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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 17.07.2008
Aktenzeichen: 7 B 195/08
Rechtsgebiete: BauO NRW 2006


Vorschriften:

BauO NRW 2006 § 6 Abs. 1 Satz 2
BauO NRW 2006 § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b)
1. § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 erkennt in Übereinstimmung mit der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung den Vorrang des Bauplanungsrechts vor dem Bauordnungsrecht an.

2. § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006 lässt es nur dann zu, auf die Einhaltung der landesrechtlich an sich erforderlichen Abstandfläche zu verzichten, wenn sich der Bauherr in Ausnutzung der bauplanungsrechtlichen Möglichkeiten dafür entscheidet, ohne Grenzabstand zu bauen.

3. Macht der Bauherr in den Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006 bauplanungsrechtlich zulässigerweise nur teilweise - sei es bezüglich der Tiefe der Bebauung, sei es bezüglich ihrer Höhe - von der Option einer grenzständigen Bebauung Gebrauch, müssen die nicht grenzständig errichteten Teile der Außenwand ihrerseits die landesrechtlichen Abstanderfordernisse einhalten.

4. Auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 kommt ein Verzicht auf die Einhaltung einer seitlichen Abstandfläche hinsichtlich untergeordneter Bauteile - wie Balkone oder vorgebaute Treppenhäuser - nicht in Betracht.


Tatbestand:

Die Antragstellerin begehrte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Einzelhauses mit vier Wohnungen. Das VG lehnte den Antrag ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hatte Erfolg.

Gründe:

Das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen, das u.a. ein Staffelgeschoss umfasst, hält zu dem westlich gelegenen Nachbargrundstück Gemarkung C., Flur 71, Flurstück 480, das im Miteigentum der Antragstellerin steht, die vor der westlichen Außenwand des Staffelgeschosses erforderliche Abstandfläche nicht ein. Bauplanungsrechtliche Vorgaben entbinden die Beigeladene insoweit nicht von dem Erfordernis, die nach den Regelungen der Landesbauordnung in der hier anzuwendenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006 (GV. NRW. BauO NRW 2006, S. 615) zu ermittelnde Abstandfläche einzuhalten (1). Der Beigeladenen kann eine geringere Tiefe der Abstandfläche auch nicht, wie der Antragsgegner meint, auf der Grundlage des § 6 Abs. 16 BauO NRW 2006 gestattet werden (2.). Schließlich scheidet auch die Zulassung einer Abweichung nach § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 (3.) aus.

1. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2006 sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Mit dem Begriff der "Abstandflächen" sind bauordnungsrechtliche Abstandflächen gemeint; das Bauplanungsrecht regelt kein Abstandflächenmaß. Die genannte Vorschrift gibt damit landesrechtlich vor, dass vor Außenwänden grundsätzlich Abstandflächen einzuhalten sind, deren Lage und Ausdehnung sich im Einzelnen nach den Vorgaben der Absätze 2 bis 6 des § 6 BauO NRW 2006 richten.

Dieser Grundsatz wird durch § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 eingeschränkt. Diese Vorschrift erkennt in Übereinstimmung mit der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.3.1994 - 4 B 53.94 -, BRS 56 Nr. 65; vgl. auch OVG NRW, Urteile vom 22.8.2005 - 10 A 3611/03 -, BRS 69 Nr. 91, und vom 24.6.2004 - 7 A 4529/02 -, BRS 67 Nr. 143, den Vorrang des Bauplanungsrechts vor dem Bauordnungsrecht an.

Vgl. LT-Drucks. 14/2433, S. 11.

Hiernach sind "innerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen", d.h. in den Bereichen, die nach dem einschlägigen Bauplanungsrecht überbaut werden dürfen, Abstandflächen "nicht erforderlich". Dieser Verzicht auf die landesrechtlichen Abstanderfordernisse gilt jedoch nur gegenüber bestimmten Grundstücksgrenzen, wobei die genannte Vorschrift zwei Fallgruppen erfasst:

§ 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) BauO NRW 2006 erfasst die Fälle, in denen nach den einschlägigen planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden muss, mithin insbesondere die Fälle einer bauplanungsrechtlich vorgegebenen geschlossenen Bauweise (vgl. § 22 Abs. 3 BauNVO). Der Gesetzgeber hat in § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) BauO NRW 2006 überdies die früher in § 6 Abs. 17 BauO NRW geregelten Fälle aufgenommen, in denen die einschlägigen planungsrechtlichen Vorschriften zwingend einen geringeren Grenzabstand vorgeben, als er sich aus den landesrechtlichen Abstandregelungen ergeben würde (sog. abweichende Bauweise); in diesen Fällen ist anstelle der bauordnungsrechtlichen Abstandfläche der bauplanungsrechtlich vorgegebene Grenzabstand einzuhalten.

§ 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006 spricht hingegen die Fälle an, in denen nach den planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden darf, das einschlägige Bauplanungsrecht dem Bauherrn mithin die Wahl belässt, unmittelbar an die Grenze zu bauen oder eine Abstandfläche einzuhalten. Die genannte Vorschrift lässt es in diesen schon in der Gesetzesbegründung angesprochenen bauplanungsrechtlichen Fallgruppen, vgl. LT-Drucks. 14/2433, S. 12 Abs. 3, allerdings nur dann zu, auf die Einhaltung der landesrechtlich an sich erforderlichen Abstandfläche zu verzichten, wenn sich der Bauherr in Ausnutzung der bauplanungsrechtlichen Möglichkeiten dafür entscheidet, ohne Grenzabstand zu bauen. Nur in diesen Fällen soll die durch § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 beabsichtigte Sicherung des Vorrangs des Bauplanungsrechts bewirkt und demzufolge eine bauordnungsrechtliche Abstandfläche nicht erforderlich sein. Bestärkt wird das Ziel des Gesetzes durch die weitere Voraussetzung des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006, dass gesichert sein muss, dass auf dem Nachbargrundstück ohne Grenzabstand gebaut wird.

§ 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006 beinhaltet mithin - nach wie vor - den Grundsatz, dass dann, wenn eine Grenzbebauung planungsrechtlich zwar erlaubt, aber nicht vorgeschrieben ist, dem Bauherrn also ein Wahlrecht zukommt, eine bauordnungsrechtliche Abstandfläche nur dann nicht erforderlich ist, wenn in Übereinstimmung mit dem Bauplanungsrecht an die Grenze gebaut wird. Das Wahlrecht kann von beiden Nachbarn zudem nur gemeinsam ausgeübt werden, so dass im Regelfall nicht auf einem Grundstück an einer Grundstücksgrenze grenzständig und auf dem angrenzenden anderen Grundstück mit Grenzabstand gebaut werden darf, insbesondere darf nicht grenzständig an ein Grundstück angebaut werden, das bereits unter Einhaltung von Abstandflächen bebaut ist. Es wird weiter sichergestellt, dass im Bereich unbebauter Grundstücke die Lage von Doppelhäusern und Hausgruppen nicht einseitig von demjenigen vorgegeben werden kann, der als erster baut, sondern Ergebnis eines vorausgegangenen Einigungsprozesses unter den Nachbarn sein muss. In den Fällen, in denen keine Einigung unter den Nachbarn erzielt wird und auch keine vergleichbare Anbausicherung besteht, ist ein Grenzanbau bauordnungsrechtlich nicht zulässig und daher - nach wie vor - eine Abstandfläche einzuhalten.

Vgl. LT-Drucks. 14/2433, S. 12 Abs. 4.

Macht der Bauherr in den Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006 zulässigerweise nur teilweise - sei es bezüglich der Tiefe der Bebauung, sei es bezüglich ihrer Höhe - von der Option einer grenzständigen Bebauung Gebrauch, müssen die nicht grenzständig errichteten Teile der Außenwand ihrerseits die landesrechtlichen Abstanderfordernisse einhalten. Diese Außenwandteile stehen nicht an der Nachbargrenze. Sie unterfallen damit nicht dem Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006 und sind demgemäß nicht wegen des Vorrangs des Bauplanungsrechts von der Einhaltung der landesrechtlichen Abstanderfordernisse freigestellt.

Ob der Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 durch nach Bauplanungsrecht im Einzelfall mögliche Befreiungen (vgl. § 31 Abs. 2 BauGB) bzw. Ausnahmen (vgl. § 31 Abs. 1 bzw. § 34 Abs. 3a BauGB) erweitert wird, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung.

Der Regelungsgehalt des § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 wird nach alledem allein durch die in Buchst. a) und b) genannten Fallgruppen bestimmt. Nur in diesen Fällen entspricht es dem Sinn des Gesetzes, dem Bauplanungsrecht Vorrang vor der Anwendung bauordnungsrechtlicher Abstandbestimmungen zu geben, denn erfasst ist entweder der Fall des Grenzanbaus, der ohnehin keine Abstandfläche auslösen kann, oder der Fall der Errichtung eines Gebäudes mit einer Außenwand, die einen geringeren Abstand aufweisen muss, als dieses das Bauordnungsrecht nach einer Berechnung nach § 6 Abs. 5 und 6 BauO NRW 2006 vorgeben würde. Insoweit ist eine bauordnungsrechtliche Abstandfläche gegenüber einer Grundstücksgrenze nicht erforderlich, denn das Planungsrecht gibt den einzuhaltenden Grenzabstand vor bzw. bestimmt, dass an die Grenze zu bauen ist. Andere Fallgruppen sind von § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 nicht erfasst.

Soweit die Gesetzesmaterialien ausführen, dass (nunmehr) auch vermieden werde, dass in der geschlossenen Bauweise Dachaufbauten oder vor die Vorder- oder Rückfront vorspringende Bauteile - wie Balkone oder vorgebaute Treppenhäuser - seitliche Abstandflächen einhalten müssen, wie es nach bisherigem Recht der Fall gewesen sei, vgl. LT-Drucks. 14/2433, S. 12 Abs. 2, hat dies im Gesetz keinen Niederschlag gefunden.

Der Gesetzeswortlaut gibt für eine dahingehende Auslegung nichts her. Insbesondere ergibt sich auch aus der vom Gesetzgeber gewählten Formulierung, wonach "gegenüber Grundstücksgrenzen" keine Abstandfläche erforderlich ist, nicht, dass hinsichtlich der genannten Bauteile auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 auf eine Abstandfläche verzichtet werden kann. Denn Bezugspunkt dieser Regelung sind die an sich erforderlichen Abstandflächen, die sich nur vor den Außenwänden ergeben können (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2006). Gegenstand der Regelungen in Satz 2 sind jedoch nur die Außenwände, die in den Fallgruppen a) und b) genannt sind.

Auch die durch § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 beabsichtigte Sicherung des Bauplanungsrechts lässt sich für die Annahme, die in den Gesetzesmaterialien genannten Bauteile müssten keine seitlichen Abstandflächen (mehr) einhalten, nicht anführen. Vielmehr entspricht es - wie dargelegt - dem Sinn dieser Vorschrift, nur in den von Buchst. a) und b) erfassten Fallgruppen dem Bauplanungsrecht Vorrang vor der Anwendung bauordnungsrechtlicher Abstandbestimmungen zu geben.

Die vorgenannten Ausführungen in den Gesetzesmaterialien stehen überdies nicht im Einklang mit der Systematik des § 6 BauO NRW 2006. Sie lassen außer Acht, dass § 6 Abs. 7 BauO NRW 2006 sich mit bestimmten vor die Außenwand vortretenden Vorbauten und untergeordneten Bauteilen befasst, die nur nach Maßgabe der Regelungen dieses Absatzes abstandflächenrechtlich privilegiert sind.

Auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 kommt vor diesem Hintergrund entgegen den Ausführungen in den Gesetzesmaterialien ein Verzicht auf die Einhaltung einer seitlichen Abstandfläche hinsichtlich der dort genannten Bauteile nicht in Betracht. Es steht auch insoweit - nach wie vor - nicht im Belieben der Bauaufsichtsbehörden, irgendeine Abstandfläche festzulegen.

Nach den dargestellten Grundsätzen - die sich nach Abstimmung der mit dem Baurecht befassten Senate des Oberverwaltungsgerichts NRW aus dem Gesetz ergeben - verstößt das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen gegen die die Antragstellerin schützenden Abstandflächenvorschriften des § 6 BauO NRW 2006. Das Vorhabengrundstück liegt im unbeplanten Innenbereich mit teils geschlossener Bebauung, so dass die Errichtung eines Gebäudes ohne seitlichen Grenzabstand planungsrechtlich zulässig ist. Vor diesem Hintergrund ist die Einhaltung einer Abstandfläche vor der grenzständig errichteten westlichen Außenwand nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW 2006 - unstreitig - nicht erforderlich. Hinsichtlich des Staffelgeschosses hat die Beigeladene sich jedoch dafür entschieden, dieses von der westlichen Nachbargrenze abzurücken. Diese Entscheidung hat zur Konsequenz, dass sie insoweit eine den bauordnungsrechtlichen Erfordernissen genügende Abstandfläche einzuhalten hat.

Das ist indes nicht der Fall. Die gegenüber der grenzständig errichteten westlichen Außenwand lediglich um 1,03 m zurücktretende Außenwand des Staffelgeschosses hält auch unter Berücksichtigung des 16-m-Privilegs (vgl. § 6 Abs. 6 BauO NRW 2006) die bauordnungsrechtliche Abstandfläche von 0,4 H, geschweige denn den Mindestabstand von 3 m (vgl. § 6 Abs. 5 Satz 5 BauO NRW 2006) nicht ein.

2. Hinsichtlich der westlichen Außenwand des Staffelgeschosses kann nicht, wie der Antragsgegner und die Beigeladene meinen, auf der Grundlage des § 6 Abs. 16 BauO NRW 2006 eine geringere Tiefe der Abstandfläche gestattet werden. Danach können in überwiegend bebauten Gebieten (ausnahmsweise) geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn die Gestaltung des Straßenbildes oder besondere städtebauliche Verhältnisse dies auch unter Würdigung nachbarlicher Belange rechtfertigen.

Sinn der Regelung ist die Erhaltung alter Ortsbilder und historischer Bausubstanzen auch durch Ermöglichung der Einfügung von Neubauten in gewachsene Stadtstrukturen unter Einhaltung alter Straßenfluchten und zur Erhaltung von Traufgassen.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2.12.2005 - 7 B 1411/05 -, Juris, und vom 23.10.1995 - 10 B 2661/95 -, BRS 57 Nr. 159; Heintz in: Gädtke/Heintz/ Temme/Czepuck, Landesbauordnung NRW, 11. Aufl. 2008, § 6 Rdnr. 320.

In welchen Fällen die Gestaltung des Straßenbildes oder besondere städtebauliche Verhältnisse die Gestattung einer geringeren Tiefe der Abstandfläche rechtfertigt, ergibt sich aus den prägenden Merkmalen der Umgebung eines Vorhabens im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Wenn festgestellt werden soll, ob die Gestaltung des Straßenbildes eine geringere Tiefe der Abstandfläche rechtfertigt, kommt es im unbeplanten Innenbereich nicht nur auf die Bebauung der unmittelbar benachbarten Grundstücke an. Es muss vielmehr ein größerer Straßenabschnitt in die Betrachtung einbezogen werden.

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Landesbauordnung NRW, Stand: Juli 2008, § 6 Rdnr. 374 f..

Geringere Tiefen der Abstandflächen sind nicht für jedes Bauvorhaben zuzulassen, das sich bauplanungsrechtlich nach seiner Bauweise, nach der Lage des Baukörpers auf dem Baugrundstück und nach der Höhe des Gebäudes in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Die in § 6 Abs. 16 BauO NRW 2006 verlangte Rechtfertigung ist nicht bereits mit dem Sich-Einfügen im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB gegeben. § 6 Abs. 16 BauO NRW 2006 bleibt ein Ausnahmetatbestand; seine Anwendung verlangt besondere städtebauliche Gründe für die Errichtung eines Gebäudes, das die Abstandflächen nicht einhalten soll.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5.10.1998 - 7 B 1850/98 -, BRS 60 Nr. 105; Boeddinghaus/Hahn/ Schulte, a.a.O., § 6 Rdnr. 376 f.; Heintz, a.a.O., § 6 Rdnr. 323.

Ist die Bebauung beidseits einer Straße nach der Bauweise, nach der Lage der Baukörper auf den Baugrundstücken oder auch nach der Höhe der Gebäude uneinheitlich, sind geringere Tiefen der Abstandflächen nicht schon dann gerechtfertigt, wenn sich die hinzukommende Bebauung noch in der Bandbreite der vorgegebenen Möglichkeiten hält und sich, ohne zu stören, in das Straßenbild einpasst. Die Gestaltung des Straßenbildes rechtfertigt umgekehrt geringere Abstandflächen dann, wenn ein Gebäude, das die Abstandflächen einhält, störend aus dem Rahmen eines sonst durch im Wesentlichen einheitliche Bebauung geprägten Straßenbildes fällt.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18.6.2002 - 7 A 4030/01 -, Juris, vom 5.10.1998 - 7 B 1850/98 -, BRS 60 Nr. 105, und vom 27.10.1997 - 10 B 2249/97 -, BRS 59 Nr. 122; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, a.a.O., § 6 Rdnr. 377.

Nach diesen Maßstäben kommt hinsichtlich der dem westlich gelegenen Nachbargrundstück zugewandten Außenwand des Staffelgeschosses die Gestattung einer geringeren Tiefe der Abstandfläche auf der Grundlage des § 6 Abs. 16 BauO NRW 2006 bereits mangels Vorliegens der Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht in Betracht.

Das Vorhabengrundstück liegt zwar in einem überwiegend bebauten Gebiet. Einen besonderen städtebaulichen Grund im Sinne des § 6 Abs. 16 BauO NRW 2006, der die hier in den Blick zu nehmende Gestattung einer geringeren Tiefe der Abstandfläche vor der westlichen Außenwand des Staffelgeschosses rechtfertigen könnte, hat jedoch weder der Antragsgegner angeführt noch ist ein derartiger Grund ersichtlich.

Die Gestaltung des Straßenbildes vermag eine solche Gestattung schon angesichts der uneinheitlichen Bebauung beidseits der N.-straße nicht ansatzweise zu rechtfertigen. Insbesondere die unterschiedlichen Bauweisen und Gebäudehöhen belegen die Uneinheitlichkeit der dortigen Bebauung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, dass der Antragsgegner im Rahmen seiner Begründung der Gestattung auf ein "relativ homogenes Straßenbild" im Bereich der N.-straße verweist.

Soweit der Antragsgegner zur Begründung der Gestattung einer geringeren Tiefe der Abstandfläche hinsichtlich des Staffelgeschosses weiter anführt, "die N.-straße" habe "in diesem Bereich ein relativ homogenes Straßenbild, so dass sich für die Schließung dieser Baulücke die geschlossene Bauweise aufdrängt", lässt er überdies außer Acht, dass hinsichtlich des Staffelgeschosses eine geschlossene Bauweise überhaupt nicht in Rede steht. Der Beigeladene hat sich gerade nicht dafür entschieden, das Staffelgeschoss ohne seitlichen Grenzabstand zu errichten.

Besondere städtebauliche Verhältnisse liegen entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht darin, dass die beiden an das Vorhabengrundstück angrenzenden Gebäude einen "deutlichen Höhenunterschied" aufweisen und sich zudem "die Frage der Vermittlung im Bereich des Dachgeschosses" stellt. Ein Bauherr muss sich auch in uneinheitlich bebauten Gebieten grundsätzlich damit abfinden, das Vorhabengrundstück nur im Einklang mit den bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen - und damit auch im Einklang mit den abstandrechtlichen - Vorgaben bebauen zu können. Eine stadtbildverträgliche Bebauung des Vorhabengrundstücks und eine Anpassung des Vorhabens an die benachbarten Wohnhäuser wäre hier durchaus unter Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstanderfordernisse möglich. Ob eine solche Bebauung dem vom Antragsgegner unterstützten Bestreben der Beigeladenen "sich als eingeständiger Neubau mit einem symmetrischen Baukörper darstellen zu können" zuwiderläuft und eine anderweitige Konzeptionierung des Bauvorhabens den Gestaltungswünschen der Beigeladenen nicht in vollem Umfang Rechnung trägt, ist insoweit ohne Belang.

3. Dem nach alledem aus § 6 BauO NRW 2006 folgenden Abwehranspruch der Antragstellerin lässt sich auch nicht durch die Zulassung einer Abweichung von den dargelegten Anforderungen des § 6 BauO NRW 2006 begegnen. § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 lässt eine Abweichung von § 6 BauO NRW 2006 regelmäßig nur bei einer grundstücksbezogenen Atypik zu.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5.3.2007 - 10 B 274/07 -, BauR 2007, 1031, und vom 2.3.2007 - 10 B 275/07 -, BauR 2007, 1027.

Eine grundstücksbezogene Atypik ist hier nicht erkennbar. Die vom Antragsgegner im Rahmen der Begründung der Zulassung einer Abweichung nach § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 angeführte Vergleichsbetrachtung, wonach die Nachbarn durch eine zulässige Grenzbebauung im Dachgeschoss eine größere Beeinträchtigung (Verschattung) hinnehmen müssten, gibt für die Annahme einer grundstücksbezogenen Atypik nichts her. Eine atypische Grundstückssituation folgt auch nicht aus der Bebauung der Nachbargrundstücke. Was insoweit für eine Abweichung nach § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 angeführt werden könnte, ist abschließend bereits in § 6 Abs. 16 BauO NRW 2006 aufgefangen, dessen Voraussetzungen hier - wie dargelegt - nicht vorliegen.



Ende der Entscheidung

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