Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 26.08.2004
Aktenzeichen: 7 A 4005/03
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB, PrFluchtlG, BauO


Vorschriften:

VwGO § 114 Satz 1
BauGB § 233 Abs. 3
BBauG § 173 Abs. 3 Satz 1
PrFluchtlG § 1 Abs. 4
PrFluchtlG § 4
BauO NRW § 61 Abs. 1 Satz 2
1. Mit der auf § 1 Abs. 4 PrFluchtlG gestützten Festsetzung von hinter Straßenfluchtlinien zurückweichenden Baufluchtlinien war der Zweck verbunden, die zwischen beiden Linien liegende Fläche als Vorgarten festzusetzen. Aus der Vorgartenfestsetzung folgte die Verpflichtung zur Anlage und Unterhaltung der Vorgartenfläche als Gartenland.

2. Wie die nach § 1 Abs. 4 PrFluchtlG festgesetzte Vorgartenfläche verwandt werden durfte, konnte durch Baupolizeiverordnung konkretisiert werden.

3. Ein Vorgärten festsetzender Fluchtlinienplan kann mit den ihn ergänzenden Regelungen einer Baupolizeiverordnung als übergeleiteter Bebauungsplan fortgelten.

4. Bestimmen die den Fluchtlinienplan ergänzenden Regelungen der Baupolizeiverordnung, in welchem Maß oder zu welchem Zweck Vorgärten ausnahmsweise baulich genutzt werden dürfen, hat die Bauaufsichtsbehörde von diesem Regelungszusammenhang auszugehen, wenn sie nach pflichtgemäßem Ermessen gegen die bauliche Nutzung eines Vorgartens einschreiten will.


Tatbestand:

Die Klägerin ist Eigentümerin eines mit einem Mehrfamilienhaus bebauten Grundstücks. Sie wendet sich im vorliegenden Verfahren gegen die Ordnungsverfügung des Beklagten, mit der ihr aufgegeben worden ist, nach Bestandskraft der Ordnungsverfügung zu veranlassen, dass die befestigte Fläche im Vorgarten ihres Mehrfamilienhauses nicht mehr zum Parken von Fahrzeugen genutzt wird.

Das Grundstück der Klägerin grenzt an den M. Platz. Die geschlossene Bebauung südwestlich und nordöstlich des M. Platzes hält zu den beiden den Platz begrenzenden Straßen jeweils einen Abstand ein; der davor liegende Bereich ist überwiegend als Vorgarten gärtnerisch angelegt. Einige Vorgartenbereiche sind (teilweise) befestigt. Zum Teil werden hier auf den befestigten Flächen Fahrräder oder/und Müllgefäße abgestellt. Durch die Vorgartenbereiche der Grundstücke 12, 33 und 35 führen geneigte Zufahrten zu jeweils einer im Kellergeschoss gelegenen Garage. Die Vorgartenfläche der Häuser 4 und 14 ist mit Ausnahme der Einfriedungen und weiterer vereinzelter Grünelemente ganz überwiegend plattiert. Auf einer dieser Flächen werden nicht nur Fahrräder, sondern nach jetziger Mitteilung der Klägerin auch ein Motorrad abgestellt.

Die im vorliegenden Verfahren strittige Ordnungsverfügung ist auf einen Widerspruch der untersagten Nutzung zu Festsetzungen eines Fluchtlinienplans gestützt.

Nach erfolglosem Vorverfahren erhob die Klägerin Klage, die in zweiter Instanz Erfolg hatte.

Gründe:

Die Ordnungsverfügung des Beklagten und der Widerspruchsbescheid sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Der Beklagte hat von dem ihm durch § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW eingeräumten Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 61 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW haben die Bauaufsichtsbehörden u.a. bei der Errichtung baulicher Anlagen im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften eingehalten werden. Der Beklagte war danach ermächtigt, gegen die von der Klägerin errichteten Stellplätze ordnungsbehördlich einzuschreiten (1.), hat dies aber nicht in einer ermessensfehlerfreien Weise getan (2.).

1. Die Klägerin bedurfte für die Errichtung der beiden Stellplätze zwar keiner Baugenehmigung (vgl. § 62 Abs. 1 Nr. 6 BauO NRW 1984). Die Stellplätze sind jedoch materiell-rechtlich illegal (vgl. § 62 Abs. 4 BauO NRW 1984), widersprechen nämlich den Festsetzungen des Fluchtlinienplans (vgl. § 30 Abs. 1, Abs. 3 BauGB), der als übergeleiteter Bebauungsplan gemäß § 233 Abs. 3 BauGB weiterhin geltendes Satzungsrecht setzt.

Der Fluchtlinienplan ist wirksam.

Der Fluchtlinienplan gilt als gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 übergeleiteter Bebauungsplan gemäß § 233 Abs. 3 BauGB fort. Die Fortgeltung ist dann anzunehmen, wenn der übergeleitete Plan dem bei seiner Aufstellung geltenden Recht entsprach und er ferner einen Inhalt hat, der auch rechtmäßiger Inhalt eines zur Zeit der Überleitung erlassenen Bebauungsplans hätte sein können.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.1972 - 4 C 14.71 -, BRS 25 Nr. 25, Beschluss vom 15.8.1991 - 4 N 1.91 -, BRS 52 Nr. 33.

Der Fluchtlinienplan entsprach dem bei seiner Aufstellung geltenden Recht.

Gemäß § 1 Abs. 1 des Preußischen Gesetzes betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften vom 2.7.1875, GS 561, (PrFluchtlG), konnte der Gemeindevorstand im Einverständnis mit der Gemeinde unter Zustimmung der Ortspolizeibehörde Straßen- und Baufluchtlinien festsetzen. Gemäß § 1 Abs. 4 PrFluchtlG konnte eine hinter die Straßenfluchtlinie zurückweichende Baufluchtlinie festgesetzt werden. Der Fluchtlinienplan setzt für seinen Geltungsbereich Straßen- und Baufluchtlinien fest. Die Festsetzungen können anhand des vom Beklagten vorgelegten Originalplans (noch) in einer den Bestimmtheitsanforderungen genügenden Weise nachvollzogen werden. Festsetzungen und Darstellungen eines (übergeleiteten) Bebauungsplans müssen eindeutig und klar sein, so dass die Bürger und die Behörde dem Plan unmissverständlich entnehmen können, wo und wie gebaut werden darf.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1983 - 4 C 18.81 -, BRS 40 Nr. 64; OVG NRW, Urteil vom 29.1.1990 - 11a NE 94/88 -, BRS 50 Nr. 5.

Die Festsetzungen des Fluchtlinienplans lassen sich der Originalurkunde zwar erst nach aufmerksamen Studium, welche Festsetzungen nach den zahlreichen Änderungen noch gelten, letztlich aber (noch) zweifelsfrei entnehmen. (wird ausgeführt)

Der Fluchtlinienplan genügt ferner den sich aus § 4 PrFluchtlG ergebenden Anforderungen, wonach jede Festsetzung von Fluchtlinien (§ 1) eine genaue Bezeichnung der davon betroffenen Grundstücke und Grundstücksteile und eine Bestimmung der Höhenlage sowie der beabsichtigten Entwässerung der betreffenden Straßen und Plätze enthalten muss. Neben den Fluchtlinienfestsetzungen sind in der Planzeichnung alle Grundstücke bezeichnet. Zudem verweist die Planurkunde auf den zugehörigen Höhenplan; die beabsichtigte Entwässerung ist bestimmt.

Für den Bereich des Grundstücks der Klägerin ist eine hinter die Straßenfluchtlinie zurückweichende Baufluchtlinie festgesetzt. Der dazwischen liegende Bereich ist zum Teil grün schraffiert, zum Teil vollflächig grün unterlegt als sogenannter Vorgartenbereich gekennzeichnet. Dies ergibt sich aus Folgendem: Mit der auf § 1 Abs. 4 PrFluchtlG gestützten Festsetzung von hinter Straßenfluchtlinien zurückweichenden Baufluchtlinien war kein anderer Zweck als der verbunden, die zwischen beiden Linien liegende Fläche als Vorgarten festzusetzen, der als Gartenland angelegt und unterhalten werden sollte.

Vgl. Pr OVG, Erkenntnis vom 18.10.1892 - Nr. IV 972 -, Pr.VBl 1892, 114, Urteil vom 16.4.1912 - IX B 19/11 -, Pr. OVGE 61, Nr. 86.

Die aus der Festsetzung von Straßenfluchtlinien sowie hinter diesen Linien zurückweichenden Baufluchtlinien folgende Verpflichtung zur Anlage und Unterhaltung der Vorgartenfläche als Gartenland konnte durch Baupolizeiverordnung konkretisiert, nämlich festgelegt werden, wie die Vorgartenfläche verwandt werden durfte.

Vgl. Pr OVG, Erkenntnis vom 18.10.1892 - Nr. IV 972 -, a.a.O., Urteil vom 16.4.1912 - IX B 19/11 -, a.a.O.

Wie der (durch die auf das Preußische Fluchtliniengesetz gestützte Festsetzung von Straßenfluchtlinien und dahinter zurückweichende Baufluchtlinien festgelegte) Vorgarten gärtnerisch gestaltet werden darf, legt hier die Bauordnung vom 26.1.1929 fest. Gemäß § 6 B Nr. 4 Satz 1 BauO 1929, der auf § 11 PrFluchtlG Bezug nimmt, darf ein Überschreiten der von der Straßenfluchtlinie verschiedenen Baufluchtlinie (Bebauung des Vorgartens) grundsätzlich nicht stattfinden. Im Folgenden sind Fälle aufgezählt, in denen die Baupolizeibehörde Vorbauten mit Zustimmung der Gemeinde unter den genannten Bedingungen zulassen darf. Zu den Vorbauten gehören danach u.a. Terrassen, soweit sie in der Fläche nicht über die halbe Länge der Gebäudefront und die halbe Tiefe des Vorgartens hinausgehen (§ 6 B Nr. 4 Satz 2 Buchstabe a BauO 1929). Die Anlage von Stellplätzen ist in § 6 B Nr. 4 BauO 1929 nicht vorgesehen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, Stellplätze seien als solche damals noch nicht bekannt gewesen. Schon unter Geltung des Preußischen Fluchtliniengesetzes gab es Plätze, auf denen etwa Droschken oder Kutschen abgestellt wurden. Dementsprechend entsprach es einhelliger Auffassung, dass nicht nur Zugänge, sondern auch (notwendige) Zufahrten durch den Vorgarten geführt werden durften.

Vgl. Meyer/Saß, Straßen- und Baufluchtengesetz, 7. Aufl., 1934, § 1 Bem. 20 c); Saran, a.a.O., Erl. zu § 1 Bem. 26 m).

Bis zur Zeit der Überleitung des Fluchtlinienplans im Jahre 1960 waren Stellplätze für Kfz ohnehin bekannt, ohne dass § 6 B Nr. 4 BauO 1929 geändert worden ist.

Das dargelegte Verständnis des Fluchtlinienplans mit den ihn ergänzenden Vorschriften der Bauordnung 1929 bestätigt § 25 II BauO 1929, ohne dass es in diesem Zusammenhang auf die Frage ankommt, ob auch diese Bestimmung mit dem Fluchtlinienplan zusammen übergeleitet worden ist. § 25 II Nr. 2 Abs. 3 und Abs. 4 BauO 1929 regeln die Zulässigkeit von Garagenzufahrten mit Geländeeinschnitten und sehen vor, dass entsprechende Garagenzufahrten durch den Vorgarten nach Maßgabe einzelner Bedingungen angelegt, nicht aber im Vorgarten ein Stellplatz errichtet werden durfte. Die Bebauung beiderseits des Platzes ist offenkundig unter Berücksichtigung der genannten Regelungen errichtet worden. Es gibt drei Zufahrten zu im Kellergeschoss jenseits des Vorgartens gelegenen Garagen.

Der Fluchtlinienplan mit den ihn ergänzenden Bestimmungen des § 6 B BauO 1929 hätte rechtmäßiger Inhalt eines zur Zeit der Überleitung erlassenen Bebauungsplans sein können. Das Bundesbaugesetz 1960 ermöglichte die Festsetzung nicht überbaubarer Grundstücksbereiche (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 b) BBauG 1960) sowie die Bestimmung von Grünflächen (vgl. § 9 Satz 1 Nr. 8 BBauG); zu den danach möglichen Festsetzungen gehörte auch die Festsetzung einer privaten Grünfläche mit der Zweckbestimmung Vorgarten. Das städtebauliche Erscheinungsbild kann durch unbebaute Grundstücke ebenso stark geprägt werden wie durch bauliche Anlagen. Die Art der Mischung von Bebauung und Freiflächen gehört zu den wesentlichen städtebaulichen Strukturmerkmalen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.5.2001 - 4 CN 4.00 -, BRS 64 Nr. 1; Urteil vom 17.6.1994 - 8 C 22.92 -, NVwZ 1995, 1213.

Es besteht auch kein Anhalt für die Annahme, dass die durch die Bauordnung 1929 ergänzten Festsetzungen des Fluchtlinienplans deshalb nicht hätten übergeleitet werden können, weil der Inhalt des Fluchtlinienplans nicht bebauungsplangemäß hätte bestimmt werden können, da der durch den Fluchtlinienplan geregelte Interessenausgleich zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis gestanden hätte.

Vgl. zu den für übergeleitete Vorschriften und Pläne geltenden Anforderungen des Abwägungsgebots: BVerwG, Urteil vom 20.10.1972 - IV C 14.71 -, a.a.O.

Namentlich beidseits des Platzes liegt ein städtebauliches Konzept nahe, das den Platzcharakter durch die Festlegung begrünter Vorgartenbereiche entlang der den Platz begrenzenden Straßen betont. Die Verpflichtung der von der Festsetzung betroffenen Grundstückseigentümer zur gärtnerischen Anlage der Vorgärten ist demgegenüber von geringerer Bedeutung.

Der Fluchtlinienplan ist einschließlich der ihn ergänzenden Regelungen der Bauordnung 1929 übergeleitet worden. Aus § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 ergibt sich, dass bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bestehende baurechtliche Vorschriften als Bebauungspläne gelten, soweit sie verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art enthalten. Mit der Überleitung werden sie im Regelfall zu Satzungen. Dies gilt grundsätzlich auch für einen Fluchtlinienplan einschließlich der ihn ergänzenden Regelungen einer Bauordnung.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.8.1991 - 4 N 1.91 -, a.a.O., Urteil vom 17.12.1998 - 4 C 16.97 -, BRS 60 Nr. 71.

Aus dem Urteil des BVerwG vom 23.8.1968 - IV C 103.66 -, BRS 20 Nr. 17 ergibt sich nichts anderes. Dort hat das BVerwG zu § 21 der Münchener Staffelbauordnung vom 23.12.1959 (StBO) die Auffassung vertreten, dass eine Vorschrift, die einheitlich gleichzeitig einer ordnungs- wie einer planungsrechtlichen Zielsetzung dient, nicht übergeleitet werden könne, da sie sonst mit übereinstimmenden Wortlaut als sowohl planungs- als auch ordnungsrechtliche Vorschrift fortbestünde. Eine derartige Verdoppelung entspreche grundsätzlich nicht dem Wesen der Überleitung und werde deshalb allenfalls unter besonderen Voraussetzungen - etwa dann, wenn die bauplanungs- und die bauordnungsrechtliche Zielsetzung gleichrangig und außerdem von einander unabhängig sind - angenommen werden können. Um eine solche nach Ansicht des BVerwG bedenkliche Verdoppelung bauplanungs- und bauordnungsrechtlicher Fragen geht es jedoch bei den Regelungen des § 6 B Nr. 4 BauO 1929 nicht. Dort ist vielmehr unter Bezug auf § 11 des PrFluchtlG bestimmt, dass eine Bebauung des Vorgartens nicht stattfinden darf. Die Regelung greift damit ausschließlich die Zielsetzung des Fluchtlinienplanes auf und bestätigt diese. Es handelt sich nicht um eine bloß bauordnungsrechtliche Regelung, sondern - ausgehend von dem planungsrechtlichen Konzept der Vorgartenfestsetzung - um die Bestimmung der Ausnahmen, die die Baupolizeibehörde in besonderen Fällen zulassen kann. Insoweit entsprechen die in § 6 B Nr. 4 Satz 2 Buchstaben a bis e geregelten Fälle der Sache nach einer Ausnahmeregelung im Sinne des § 31 Abs. 1 BauGB.

Der Fluchtlinienplan ist nicht funktionslos. (wird ausgeführt)

Von den Festsetzungen des als Bebauungsplan übergeleiteten Fluchtlinienplans in Verbindung mit den ihn ergänzenden Regelungen der Bauordnung 1929 kann für die von der Klägerin angelegten beiden Stellplätze keine Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB erteilt werden. (wird ausgeführt)

2. Der Beklagte ist gegen die beiden von der Klägerin in Widerspruch zu den Festsetzungen des Fluchtlinienplans nebst den ihn ergänzenden Regelungen der Bauordnung 1929 hergestellten Stellplätze rechtswidrig eingeschritten, hat nämlich von dem ihm durch § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW eröffneten Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht.

Bei der Ausübung seines Ermessens, gegen die Stellplatznutzungen einzuschreiten, hat sich der Beklagte an dem Regelungszweck der Baurechtsnorm zu orientieren, deren Schutz die Ordnungsverfügung sicherstellen soll. Der Fluchtlinienplan fordert die gärtnerische Anlage der Vorgärten. § 6 B Nr. 4 BauO 1929 ermächtigt die Bauordnungsbehörde nur in den dort bestimmten Fällen, Ausnahmen zuzulassen. Weitere Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Der Beklagte verlässt den Entscheidungsspielraum, der ihm durch den als Satzung fortgeltenden übergeleiteten Fluchtlinienplan nebst den ihn ergänzenden Bestimmungen der Bauordnung 1929 eröffnet ist, wenn er über den Regelungsbereich hinaus weitergehende Ausnahmen hinnimmt. So ist es hier.

Der Fluchtlinienplan lässt nicht zu, dass eine dem Vorgarten zuzuordnende Grundstücksfläche außer für die notwendigen Zugänge und Zufahrten über die sich in der Bauordnung 1929 geregelten Fälle hinaus bebaut wird. Selbst wenn eine entsprechende Anwendung des § 6 B Nr. 4 Satz 2 Buchstabe a) BauO 1929 in Betracht gezogen würde, wonach Terrassen in der Fläche über die halbe Länge der Gebäudefront und die halbe Tiefe des Vorgartens nicht hinausgehen sollen, aber in besonderen Fällen zugelassen werden können, hilft dies weder dem Beklagten noch der Klägerin weiter. Die beiden Stellplätze erstrecken sich über mehr als die halbe Tiefe des Vorgartens, nehmen nämlich den Vorgarten in voller Tiefe in Anspruch.

Die Ermessensausübung des Beklagten entspricht ferner nicht etwa deshalb dem Zweck des Fluchtlinienplans in Verbindung mit den ihn ergänzenden Regelungen der Bauordnung 1929, weil er gegenüber der grundsätzlich möglichen Forderung, die beiden Stellplätze zu beseitigen, mit der Nutzungsuntersagung ein der Klägerin milderes Mittel gewählt hätte. Auch das mildere Mittel muss zumindest ein geeignetes Mittel sein, muss hier also auf die Durchsetzung einer Ordnungspflicht gerichtet sein, die sich aus dem Fluchtlinienplan in Verbindung mit den ergänzenden Bestimmungen der Bauordnung 1929 ableiten lässt. Der Beklagte will dies annehmen, da die von der Klägerin errichteten Stellplätze wohl entfernt würden, wenn die Klägerin sie nicht zum Abstellen von Kraftfahrzeugen nutzen dürfe. Einen zwingenden Zusammenhang für diese Annahme des Beklagten gibt es nicht. Sie liegt angesichts der Kosten einer Entsiegelung, die der Beklagte der Klägerin nicht zu erstatten angeboten hat, auch eher fern. Der Beklagte meint ferner, er dürfe sich auf die Nutzungsuntersagung beschränken, weil diese verhindern würde, dass andere Eigentümer Vorgärten befestigen würden, um dort Kraftfahrzeuge abzustellen. Dies mag sein. Dem Zweck des Fluchtlinienplans in Verbindung mit den ihn ergänzenden Bestimmungen der Bauordnung 1929 kommt der Beklagte jedoch auch auf diese Weise nicht näher. Denn Vorbildwirkung hätte die Nutzungsuntersagung auch in einer dem Zweck der Ermächtigung widersprechenden Richtung. Aus ihr wäre nämlich abzuleiten, dass der Beklagte die (nahezu vollständige) Befestigung von Vorgartenflächen hinnimmt, solange die befestigten Flächen nicht zum Abstellen von Kraftfahrzeugen genutzt werden. Die Befestigungen der Grundstücke Platz 4 und 14 sind entsprechende Vorbilder. Die Nutzungsuntersagung bestärkt damit die Gefahr einer vom Fluchtlinienplan nicht gewollten Entwicklung und ist daher zwar ein scheinbar milderes, aber ungeeignetes Mittel. In Konsequenz der vom Beklagten angedachten Ermessenshandhabung könnte der Fluchtlinienplan hinsichtlich der Vorgartenfestsetzung letztlich funktionslos werden. Die Vorgärten dürften - ohne dass der Beklagte hiergegen einschreiten würde - weitgehend plattiert werden, um etwa Fahrräder, Müllgefäße etc. abzustellen, so lange nur keine Kraftfahrzeuge abgestellt werden. Eine solche Entwicklung hätte mit einer gärtnerischen Anlage der Vorgärten im Sinne der Festsetzungen des Fluchtlinienplans (ergänzt durch die Bauordnung 1929) jedoch wenig gemein. Zwar mag die "dreidimensionale Wirkung" (auf die die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abgestellt haben) von Kraftfahrzeugen besonders beeinträchtigend sein. Abgesehen davon, dass auch Fahrrädern, Motorrädern und Müllgefäßen eine ähnliche "dreidimensionale Wirkung" zukommen dürfte, löst sich der Beklagte mit solchen Ermessenserwägungen von dem Plankonzept, das ihm der Fluchtlinienplan vorgibt. Der Fluchtlinienplan stellt es nicht in das Belieben der Bauaufsichtsbehörde, ein Konzept der Vorgartenbebauung zu entwickeln, das im Wege der faktischen Duldung noch hingenommen werden kann. Er beschreibt vielmehr durch die in der Bauordnung 1929 festgelegten Ausnahmen abschließend, innerhalb welchen Rahmens von der grundsätzlichen Verpflichtung zur gärtnerischen Anlage der Vorgärten nur abgewichen werden darf.

Im Übrigen ist die Ordnungsverfügung auch gleichheitswidrig und deshalb aus einem weiteren selbständigen Grunde ermessensfehlerhaft. Die Vorgärten der Grundstücke 4 und 14 sind über den durch § 6 B Nr. 4 BauO 1929 gezogenen Rahmen hinausgehend plattiert. Gegen diese Plattierungen ist der Beklagte nicht eingeschritten, obwohl das Konzept des Flächennutzungsplans durch vergleichbare flächenhafte Plattierungen in Frage gestellt werden kann. Dies ist mit der "dreidimensionalen Wirkung" abgestellter Kraftfahrzeuge - wie ausgeführt - nicht zu rechtfertigen.



Ende der Entscheidung

Zurück