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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 19.08.2003
Aktenzeichen: 7 B 1040/03
Rechtsgebiete: BauNVO, BauGB


Vorschriften:

BauNVO § 1 Abs. 5 Nr. 8
BauNVO § 3
BauNVO § 4
BauNVO § 4 Abs. 2 Nr. 2
BauNVO § 4 Abs. 2 Satz 2
BauNVO § 4 Abs. 3
BauNVO § 4 Abs. 3 Nr. 2
BauGB § 34
BauGB § 34 Abs. 2
BauGB § 34 Abs. 2 2. Halbsatz

Entscheidung wurde am 25.11.2003 korrigiert: Datum korrigiert
1. Ist eine in einem Bebauungsplan festgesetzte Nutzungsart (hier: Tennisanlage) seit mehreren Jahren aufgegeben und wird der Bebauungsplan ersatzlos aufgehoben, weil seit längerem kein Bedarf für die Tennisanlage mehr bestand und alternative Nutzungen an seinen Festsetzungen gescheitert waren, so rechnet die Verkehrsauffassung vom Tage der Bekanntgabe der Aufhebung an nicht mehr mit der Wiederaufnahme der aufgegebenen Nutzung.

2. Liegt die Verkaufsfläche eines Einzelhandelsbetriebs (hier: ALDI-Markt) noch bei 700 qm, führt dies nicht schon für sich zur Zulässigkeit des Betriebs in einem allgemeinen Wohngebiet; der Betrieb muss vielmehr im Einzelfall der Versorgung des Gebiets dienen.

3. Zur Abgrenzung des Gebiets, dessen Versorgung ein Laden i.S. des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO dient.

4. Ein Laden, der nicht iSv § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der Versorgung des Gebiets dient, kann auch nicht ausnahmsweise nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zugelassen werden, wenn er durch seinen hohen, gebietsfremden Kundenverkehr mit Kraftfahrzeugen gebietsunübliche Störungen verursacht und damit gebietsunverträglich ist.


Tatbestand:

Die Antragsteller wenden sich gegen die Baugenehmigung für einen ALDI-Markt in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Der Markt soll auf dem Gelände einer ehemaligen Squash- und Tennisanlage unmittelbar neben der vielbefahrenen Eisenbahnstrecke Köln-Koblenz in einem von Wohnbebauung und schulischen Anlagen geprägten Bereich errichtet werden. Jenseits der Bahnlinie finden gewerbliche Nutzungen statt. Das VG hatte auf den Antrag der Antragsteller die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die Baugenehmigung angeordnet und die Antragsgegnerin verpflichtet, die Bauarbeiten auf dem Grundstück vorläufig stillzulegen. Die Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen hatten keinen Erfolg.

Gründe:

Das Vorhaben der Beigeladenen ist nach § 34 Abs. 2 BauGB bauplanungsrechtlich unzulässig.

Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen steht nicht etwa aufgrund des der Beigeladenen erteilten, bestandskräftig gewordenen Vorbescheids vom 9.2.2001 zwischen den Beteiligten fest. Da der Vorbescheid bei Erteilung der hier streitigen Baugenehmigung den Antragstellern gegenüber noch nicht bestandskräftig war, besteht ihnen gegenüber keine Bindung an den Inhalt des Vorbescheids.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 9.12.1993 - 4 C 44.80 -, BRS 40 Nr. 176, Urteil vom 17.3.1989 - 4 C 14.85 -, BRS 49 Nr. 168.

Gemäß § 34 Abs. 2 BauGB beurteilt sich die Zulässigkeit eines Vorhabens, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der in der Baunutzungsverordnung bezeichneten Baugebiete entspricht, seiner Art nach allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre. Die Eigenart der näheren Umgebung entspricht hier einem reinen oder allgemeinen Wohngebiet i.S. des § 3 bzw. des § 4 BauNVO. Eine genauere Beurteilung ist im vorliegenden Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht erforderlich, da das Vorhaben der Beigeladenen weder in einem reinen noch in einem allgemeinen Wohngebiet allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist.

Das VG hat die maßgebliche Umgebung, soweit sie vorliegend streitig ist, zutreffend bestimmt. Die nähere Umgebung beschränkt sich demnach auf das Gebiet nordöstlich (diesseits) der Eisenbahntrasse.

Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer gehört das jenseits (südwestlich) der Bahntrasse gelegene Gebiet bis zur K.-Straße (Bundesstraße 9) nicht mehr zur maßgebenden Umgebung. Insoweit wirkt die Bahntrasse als Zäsur. Dabei kann dahinstehen, ob die Bahntrasse bereits wegen ihrer Dimensionen und der Verkehrsfrequenz eine Unterbrechung des fortlaufenden Bebauungszusammenhangs darstellt, so dass das an sie anschließende Gebiet unabhängig von der Art seiner Bebauung nicht mehr zu dem hier maßgebenden Baugebiet gehört. Denn die trennende Wirkung der Bahntrasse ergibt sich hier jedenfalls daraus, dass sie zwischen zwei Gebieten völlig unterschiedlichen Charakters verläuft. Während im Gebiet nordöstlich der Bahntrasse fast ausschließlich Wohngebäude vorhanden sind, befinden sich in dem Bereich zwischen der Bahntrasse und der K.-Straße ausschließlich Gewerbebetriebe. Die Bahntrasse bildet eine klare Grenze zwischen diesen völlig unterschiedlichen Nutzungen, denn nordöstlich der Bahntrasse findet sich keinerlei gewerbliche Nutzung.

Die maßgebliche Umgebung entspricht entweder einem reinen Wohngebiet nach § 3 BauNVO oder einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 BauNVO. In ihr befinden sich neben Wohngebäuden nur eine Schule mit Schulsportanlage und ein Spielplatz. Das streitbefangene Grundstück selbst übt keine prägende Wirkung aus. Zwar ist die auf dem Baugrundstück vorhandene Bebauung grundsätzlich zu berücksichtigen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 22.9.1967 - IV C 109.65 -, BRS 18 Nr. 24.

Ist aber die ehemals vorhandene Bebauung beseitigt worden oder wird die vorhandene Bebauung nicht mehr genutzt, so kommt es darauf an, ob mit einer Wiederbebauung oder Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen ist. Welche zeitlichen Grenzen hierfür zu beachten sind, richtet sich nach der Verkehrsauffassung.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.5.1995 - 4 C 20.94 -, BRS 57 Nr. 67

Danach war hier seit dem 3.1.2001 nicht mehr mit der Wiederaufnahme der seit 1996 aufgegebenen, dem Bebauungsplan 8216-84 entsprechenden Nutzung des Grundstücks als Tennis- und Squash-Anlage zu rechnen. An diesem Tag wurde der Aufhebungsbeschluss für den Bebauungsplan bekannt gemacht. Der Bebauungsplan wurde aufgehoben, weil - wie sich aus der Begründung für die Aufhebungssatzung ergibt - schon seit längerem kein Bedarf mehr für die Tennis- (und Squash-)anlage bestand und ins Auge gefasste alternative Nutzungen des Geländes an den Festsetzungen des Bebauungsplan gescheitert waren. Durch die Aufhebung des insoweit als überholt angesehenen Bebauungsplans sollte die Möglichkeit eröffnet werden, anderweitige Nutzungsabsichten am Maßstab des § 34 BauGB zu messen. Unter diesen Umständen hatte die aufgegebene Nutzung auf dem streitbefangenen Grundstück zum Zeitpunkt der Erteilung des Vorbescheids wie auch der angefochtenen Baugenehmigung an die Beigeladene keine prägende Wirkung mehr.

Entspricht die maßgebliche Umgebung einem allgemeinen Wohngebiet, so beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen nach seiner Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein oder jedenfalls ausnahmsweise zulässig wäre, § 34 Abs. 2 BauGB. In einem allgemeinen Wohngebiet sind nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO u.a. die der Versorgung des Gebiets dienenden Läden zulässig. Das Vorhaben der Beigeladenen stellt aber keinen solchen der Versorgung des Gebiets dienenden Laden dar.

Mit einer - sich aus den Bauantragsunterlagen ergebenden - Größe des Verkaufsraums von netto 700 qm liegt das Vorhaben der Beigeladenen nach der Rechtsprechung des BVerwG noch im Grenzbereich für einen Einzelhandelsbetrieb der wohnungsnahen Versorgung.

Jedoch ist das Vorhaben der Beigeladenen nicht schon wegen Einhaltung der genannten Verkaufsflächengrenzen nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V. mit § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig. Seine Zulässigkeit hängt auch davon ab, ob es die weiteren Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO erfüllt. Dazu gehört auch, dass es tatsächlich der Versorgung des Gebiets dienen muss.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.11.2000 - 10 B 1428/00 -.

Ob es als gebietsbezogen qualifiziert werden kann, ist ausgehend vom Betriebskonzept des Betreibers vorwiegend anhand objektiver Kriterien zu beurteilen. Zu diesen Kriterien gehört neben der Größe und der sonstigen Beschaffenheit der Anlage auch der Zuschnitt der Anlage, die daraus sich ergebenden Erfordernisse einer wirtschaftlich tragfähigen Ausnutzung, die örtlichen Gegebenheiten und die typischen Verhaltensweisen in der Bevölkerung. Danach ist zu beurteilen, ob der ALDI-Markt voraussichtlich nur oder zumindest in einem erheblichen Umfang von den Bewohnern des umliegenden Gebiets aufgesucht wird oder ob ein darüber hinausgehender Kundenkreis zu erwarten ist, der zum Verlust des Gebietsbezuges führt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.1998 - 4 C 9.97 -, BRS 60 Nr. 68 zu demselben Begriff im Zusammenhang mit Schank- und Speisewirtschaften.

Wie weit die Grenze des Gebiets zu ziehen ist, dessen Versorgung der geplante ALDI-Markt dienen soll, lässt sich nicht abstrakt festlegen, sondern bestimmt sich nach den jeweiligen städtebaulichen Verhältnissen. Bildet das Wohngebiet mit angrenzenden Gebieten, die rechtlich oder tatsächlich ebenfalls als Wohngebiet zu qualifizieren sind, einen einheitlich strukturierten zusammenhängenden Bereich, so kann dies ein Grund dafür sein, den räumlichen Bezugsrahmen für die nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO gebotene Beurteilung entsprechend zu erweitern. Außer Betracht zu bleiben haben unabhängig von den Grenzen des Baugebiets außer Gebieten, die durch eine andere Nutzungsart gekennzeichnet sind, indes Gebiete, die von dem Einzelhandelsbetrieb so weit entfernt sind, dass der vom Verordnungsgeber vorausgesetzte Funktionszusammenhang nicht mehr als gewahrt angesehen werden kann.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3.9.1998 - 4 B 85.98 -, BRS 60 Nr. 67 für Schank- und Speisewirtschaften.

Nach diesen Grundsätzen gehört nur der Bereich östlich und nordöstlich der Eisenbahntrasse zu dem i.S. des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO zu versorgenden Wohngebiet. Wie weit sich dieser Bereich nach Norden erstreckt, kann vorliegend dahinstehen.

Nicht zu dem "Gebiet" i.S. des § 4 Abs. 2 Satz 2 BauNVO gehört nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäben das Wohngebiet, das sich jenseits der Bahntrasse südwestlich der K.-Straße erstreckt. Denn es bildet mit dem hier maßgeblichen Gebiet östlich und nordöstlich der Bahntrasse keinen einheitlich strukturierten zusammenhängenden Bereich, weil sich zwischen beiden Gebieten die Bahntrasse und ein Gewerbegebiet befinden.

Die Lage des geplanten ALDI-Markts spricht aber dafür, dass dieser zu einem nicht unerheblichen Teil auch Kunden aus dem Gewerbegebiet und dem genannten Wohngebiet südwestlich der K.-Straße anziehen wird und mithin nicht nur der Gebietsversorgung i.S. des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO dient. Er liegt verkehrsgünstig in der Nähe der A.-M.-Straße, die die genannten weitläufigen, bis nach M. reichenden Wohngebiete erschließt. Für diese Wohngebiete gibt es nach dem von der Beigeladenen vorgelegten Plan lediglich einen Supermarkt, der zudem vom Sortiment und Preisniveau her nicht direkt mit einem ALDI-Markt konkurriert. Die südlich in der D.straße und nördlich in der Altstadt gelegenen Supermärkte sind von diesen Wohngebieten weiter entfernt als der geplante ALDI-Markt. Dass die Kunden aus diesem Gebiet, um zum geplanten ALDI-Markt zu gelangen, den häufig geschlossenen Bahnübergang am K.weg werden überqueren müssen, wird der Attraktivität des Marktes angesichts fehlender Alternativen keinen Abbruch tun. Zudem ist die Ersetzung des Bahnübergangs durch eine Unterführung geplant.

Die Beigeladene selbst geht im Rahmen der von ihr vorgenommenen Tragfähigkeitsberechnung von einem Einzugsbereich mit einem Radius von 700 m aus, der zu etwa 3/7 in dem genannten Bereich südwestlich der Bahntrasse liegt.

Entgegen der Ansicht der Beigeladenen ist an den dargestellten Kriterien für die Abgrenzung des Versorgungsbereichs festzuhalten. Die demgegenüber von der Beigeladenen vorgetragene "dynamische Interpretation" des "Gebiets" im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO, wonach gestiegene Konsumansprüche und ein geändertes Einkaufsverhalten größere Verkaufsflächen und eine größere Stellplatzzahl erforderlich machten, weil aus ökonomischen Gründen ein größerer Einzugsbereich versorgt werden müsse, lässt außer Acht, dass zwar die verbrauchernahe Versorgung der Bevölkerung einen gemäß § 1 Abs. 5 Nr. 8 BauNVO bei der Bauleitplanung zu berücksichtigenden Belang darstellt, dass aber die mit einem Laden verbundenen Belästigungen der Umgebung dem jeweiligen Gebietscharakter entsprechend möglichst gering gehalten werden sollen. In einem allgemeinen Wohngebiet sollen die Bewohner nicht weitergehenden Belästigungen dadurch ausgesetzt sein, dass durch An- und Abfahrtverkehr zusätzliche Unruhe erzeugt wird, die von einem Wohngebiet ferngehalten werden soll. Personen, die nach realistischer Betrachtungsweise auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen sind, wenn sie den Laden aufsuchen wollen, gehören nicht zu der Zielgruppe, deren Versorgung § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO vornehmlich ermöglichen will.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3.9.1998 - 4 B 85.98 -, BRS 60 Nr. 67 für Schank- und Speisewirtschaften.

Die Ansicht der Beigeladenen würde letztlich dazu führen, dass der zunehmende Konzentrationsprozess insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel immer größere Einzelhandelsbetriebe mit einem immer größeren Einzugsgebiet und entsprechend hohem Kraftfahrzeugverkehrsaufkommen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO in Wohngebieten zulässig werden ließe. Zudem könnte - wie der vorliegenden Fall illustriert - die von der Beigeladenen vorgeschlagene "dynamische Interpretation" des "Gebiets" i.S. des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO dazu führen, dass entgegen den gesetzlichen Anforderungen Gebiete unterschiedlichen Charakters - wie beispielsweise hier Wohn- und Gewerbegebiete - zu einem einheitlichen Versorgungsgebiet eines in einem allgemeinen Wohngebiet gelegenen Ladens verklammert werden. Eine solche Entwicklung würde aber mit dem vom Normgeber der Baunutzungsverordnung festgelegten Charakter eines allgemeinen Wohngebiets kollidieren.

Das Vorhaben dürfte auch nicht nach § 34 Abs. 2 2. Halbsatz BauGB i.V. mit § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO als sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb ausnahmsweise zulässig sein. Ausnahmen nach § 4 Abs. 3 BauNVO sind nicht zulässig, wenn sie den Gebietscharakter eines allgemeinen Wohngebiets gefährden und damit gebietsunverträglich sind. Das ist der Fall, wenn das Vorhaben - bezogen auf den Gebietscharakter des allgemeinen Wohngebiets - aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirkt. Das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit bestimmt nicht nur die regelhafte Zulässigkeit, sondern erst recht den vom Verordnungsgeber vorgesehenen Ausnahmebereich. Zwischen der jeweiligen spezifischen Zweckbestimmung des Baugebiets und dem jeweils zugeordneten Ausnahmekatalog besteht ein gewollter funktionaler Zusammenhang. Daher ist die normierte allgemeine Zweckbestimmung auch für die Auslegung und Anwendung der tatbestandlich normierten Ausnahmen bestimmend. Die Gebietsunverträglichkeit beurteilt sich für § 4 BauNVO in erster Linie nach dem Kriterium der gebietsunüblichen Störung. Der "störende" Gewerbebetrieb erzeugt eine Gebietsunverträglichkeit, es sei denn, die Störung wäre im Rahmen einer gebietsbezogenen Versorgung nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO hinzunehmen. Für die Frage der Störung kommt es dabei nicht darauf an, ob die mit der Nutzung verbundenen immissionsschutzrechtlichen Lärmwerte eingehalten werden. Entscheidendes Kriterium ist, ob die durch das Vorhaben in das Wohngebiet getragene Unruhe und deren Auswirkungen auf die auch im allgemeinen Wohngebiet erstrebte gebietsbezogene Wohnruhe die allgemeine Zweckbestimmung des Gebiets, nämlich vorwiegend dem Wohnen zu dienen, gefährden. Dieses dem Wohngebiet immanente "Ruhebedürfnis" ist nicht gleichbedeutend mit einer immissionsschutzrechtlich relevanten Lärmsituation. Es handelt sich um die Vermeidung als atypisch angesehener Nutzungen, die den Charakter einer kollektiven Wohngemeinschaft im Sinne des Gebietscharakters stören.

Vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 21.3.2002 - 4 C 1.02 -, BVerwGE 116, 155 = NVwZ 2002, 1118

Das Vorhaben der Beigeladenen dürfte wegen des von ihm ausgelösten, nicht nur auf das Wohngebiet bezogenen Ziel- und Quellverkehrs in dem dargestellten Sinn gebietsunverträglich und deshalb nicht als ausnahmsweise zulässiger nicht störender Gewerbebetrieb zu werten sein. Wie oben ausgeführt, wird es voraussichtlich zu einem nicht unerheblichen Teil Kunden aus den westlich und südwestlich der Bahnlinie gelegenen Wohngebieten anziehen. Aller Erfahrung nach wird ein beträchtlicher Anteil dieser Kunden mit dem Kraftfahrzeug kommen. Die Beigeladene selbst rechnet mit einem täglichen Aufkommen von bis zu 835 Kraftfahrzeugen. Dem Senat ist allerdings aus einem anderen Verfahren bekannt, dass an zwei ALDI-Märkten in Leverkusen Anfang 2002 eine tägliche Frequenz von jeweils über 1.300 PKW ermittelt wurde.

Vgl. Beschluss vom 15.4.2002 - 7 B 182/02 -.

Der 10. Senat des erkennenden Gerichts verweist in einem Beschluss vom 28.11.2000 - 10 B 1428/00 - auf ein Schreiben der Firma ALDI vom 19.5.2000, wonach deren Märkte erfahrungsgemäß an den verkaufsstärksten Tagen ca. 2.000 PKW-Kunden hätten. Angesichts dieser Erfahrungswerte erscheinen die von der Beigeladenen angenommenen Zahlen auch unter Berücksichtigung einer gewissen Bandbreite der Kfz-Frequenzen bei ALDI-Märkten eher niedrig. Realistischerweise ist mit einer täglichen Frequenz von jedenfalls gut über 1.000 Kraftfahrzeugen zu rechnen. Die von diesem - zu einem erheblichen Teil von außerhalb des Wohngebiets stammenden - Verkehr ausgelösten Störungen der Wohnruhe dürften dazu führen, dass das Vorhaben der Beigeladenen als gebietsunverträglich anzusehen ist.

Die Zweifel an der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen in einem allgemeinen Wohngebiet gelten erst Recht für den Fall, dass sein Standort einem reinen Wohngebiet zuzuordnen ist.

Ist das Vorhaben der Beigeladenen planungsrechtlich unzulässig, haben die Antragsteller einen entsprechenden Abwehranspruch gegenüber dem Vorhaben. Ebenso wie die Festsetzung eines Baugebiets in einem Bebauungsplan vermitteln die Vorschriften des § 34 Abs. 2 BauGB i.V. mit § 4 BauNVO dem Nachbarn Schutz dagegen, dass die Eigenart der näheren Umgebung durch die Zulassung von Vorhaben verändert wird, die nach der Art der Nutzung dort nicht zulässig sind. Die Nachbarn haben in diesem Sinn einen Anspruch auf Bewahrung der Gebietsart. Dieser Anspruch besteht auch dann, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung des Nachbarn führt. Der Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird.

Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 16.9.1993 - 4 C 28.91 -, BRS 55 Nr. 110.

Unabhängig davon, dass das Vorhaben der Beigeladenen schon wegen seines Widerspruchs zum Gebietscharakter unzulässig sein dürfte, begegnet es im Hinblick auf die von ihm ausgehenden Lärmemissionen auch unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebots Bedenken.

Nach dem von der Beigeladenen in Auftrag gegebenen Lärmgutachten der K. GmbH liegen die von dem Vorhaben verursachten Beurteilungspegel zwischen 49 dB(A) (am Haus der Antragsteller) und 55 dB(A) (am nördlichen Mehrfamilienhaus der auf dem Nachbargrundstück geplanten Bebauung). Als Immissionsrichtwert ist jeweils der Tagesrichtwert nach der TA Lärm für ein allgemeines Wohngebiet von 55 dB(A) angesetzt, der nach dem Gutachten allenfalls knapp eingehalten wird. Der Untersuchung liegt - ausgehend von einem fünffachen täglichen Wechsel je Stellplatz - nur die oben genannte tägliche Frequenz von 835 Kraftfahrzeugen zu Grunde. Wie dargelegt, erscheint diese Fahrzeugfrequenz auch unter Berücksichtigung einer gewissen Bandbreite der Kraftfahrzeugfrequenzen bei ALDI-Märkten jedoch eher niedrig. Sollte bei realistischer Betrachtung eine höhere Kraftfahrzeugfrequenz am Vorhaben der Beigeladenen zu erwarten sein, so dürfte die Einhaltung der Immissionsrichtwerte insbesondere am Immissionsort 4, für den das Gutachten einen Beurteilungspegel gerade noch in Höhe des Richtwertes ermittelt hat, fraglich sein.

Den aufgeführten Zweifel an der Zulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen wird im Rahmen des Hauptsacheverfahrens nachzugehen sein. Für das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes schlagen sie sich in der Abwägung zu Gunsten der Antragsteller nieder, so dass deren Aussetzungsinteresse gegenüber dem Vollzugsinteresse überwiegt.

Ende der Entscheidung

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