidung

Zurück