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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 26.05.2004
Aktenzeichen: 8 A 3852/03.A (1)
Rechtsgebiete: AuslG, EMRK


Vorschriften:

AuslG § 53 Abs. 1
AuslG § 53 Abs. 4
EMRK Art. 3
EMRK Art. 6
1. Zur Gefahr der Folter für einen prominenten Islamisten, der in der Türkei unmittelbar einem Strafgericht vorgeführt werden soll.

2. Aus Art. 6 EMRK (Garantie des fairen Verfahrens) kann sich ein Verbot der Abschiebung wegen der Verhältnisse im Abschiebezielstaat ergeben, wenn die drohenden Beeinträchtigungen nach Qualität und Quantität dem vergleichbar sind, was ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK wegen menschenunwürdiger Behandlung begründet.

3. Dies gilt auch, wenn das Zielland ein Vertragsstaat der EMRK ist. Die einem Betroffenen dort (wegen Verletzung des Art. 6 EMRK) drohenden Folgen sind allerdings nur insoweit zu berücksichtigen, als nicht wirksamer Rechtsschutz durch Anrufung des EGMR und ein nachfolgendes Wiederaufnahmeverfahren in Anspruch genommen werden kann.

4. Die Verwertung von unter Folter zustande gekommenen (Zeugen-)Aussagen in einem Strafverfahren kann eine besonders schwere Verletzung der Garantie des fairen Verfahrens darstellen.

5. Bei der Beurteilung der Schwere und Intensität der nach einem möglicherweise unfairen Strafverfahren drohenden Beeinträchtigungen kann berücksichtigt werden, dass der Ausländer wegen anderer Tatvorwürfe, die nicht auf den durch Folter erlangten Aussagen beruhen, ohnehin mit einer mehrjährigen Haftstrafe rechnen muss.


Tatbestand:

Das VG verpflichtete die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil festzustellen, dass für den als "Kalifen von Köln" bekannten Kläger Muhammed Metin Kaplan ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG bestehe. Nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EMRK stehe einer Abschiebung des Klägers in die Türkei entgegen, dass ihm dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Strafverfahren drohe, das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei. Die wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Berufung der Beklagten hatte Erfolg.

Gründe:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG bezüglich der Türkei.

...

Ihm droht in der Türkei nicht die konkrete Gefahr, der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (§ 53 Abs. 1 AuslG bzw. § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK; unter I.). Die Abschiebung ist auch nicht gemäß § 53 Abs. 4 AuslG nach anderen Bestimmungen der EMRK unzulässig, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK; unter II.), noch des Rechts auf Religionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 EMRK; unter III.), noch des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK; unter IV.). Ihm droht auch nicht die Todesstrafe (§ 53 Abs. 2 AuslG; unter V.) oder eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (unter VI.).

I. Der Kläger kann die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nicht nach § 53 Abs. 1 AuslG bzw. § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung beanspruchen. Mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit (1.) droht dem Kläger bei Rückkehr in die Türkei eine derartige Gefahr weder während des dort zu erwartenden Strafverfahrens (2.) noch mit Blick auf die voraussichtlichen Umstände der Haft (3.) und deren Dauer (4.).

...

1. Maßgeblich sowohl für § 53 Abs. 1 AuslG als auch für § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Prognosemaßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit".

... (wird ausgeführt)

Entgegen der Auffassung des Klägers gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit unabhängig davon, ob der Ausländer im Zielstaat der Abschiebung politisch verfolgt wird. Der im Asylrecht für die Fälle politischer Vorverfolgung geltende sogenannte herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist bei der nach § 53 Abs. 4 AuslG vorzunehmenden Gefahrenprognose nicht anwendbar, und zwar auch dann nicht, wenn der Schutz Suchende schon einmal Opfer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gewesen ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.6.1996 - 9 C 134.95 -, InfAuslR 1996, 289 f.

...

2. Dem Kläger droht nach der Erkenntnislage des Senats derzeit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit, bei einer Rückkehr in die Türkei während des dort zu erwartenden Strafverfahrens gefoltert bzw. unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden.

a) Allerdings sieht der Senat gegenwärtig - noch - keinen Anlass, seine in ständiger Rechtsprechung vertretene Einschätzung aufzugeben, wonach Folter in der Türkei so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.6.2002 - 8 A 4782/99.A -, Urteilsabdruck S. 25 f. und 38 ff.

Zwar hat die Türkei außer der EMRK auch das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984 (BGBl. 1990 II, S. 246 ff.),

vgl. Bekanntmachung vom 9.2.1993, BGBl. 1993 II, S. 115 f.; zur Unterwerfung unter die Individualbeschwerde gem. Art. 22: BGBl. 1993 II, S. 728,

sowie das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 (BGBl. 1989 II, S. 946 ff.),

zum Inkrafttreten in der Türkei: Bekanntmachung vom 23.5.1990, BGBl. 1990 II, S. 491 f.,

ratifiziert. Die Unterwerfung unter derartige völkerrechtliche Vereinbarungen hat grundsätzlich "Indizwirkung" dafür, dass der Staat sich vertragsgemäß der Folter und unmenschlichen Behandlung enthalten wird.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.5.1994 - 2 BvR 1193/93 -, NJW 1994, 2883; Beschluss vom 5.11.2003 - 2 BvR 1243/03 -, NJW 2004, 141; kritisch: Vogel, Entscheidungsanmerkung, JZ 2004, 144.

Obwohl das türkische Recht Folter und Misshandlung verbietet und unter Strafe stellt,

vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 12.8.2003, S. 41 f., und vom 19.5.2004, S. 36,

wird die vorgenannte Indizwirkung im Falle der Türkei durch die tatsächliche Erkenntnislage widerlegt. Trotz einiger Verbesserungen der Rechtslage und der Menschenrechtspraxis besteht die generelle Gefahr asylerheblicher Misshandlungen vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams fort.

... (wird ausgeführt)

b) Im Falle des Klägers ist die Gefahr der Folter oder unmenschlicher Behandlung jedoch so weit herabgesetzt, dass ihm eine derartige Behandlung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

...

aa) Die Wahrscheinlichkeit, dass konkret dem Kläger derartige Misshandlungen drohen, wird - da die generelle Gefahr der Folter vornehmlich bei polizeilichen Verhören besteht - dadurch in relevantem Maße gemindert, dass das 6. Staatssicherheitsgericht Istanbul, bei dem sämtliche ihn betreffenden Strafverfahren verbunden sind, ausweislich seines Schreibens vom 16.1.2003 an die zuständigen Justizbehörden der Bundesrepublik Deutschland (Register-Nr.: 2001/ 212) angeordnet hat, den Kläger nicht der Polizei, sondern unmittelbar dem Gericht vorzuführen.

... (wird ausgeführt)

bb) Die Gefahr menschenrechtswidriger Übergriffe auf den Kläger wird darüber hinaus dadurch wesentlich herabgesetzt, dass sein Bekanntheitsgrad eine gewisse Schutzfunktion erfüllt, zumal sein Fall unter intensiver Beobachtung insbesondere der deutschen Presse sowie der Menschenrechtsorganisationen und der EU-Kommission stehen wird,

so schon Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 12.8.2003, S. 48,

und die türkischen Exekutivorgane wie die türkischen Gerichte sich dessen bewusst sind.

... (wird ausgeführt)

3. Gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme, dass den Kläger nach einer Verurteilung Haftbedingungen erwarten, die den Tatbestand des Art. 3 EMRK erfüllen,

vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, 2003, Art. 3 Rdnr. 12,

und damit als Grundlage für einen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG in Frage kommen,

vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteil vom 7.9.1994 - A 16 S 486/94 -, ESVGH 45, 155 (LS),

sind - über das Vorstehende hinaus - ebenfalls nicht ersichtlich.

... (wird ausgeführt)

4. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK folgt auch nicht daraus, dass dem Kläger möglicherweise eine lebenslange Freiheitsstrafe droht. Ein grundsätzliches Verbot der Verhängung bzw. des Vollzugs einer lebenslangen (oder einer dieser de facto entsprechenden zeitlichen) Freiheitsstrafe kann der EMRK nicht entnommen werden. Freiheitsstrafen können nur dann in ein Spannungsverhältnis zu Art. 3 EMRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen.

Vgl. Österr. VerfGH, Entscheidung vom 12.12.2002 - G 151/02 -, Urteilsabdruck S. 17 m.w.N.

Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein, da es um eine Verurteilung wegen terroristischer Handlungen geht. Obwohl der EGMR in vereinzelten Fällen,

vgl. etwa EGMR, Urteil vom 16.10.2001 - Beschwerde-Nr. 71555/01 - Fall Einhorn, Nr. 27,

die Ansicht vertreten hat, lebenslange Haft ohne Aussicht auf Freilassung könne "zu Fragen nach Art. 3 EMRK führen", hat er niemals ausgesprochen, dass lebenslange Haft ohne Aussicht auf Freilassung tatsächlich eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt.

Vgl. Österr. VerfGH, Entscheidung vom 12.12.2002 - 6 151/02 -, Urteilsabdruck S. 17.

Nach deutschem Rechtsverständnis gehört es allerdings zu den elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen der Menschenwürde, dass ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter grundsätzlich die Chance haben muss, deutlich vor Vollstreckungsende in die Freiheit zurückzukehren.

Vgl. BVerfG, Urteil vom 21.6.1977 - 1 BvL 14/76 -, BVerfGE 45, 187 (227 f., 239, 245); OLG Stuttgart, Beschluss vom 19.1.2001 - 3 Ausl 96/00 -, NStZ 2001, 447 (LS).

Ungeachtet der Frage einer Übertragbarkeit dieser Wertung auf die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 3 EMRK reichen die in der Türkei bestehenden Aussichten auf eine vorzeitige Entlassung jedenfalls aus, um eine "unmenschliche Strafe oder Behandlung" im Sinne des Art. 3 EMRK zu verneinen.

Das türkische Justizministerium hat auf die Anfrage des Auswärtigen Amtes vom 28.2.2003 mit am 10.3.2003 beim Bundesministerium der Justiz eingegangenem Schreiben erklärt, dass eine etwa verhängte lebenslange Freiheitsstrafe, die bei terroristischen Straftätern bis zum Tode dauere, bei Annahme strafmildernder Umstände nach Art. 59 des türkischen Strafgesetzbuches (tStGB) in eine normale lebenslange schwere Freiheitsstrafe umgewandelt werde. Demzufolge bestünde die Möglichkeit, dass der Verurteilte nach der Vollstreckung einer dreißigjährigen Freiheitsstrafe und Vorlegung eines Leumundszeugnisses gemäß der Verordnung der Verwaltung der Strafvollzugsanstalten und Untersuchungsgefängnisse sowie zur Vollstreckung der Strafen bedingt entlassen werde. Gemäß des Art. 104 der türkischen Verfassung habe im Übrigen der Staatspräsident die Befugnis, die Strafen bestimmter Personen wegen dauerhafter Krankheit, Behinderung oder hohen Alters zu erleichtern oder aufzuheben. Außerdem sei nach Art. 399 der türkischen Strafprozessordnung die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bis zur Genesung aufzuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfalle. Dasselbe gelte bei anderen Krankheiten, wenn von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen sei.

Vgl. zur Möglichkeit der Haftverschonung: Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 3 Rdnr. 13 m.w.N.

Soweit das BVerfG in seinem Urteil vom 21.6.1977 (a.a.O., S. 243 und 246) zusätzlich eine weitgehende Verrechtlichung der Begnadigungspraxis gefordert hat, hat es das aus dem bundesdeutschen Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, dessen Anforderungen nicht auf Art. 3 EMRK übertragen werden können. Es ist Zielsetzung der EMRK, in den Vertragsstaaten einen menschenrechtlichen Mindeststandard zu verbürgen, nicht aber im Zielstaat einer Abschiebung Menschenrechte in einem Umfang durchzusetzen, der in allen Einzelheiten dem Schutzniveau des Konventionsstaates entspricht.

So zu Abschiebungen in einen Nichtkonventionsstaat: EGMR, Urteil vom 7.7.1989 - Nr. 1/ 1989/161/217 - Fall Soering, NJW 1990, 2183 (2184) Nr. 86; BVerwG, Urteil vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223 (226); VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22.5.2003 - A 2 S 711/01 -, juris.

II. Der Kläger kann auch nicht deshalb Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG beanspruchen, weil ihn in der Türkei ein Strafverfahren erwartet, das nicht den Anforderungen des Art. 6 EMRK entspricht. Art. 6 EMRK ist zwar grundsätzlich geeignet, Abschiebungsschutz zu vermitteln (1.); dem Kläger droht aber weder unter dem Gesichtspunkt einer fehlenden Unabhängigkeit des für ihn zuständigen türkischen Gerichts (2.) noch wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des "fairen Verfahrens" (3.) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine hinreichend schwere Rechtsverletzung.

1. Aus Art. 6 EMRK kann sich ein Verbot der Abschiebung wegen der Verhältnisse im Abschiebezielstaat ergeben (a); dies gilt auch für das Zielland Türkei als Vertragsstaat der EMRK (b).

a) § 53 Abs. 4 AuslG nimmt - wie näher ausgeführt - Bezug auf die EMRK und die sich aus ihr ergebenden Abschiebungshindernisse. Die Auslegung des danach maßgeblichen völkerrechtlichen Vertrages hat in Übereinstimmung mit den Auslegungsgrundsätzen des Art. 31 der Wiener Vertragskonvention (BGBl. 1985 II S. 926) nach den vorrangigen Gesichtspunkten der gewöhnlichen Bedeutung der Vertragsbestimmungen in ihrem Zusammenhang sowie nach ihrem Ziel und Zweck unter besonderer Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte und der bisherigen Rechtsprechung der Konventionsorgane zu erfolgen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223 (228); Urteil vom 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 265 (269/270).

Die Rechte der EMRK sind unter Beachtung des Grundsatzes völkerrechts-freundlicher Auslegung praktisch wirksam und effektiv zur Geltung zu bringen.

Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.5.1999 - A 6 S 1589/98 -, juris; Nds. OVG, Urteil vom 6.4.1998 - 12 L 1076/98 -, NVwZ-Beilage 7/1998, 65 (66) m.w.N.

Die EMRK bezweckt - wie insbesondere in Art. 1 zum Ausdruck kommt - grundsätzlich nur die Sicherung bestimmter Rechte und Freiheiten innerhalb des eigenen Machtbereichs der Vertragsstaaten selbst.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, 331 (333 ff.); vom 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 265 (267 ff.); vom 2.9.1997 - 9 C 40.96 -, BVerwGE 105, 187 (188); vom 11.11.1997 - 9 C 13.96 -, BVerwGE 105, 322 (324); vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223 (225).

Demgemäß bindet die Konvention in erster Linie die Ausübung aller Staatsgewalt auf dem Territorium der Vertragsstaaten. Dagegen ist ein Signatarstaat der EMRK grundsätzlich nicht für Menschenrechtsverletzungen in Drittstaaten völkerrechtlich verantwortlich. Sowohl der EGMR als auch die Europäische Menschenrechtskommission heben regelmäßig hervor, dass die EMRK-Vertragsstaaten nach einem feststehenden Grundsatz des Völkerrechts das Recht zur Kontrolle des Aufenthalts von Ein- und Ausreise von Ausländern haben und weder die EMRK noch deren Zusatzprotokolle ein Recht auf Asyl wegen rassischer, religiöser oder sonstiger politischer Verfolgung vorsehen.

Vgl. insbesondere EGMR, Urteile vom 30.10.1991 - Nr. 45/1990/236/302 - 306 - Fall Vilvarajah, NVwZ 1992, 869 Nr. 102; vom 15.11.1996 - Nr. 70/1995/576/662 - Fall Chahal, InfAuslR 1997, 97 (98) Nr. 73, vom 17.12.1996 - Nr. 71/1995/577/663 - Fall Ahmed, InfAuslR 1997, 279 (280) Nr. 38; vom 29.4.1997 - Nr. 11/1996/630/813 - Fall H.L.R., InfAuslR 1997, 333 (334) Nr. 33; vom 7.7.2000 - Nr. 40035/98 - Fall Jabari, EZAR 933 Nr. 9 S. 3, und vom 6.2.2001 - Nr. 44599/98 - Fall Bensaid, NVwZ 2002, 553 Nr. 32; EKMR, Bericht vom 23.4.1998 - Beschwerde Nr. 32448/96 - Fall Hatami, InfAuslR 1999, 49 (51) Nr. 93; ferner: BVerwG, Urteile vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, 331 (334 f.); vom 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 265 (270) und vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223 (226).

Allerdings geht der EGMR - wie dargelegt - in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es den Vertragsstaaten durch Art. 3 EMRK untersagt sein kann, einen Ausländer in einen Drittstaat auszuliefern, auszuweisen oder abzuschieben, wenn ihm dort die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung droht.

Nach Auffassung des Senats kann sich auch aus Art. 6 EMRK ein Verbot der Abschiebung wegen der Verhältnisse im Abschiebezielstaat ergeben. Schutz vor Abschiebung in einen anderen Staat nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit der EMRK kommt allerdings nicht stets schon dann in Betracht, wenn der hohe Menschenrechtsstandard, zu dessen Einhaltung sich die Vertragsstaaten und Mitglieder des Europarats verpflichtet haben, im Zielstaat der Abschiebung nicht oder nicht in vollem Umfang gewährleistet erscheint.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223 (226); Hess. VGH, Beschluss vom 19.5.1998 - 10 UE1974/97.A -, NVwZ-RR 1999, 340 (341); VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.5.1999 - A 6 S 1589/98 -, juris.

Der EGMR hat seine Rechtsprechung zur Unzulässigkeit der Auslieferung, Ausweisung oder Abschiebung in einen anderen Staat bisher nur auf Art. 3 EMRK gestützt, weil das darin enthaltene absolute Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung - wie oben näher ausgeführt - "einen der grundlegendsten Werte der demokratischen Gesellschaften bildet, die sich im Europarat zusammengeschlossen haben".

vgl. EGMR im Soering-Urteil vom 7.7.1989 - Nr. 1/1989/161/217 -, NJW 1990, 2183 (2184) Nr. 88; ebenso BVerwG, Urteil vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223 (227).

Die Abschiebung eines Ausländers ist jedoch nicht nur unzulässig, wenn ihm im Abschiebezielstaat unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht; ein Abschiebungsverbot kommt auch dann in Betracht, wenn im Einzelfall andere in der EMRK verbürgte, von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannte Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht sind.

BVerwG, Urteil vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223.

Die in der Soering-Entscheidung des EGMR vom 7.7.1989, a.a.O., hervorgehobenen, für die demokratischen Mitgliedstaaten des Europarats und der EMRK schlechthin konstituierenden "Grundwerte", zu denen über Art. 3 EMRK hinaus ein Kernbestand weiterer spezieller menschenrechtlicher Garantien der EMRK gehört, verkörpern einen "menschenrechtlichen ordre public" aller Signatarstaaten der EMRK. Dessen Beachtung kann die Abschiebung eines Ausländers in solche Staaten verbieten, in denen ihm Maßnahmen drohen, die einen äußersten menschenrechtlichen Mindeststandard unterschreiten. Auch bei Eingriffen in den Kernbereich solcher anderen, speziellen Konventionsgarantien - wie hier des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK - ist eine Abschiebung allerdings ebenfalls nur in krassen Fällen unzulässig, wenn nämlich die drohenden Beeinträchtigungen von ihrer Schwere her dem vergleichbar sind, was nach der bisherigen Rechtsprechung wegen menschenunwürdiger Behandlung zu einem Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK geführt hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Konventionsrechte einen absolut geschützten Menschenrechtskern aufweisen müssen und dass der absolut geschützte Kern einzelner Menschenrechte regelmäßig enger ist als deren Schutzbereich. Was schon nicht den Tatbestand einer einfachen Konventionsverletzung erfüllen würde, kann erst recht keinen qualifizierten Eingriff in den von der Konvention absolut geschützten menschenrechtlichen Mindeststandard darstellen.

In der Rechtsprechung der Konventionsorgane und des BVerwG ist bislang nicht entschieden, ob und inwieweit die Gewährleistung des Art. 6 EMRK in dem aufgezeigten Sinne zum gemeinsamen menschenrechtlichen ordre public aller Unterzeichnerstaaten zu zählen ist. Im Fall Soering hat der EGMR festgestellt, dass das in Art. 6 EMRK garantierte Recht auf einen fairen Prozess im Strafverfahren einen herausragenden Platz in jeder demokratischen Gesellschaft einnehme; es sei nicht ausgeschlossen, dass ausnahmsweise eine Verletzung des Art. 6 EMRK durch eine Auslieferungsentscheidung vorliegen könne. Dies sei in den Fällen denkbar, in denen der flüchtige Straftäter im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses erfahren müsste oder hierfür ein Risiko bestehe.

Vgl. EGMR, Urteil vom 7.7.1989 - Nr. 1/1989/161/217 - Fall Soering, NJW 1990, 2183 (2188) Nr. 113.

Nichts anderes ergibt sich auch aus den von der Beklagten zitierten Ausführungen des EGMR in der Entscheidung vom 27.5.1992 - Nr. 21/1991/273/344 - im Fall Drozd und Janousek sowie aus den Feststellungen der Europäischen Menschenrechtskommission im Verfahren Kozlov vom 28.5.1991 - Nr. 16832/90 -; dort wird der Schutz vor Auslieferung davon abhängig gemacht, inwieweit die Nichtübereinstimmung des im Empfangsstaat bevorstehenden Verfahrens mit den Garantien, die in Art. 6 EMRK niedergelegt sind, die Auslieferung als unmenschliche Behandlung qualifiziert. Auch im Fall Einhorn knüpft der EGMR daran an, dass sich aus einem "flagrant denial of justice" ausnahmsweise ein Auslieferungshindernis ergeben kann.

Vgl. EGMR, Urteil vom 16.10.2001 - Nr. 71555/01 - Fall Einhorn, Urteilsabdruck S. 16.

Hiervon ausgehend ist der Senat der Auffassung, dass zu dem menschenrechtlichen Mindeststandard, dessen Missachtung in einem anderen Staat eine Abschiebung dorthin unzulässig machen kann, auch die grundlegenden Strukturen eines fairen Strafverfahrens gehören, die für die personale Würde des Angeklagten unverzichtbar sind. Die Garantie für ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK stellt einen unantastbaren Grundwert dar, den es zu schützen gilt. Wesentlich ist, dass der Beteiligte nicht Objekt in einem gerichtlichen Verfahren sein darf; er muss Subjekt sein und demgemäß angemessene Mitwirkungsrechte haben.

Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rdn. 35.

Ein mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (dazu oben unter I. 1.) drohender besonders schwerer Verstoß gegen die Garantie eines fairen Verfahrens kann im Einzelfall zu einem Abschiebungsverbot aus der EMRK führen, soweit dadurch der Menschenwürdekern der Garantie verletzt wird. Dies setzt voraus, dass die drohenden Beeinträchtigungen nach Qualität und Quantität dem vergleichbar sind, was ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK wegen menschenunwürdiger Behandlung begründet. Für diese Beurteilung sind alle Umstände des Einzelfalls maßgebend. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Art der Behandlung bzw. Strafe sowie der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die zeitliche Dauer der Maßnahme sowie psychische und physische Auswirkungen unter Berücksichtigung der Konstitution des Betroffenen.

b) Abschiebungsschutz wegen einer drohenden Verletzung des Art. 6 EMRK ist nicht deshalb von vornherein ausgeschlossen, weil es sich bei der Türkei um einen Signatarstaat der EMRK handelt und der Kläger nach Ausschöpfung des Rechtsweges in der Türkei gemäß Art. 34 EMRK Beschwerde vor dem EGMR erheben kann. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann Abschiebungsschutz nicht nur für Staatsangehörige aus Nicht-Konventionsstaaten, sondern auch für Staatsangehörige aus Konventionsstaaten in Betracht kommen, wenn eine schwere konventionswidrige Behandlung im Abschiebungszielstaat droht.

Zwar trifft es zu, dass die Rechtsprechung des EGMR zum Abschiebungs-, Ausweisungs- und Auslieferungsschutz nach Art. 3 EMRK - soweit ersichtlich - bisher ausschließlich zu Zielstaaten ergangen ist, die der Konvention nicht beigetreten sind.

Vgl. Urteile vom 20.3.1991 - Nr. 46/1990/237/ 307 - Fall Cruz Varas, EuGRZ 1991, 203; vom 30.10.1991 - Nr. 45/1990/236/302 - 306 - Fall Vilvarajah, NVwZ 1992, 869; vom 29.4.1997 - Nr. 11/1996/630/813 - Fall H. L. R., InfAuslR 1997, 333; vom 15.11.1996 - Nr. 70/1995/576/ 662 - Fall Chahal, InfAuslR 1997, 97; vom 17.12.1976 - Nr. 71/1975/577/663 - Fall Ahmed, InfAuslR 1997, 279; Urteil vom 11.7.2000 - Nr. 40035/98 - Fall Jabari, EZAR 933, Nr. 9, und vom 6.2.2001 - Nr. 44599/98 - Fall Bensaid, NVwZ 2002, 453; siehe aber auch: EKMR, Entscheidung vom 3.5.1983 - Nr. 10308/83 -, Fall Altun, EuGRZ 1983, 274.

Auch die Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte zu drohenden Verletzungen anderer als in Art. 3 EMRK verbürgter Menschenrechtsgarantien im Zielstaat der Abschiebung betraf lediglich die Verhältnisse in Nicht-Vertragsstaaten.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.5.2000 - 9 C 34.99 - BVerwGE 111, 223; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 9.9.1994 - A 16 S 486/94 -, ESVGH 45, 155; vom 19.5.1999 - A 6 S 1589/98 -, VGH BW-LS 1999, Beilage 9, B 2, und vom 22.5.2003 - A 2 S 711/01 -, juris; OVG Rh. -Pf., Beschluss vom 23.5.1997 - 6 A 282/97 -, NVwZ-Beilage 10/1997, 79; Urteil vom 20.1.2000 - 12 A 11883/96 -, NVwZ-Beilage 8/2000, 90; Nds. OVG, Urteil vom 6.4.1998 - 12 L 1076/98 -, NVwZ-Beilage 7/1998, 65; Hess. VGH, Beschluss vom 19.5.1998 - 10 UE 1974/97.A -, NVwZ-RR 1999, 340; Thür. OVG, Urteil vom 30.9.1998 - 3 KO 864/98 -, NVwZ-Beilage 3/1999, 19; OVG NRW, Beschluss vom 2.12.1997 - 19 A 5121/97.A -.

Daraus kann jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten nicht geschlossen werden, die Rechtsprechung verneine einen Abschiebungsschutz in Bezug auf Konventionsstaaten.

Die EMRK richtet sich - wie dargelegt - mit ihren Verpflichtungen und der Einrichtung eines Kontroll- und Sanktionsapparates unmittelbar an den einzelnen Vertragsstaat und zielt nicht darauf, für Verstöße eines Vertragsstaates einen anderen Vertragsstaat in die Verantwortung zu nehmen. In diesem Sinne ist auch die von der Beklagten zitierte Feststellung des EGMR im Fall G. D. gegen die Schweiz,

vgl. Urteil vom 17.3.1989 - Nr. 14514/89 -,

zu verstehen, in dem der Beschwerdeführer darauf verwiesen wurde, nach Rückkehr in die Türkei Beschwerde bei der Kommission in Bezug auf Verletzungen seiner Konventionsrechte durch türkische Behörden zu erheben.

Aus dem Umstand, dass Art. 1 EMRK die vertragschließenden Teile lediglich verpflichtet, allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zu sichern, folgt allerdings - wie ebenfalls ausgeführt - nicht, dass allein Menschenrechtsverletzungen durch den betreffenden Konventionsstaat und auf dessen Territorium beachtlich wären. Vielmehr kann die Konvention auch ein Abschiebungsverbot begründen, wenn eine schwerwiegende konventionswidrige Behandlung im Abschiebungszielstaat droht. Dabei stellt - wie bereits dargelegt - nicht die Abschiebung selbst eine menschenrechtswidrige Behandlung durch den Vertragsstaat dar, sondern das hoheitliche Handeln des Vertragsstaates begründet lediglich seine Verantwortlichkeit und die Pflicht zur Unterlassung der Abschiebung, wenn dem Ausländer in dem Zielstaat eine menschenrechtswidrige Behandlung droht. Der EGMR hat insoweit in seiner Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK stets den Ausnahmecharakter der Haftung eines Mitgliedstaates für negative, unbeeinflussbare Folgen jenseits seiner territorialen Herrschaftsgewalt hervorgehoben. Die Begründung des Abschiebungsverbots aufgrund des Art. 3 EMRK beruht auf der Wertung, dass den an die EMRK gebundenen Vertragsstaat in diesem Fall einer voraussehbaren Verletzung fundamentaler Menschenrechte, die von einer gewissen Schwere sein muss,

vgl. insbesondere EGMR, Urteil vom 20.3.1991 - Nr. 46/1990/237/307 - Fall Cruz Varas, EuGRZ 1991, 203 (212) Nr. 83 m.w.N.; siehe auch Hess. VGH, Beschluss vom 19.5.1998 - 10 UE 1974/97.A -, NVwZ-RR 1999, 340 (341) m.w.N.,

eine erhöhte Verantwortung trifft, so dass die vorhersehbare, im Drittstaat vollzogene Menschenrechtsverletzung der Mitverantwortung des Vertragsstaats zuzurechnen ist, weil er mit der Abschiebung oder Auslieferung einen wesentlichen kausalen Beitrag zur menschenrechtswidrigen Behandlung des Ausländers leistet. Die tragende innere Begründung für die Erstreckung der Verantwortung des konventionsgebundenen Staates auf die Auslandsfolgen einer Abschiebung oder Auslieferung in den Fällen einer voraussehbaren Verletzung des Art. 3 EMRK im Drittstaat liegt in der gesteigerten Verantwortung des Konventionsstaates für einen umfassenden und uneingeschränkten Schutz gegen besonders schwerwiegende Eingriffe in fundamentale Menschenrechte, die auch völkerrechtlich als menschenrechtlicher Mindeststandard anerkannt sind.

Vgl. Thür. OVG, Urteil vom 30.9.1998 - 3 KO 847/98 -, NVwZ-Beilage 3/1999, 19 (20) m.w.N.; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 20.1.2000 - 12 A 11 883/96 -, NVwZ-Beilage 8/2000, 90 (91) m.w.N.

Diese Verantwortlichkeit trifft den Vertragsstaat unabhängig davon, ob der Zielstaat ein Konventionsstaat oder ein Nicht-Konventionsstaat ist. Auch für die Folgen, die in einem anderen Vertragsstaat eintreten, ist die Bundesrepublik dann verantwortlich mit der Folge eines Abschiebungsverbotes, wenn eine schwerwiegende Verletzung des menschenrechtlichen Mindeststandards im vertragsgebundenen Abschiebezielstaat droht. Entscheidend sind allein das zu erwartende tatsächliche Verhalten des Zielstaats und die damit verbundenen Folgen für den Betroffenen. Dem Umstand, dass der Zielstaat Signatarstaat der Konvention ist, kann allenfalls - wie bereits ausgeführt - eine gewisse Indizwirkung gegen eine drohende schwere Menschenrechtsverletzung zukommen.

Allerdings ist bei Abschiebung in einen Konventionsstaat auch die Möglichkeit des Betroffenen zu berücksichtigen, der im Zielstaat drohenden Menschenrechtsverletzung durch Anrufung des EGMR wirksam zu begegnen. Bei der Beurteilung der Schwere und Nachhaltigkeit von drohenden Folgen ist von Bedeutung, dass dem betroffenen Ausländer grundsätzlich zuzumuten ist, Strafurteile, die auf einem erheblichen Verstoß gegen Art. 6 EMRK beruhen, im Instanzenzug des Heimatstaates anzugreifen. Kann dieser Rechtschutz in angemessener Zeit erreicht werden, besteht kein hinreichender Grund für ein Abschiebungshindernis. Den Abschiebestaat trifft keine Verantwortlichkeit und Pflicht zur Unterlassung der Abschiebung, wenn die auf einem Verstoß gegen Art. 6 EMRK beruhende strafrechtliche Verurteilung im Zielstaat selbst in angemessener Zeit "korrigiert" werden kann. Je gravierender die strafrechtlich relevanten Vorwürfe gegen den Betroffenen sind, um so eher muss er die bis zur Erreichung effektiven Rechtsschutzes zu erduldenden Folgen, namentlich Untersuchungs- oder Strafhaft, hinnehmen, ohne dass ihm Abschiebungsschutz zusteht. Vergleichbares gilt, wenn effektiver Rechtsschutz zwar nicht im Instanzenzug, aber bei einem Verfassungsgericht oder dem EGMR in Verbindung mit einem innerstaatlichen Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen ist. Aus dem besonderen Ausnahmecharakter eines - aus den Garantierechten der EMRK abgeleiteten - Abschiebungsschutzes folgt, dass bei einer wertenden Gesamtsicht der - aufgrund eines Eingriffs in den Kernbereich eines Menschenrechts drohenden - Folgen auch zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit der Betroffene im Zielstaat die befürchteten Folgen durch Inanspruchnahme der ihm nach der EMRK zustehenden Rechte abwenden oder jedenfalls mildern kann. Denn insoweit endet die erhöhte Verantwortlichkeit des einzelnen Vertragsstaates für voraussehbare Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Vertragsstaat. Dies bedeutet, dass bei der Folgenbewertung der einem Betroffenen drohenden Haft eine Einschränkung seiner elementaren Rechte - vornehmlich also seiner persönlichen Freiheit - nur insoweit von Bedeutung ist, als er nicht wirksamen Rechtsschutz nach der EMRK in Anspruch nehmen kann.

2. Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist dem Kläger nicht deshalb Abschiebungsschutz nach Art. 6 EMRK zu gewähren, weil er eine Gerichtsverhandlung vor einem türkischen Gericht fürchtet, das nicht "unabhängig und unparteiisch" ist. Insoweit droht dem Kläger schon keine Verletzung seiner Rechte aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. ... (wird ausgeführt)

3. Der Kläger kann auch nicht deshalb Abschiebungsschutz nach Art. 6 EMRK beanspruchen, weil ihn in der Türkei ein Strafverfahren erwartet, in dem er möglicherweise aufgrund von durch Folter erlangten Zeugenaussagen verurteilt wird. Zwar kann die drohende Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens durch Verwertung von unter Folter zustande gekommenen Aussagen einen tatbestandlichen Eingriff nach Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellen. Ob im Fall des Klägers eine solche menschenrechtswidrige Verfahrensweise mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht, kann jedoch dahinstehen (a). Jedenfalls würde eine dem Kläger drohende Rechtsgutverletzung bei Berücksichtigung aller Umstände nicht zu Folgen führen, die die für einen Abschiebungsschutz erforderliche Schwere und Intensität aufweisen würden (b).

a) Die Verwertung von unter Folter erlangten Zeugenaussagen kann eine besonders schwere Verletzung der Garantie eines fairen Verfahrens darstellen. Allerdings regelt die EMRK das Beweisverfahren nicht als solches; das gerichtliche Verfahren muss vielmehr in der Regel als Ganzes gesehen werden.

Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 25.3.1999 - Nr. 25444/94 -, NJW 1999, 3454 f., Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rdn. 71 m.w.N., Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rdnr. 55 m.w.N.

Der EGMR hat aus der Gesamtheit der in Art. 6 EMRK verorteten Garantien ein in den einzelnen Gewährleistungen nur teilweise zum Ausdruck kommendes umfassendes Recht auf wirksamen, effizienten und fairen Rechtsschutz entwickelt, das zusammenfassend in ständiger Rechtsprechung als "right to a fair trial" bezeichnet wird. Die Inhalte dieses Rechts sollen insgesamt neben dem Zugang zu einem neutral und objektiv entscheidenden Gericht eine den Grundsätzen der Fairness und Öffentlichkeit entsprechende Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens garantieren.

Vgl. Pache, Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, NVwZ 2001, 1342 (1343) m.w.N.

Die Konkretisierung des in Abs. 1 garantierten Rechts durch die in Abs. 2 statuierte Unschuldsvermutung und die in Abs. 3 aufgezählten besonderen Mindest-Verfahrensgarantien ist dabei nicht erschöpfend; vielmehr handelt es sich lediglich um besondere Aspekte des allgemeinen Grundsatzes in Abs. 1 Satz 1.

Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rdnr. 35 m.w.N.; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rdnr. 2 und 71 m.w.N.

Zum fair-trial-Grundsatz gehört als Minimalstandard insbesondere das Recht auf angemessene Verteidigung, wie es in Art. 6 Abs. 3 EMRK und auch in Art. 14 Abs. 3 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II S. 1534) zum Ausdruck kommt,

vgl. zur Maßgeblichkeit des "International Convenent on Civil and Political Rights": EGMR, Entscheidung vom 28.5.1991 - Nr. 16832/90 - Fall Kozlov, Urteilsabdruck S. 10,

und i.V.m. Art. 2 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG auch für die Bundesrepublik Deutschland rechtsstaatlich gebietet, dem Beschuldigten jederzeit die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu geben.

Vgl. BGH, Urteil vom 25.2.1998 - 3 StR 490/97 -, NJW 1998, 1993 (1994) m.w.N.

In diesen Kernbereich des Verteidigungsrechts greift namentlich die Verwertung missbräuchlich erlangter Beweismittel - wie erpresster Einlassungen - ein.

Vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rdnrn. 99, 440, 109 mit Fußnote 464, jeweils m.w.N.

Zum völkerrechtlichen Mindeststandard eines menschenwürdigen Strafverfahrens gehört die Einhaltung der Verpflichtung in Art. 15 des UN-Antifolterabkommens vom 10.12.1984, durch Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erlangte Aussagen in einem Strafverfahren nicht als Beweis zu verwenden.

Vgl. OLG Düsseldorf im Auslieferungsverfahren des Klägers, Beschluss vom 27.5.2003 - 4/L (A) 408/02 - 147, 203 - 204/03 III -, Beschlussabdruck S. 15/16 mit Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 29.5.1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, 324 und Beschluss vom 31.5.1994 - 2 BvR 1193/93 -, NJW 1994, 2883.

Es geht insoweit nicht lediglich um die dem nationalen Recht vorbehaltene Frage der Zulässigkeit rechtswidrig erlangter Beweismittel,

dazu: EGMR, Urteil vom 12.7.1988 - Nr. 88/1987/131/192 - Fall Schenk, EuGRZ 1988, 390 (394) Nr. 46,

sondern um auf besonders verwerfliche Weise erlangte Beweismittel, deren inhaltliche Richtigkeit - also schon ihre grundsätzliche Eignung als Beweismittel - deshalb in Zweifel steht und gegen die nicht ohne weiteres Abwehrmöglichkeiten gegeben sind. Als Eingriff besonders schwerwiegender Art ist diese Frage einer isolierten Prüfung zugänglich.

Vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rdnr. 71 m.w.N.; vgl. auch EGMR, Urteil vom 17.7.2001 - Nrn. 29900/96, 29901/96, 29902/96 und 29903/96 - Fall Sadak, Zana u.a., Nr. 41, 42.

Ob dem Kläger mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht, dass er aufgrund von ihn belastenden Zeugenaussagen, die durch Folter im Polizeigewahrsam erlangt worden sind, zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wird, muss der Senat allerdings nicht abschließend entscheiden. ...

b) Auch wenn dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen sollte, auf der Grundlage von unter Folter zustande gekommenen Aussagen (zunächst) zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt zu werden, würde die darin liegende Verletzung des Art. 6 EMRK bei einer Gesamtbetrachtung voraussichtlich nicht zu solch schweren Folgen für den Kläger führen, dass sie mit einer menschenunwürdigen Behandlung nach Art. 3 EMRK gleichzusetzen wären. Bei der notwendigen Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls ist vielmehr zunächst zu berücksichtigen, dass die zu erwartenden Folgen für den Kläger dadurch entscheidend gemildert würden, dass dieser nach etwa 4 bis 5 Jahren ein Wiederaufnahmeverfahren wird erreichen können, welches den Vorgaben einer erfolgreichen Individualbeschwerde zum EGMR Rechnung tragen würde (aa). Die danach zu berücksichtigende - auf einer unterstellten Verletzung des Art. 6 EMRK beruhende - etwa vier- bis fünfjährige Haftzeit ist nach Quantität und Qualität insbesondere deshalb nicht einer menschenunwürdigen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK gleich zu achten, weil der Kläger, ließe man die fraglichen Attentatspläne außer Betracht, wegen anderer Tatvorwürfe, die nicht auf den möglicherweise durch Folter erlangten Aussagen beruhen, voraussichtlich zu einer Haftstrafe von mindestens 5 Jahren verurteilt werden würde (bb).

aa) Nach den unbestrittenen Angaben etwa im Auslieferungsersuchen der Türkei vom 16.1.2003 ist zwar nicht ausgeschlossen, dass dem Kläger bei einer Verurteilung im Höchstfall eine lebenslange Freiheitsstrafe drohen kann. Allerdings steht ihm die Möglichkeit offen, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs eine Individualbeschwerde zum EGMR zu erheben und ein Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen, falls der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK feststellen sollte. Diese nach etwa 4 bis 5 Jahren zu erreichende Rechtsschutzmöglichkeit führt zu einer bedeutsamen Milderung der Folgen für den Kläger bei einem (unterstellten) Verstoß gegen Art. 6 EMRK.

Der Senat lässt offen, ob sich dies bereits daraus ergibt, dass der EGMR die Möglichkeit hätte, gegenüber dem Signatarstaat Türkei gemäß Art. 39 der Verfahrensordnung des EGMR vom 4.11.1998 in der Fassung der Bekanntmachung vom 17.5.2002 (BGBl. II S. 1081) eine vorläufige Maßnahme zu empfehlen. Die Türkei soll nach den Feststellungen des Bundesjustizministeriums einstweilige Anordnungen des EGMR in der Vergangenheit in verschiedenen Fällen - etwa im Fall des Abdullah Öcalan durch Aussetzung der verhängten Todesstrafe - jeweils korrekt umgesetzt haben. Der EGMR hat darüber hinaus in Abkehr von seiner bisherigen Auffassung die rechtliche Verbindlichkeit der von ihm empfohlenen vorläufigen Maßnahmen angenommen.

Vgl. EGMR, Urteil vom 6.2.2003 - Nrn.: 46827/99 und 46951/99 -, EuGRZ 2003, 704; siehe auch: Oellers-Frahm, Verbindlichkeit einstweiliger Maßnahmen, EuGRZ 2003, 689.

Es sind dem Senat indessen keine Fälle bekannt geworden, in denen der EGMR bereits im Wege einer einstweiligen Regelung eine Haftentlassung aufgegeben bzw. empfohlen hätte.

Der Kläger hat jedenfalls die Möglichkeit, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs eine - auf eine Verletzung des Art. 6 EMRK gestützte - Individualbeschwerde zum EGMR nach Art. 34 EMRK zu erheben. Ist die Individualbeschwerde erfolgreich, kann der Kläger eine Wiederaufnahme seines Verfahrens erreichen. Durch Gesetz Nr. 4793 vom 23.1.2003 ist Art. 327 der türkischen Strafprozessordnung geändert worden; nach Abs. 6 dieser Vorschrift kann nunmehr innerhalb eines Jahres eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragt werden, sofern der EGMR durch rechtskräftiges Urteil festgestellt hat, dass ein Strafurteil unter Verletzung der EMRK oder deren Zusatzprotokolle zustande gekommen ist.

Vgl. auch Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 12.8.2003, S. 51, und vom 19.5.2004, S. 42.

Nach Auffassung des Senats kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die türkische Justiz ein Wiederaufnahmeverfahren nicht entsprechend den Vorgaben des EGMR durchführen würde. Zwar ist es in der Vergangenheit bei der Umsetzung von Urteilen des EGMR in der Türkei noch zu Problemen gekommen. So wurden vom Gerichtshof angeordnete Zahlungen teilweise gar nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung geleistet.

Vgl. Kommission der Europäischen Union, Fortschrittsbericht Türkei vom 5.11.2003, S. 26 f.; Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 12.8.2003, S. 50, und vom 19.5.2004, S. 42.

Demgegenüber stellt das Auswärtige Amt unter der neuen Regierung ein teilweises Umdenken bei den Entschädigungszahlungen fest. Das türkische Justizministerium hat zudem in seiner amtlichen Äußerung vom 14.11.2003 bekräftigt, dass die Türkei Entscheidungen des EGMR im Verfahren nach Art. 34 EMRK akzeptiere und umsetze. Auch das Außenministerium der Türkei hat in seiner Verbalnote vom 15.3.2004 nochmals auf die seit 2003 geltende Wiederaufnahmemöglichkeit verwiesen. Nach offiziellen türkischen Angaben (Stand: 23.2.2004) sind bislang insgesamt 19 Anträge auf Wiederaufnahme eines Verfahrens nach einer Verurteilung durch den EGMR gestellt worden. In 13 Fällen wurde das Verfahren wiederaufgenommen; in fünf dieser Verfahren wurden die Angeklagten freigesprochen. 7 Fälle sind noch anhängig.

Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19.5.2004, S. 42.

Auch im Fall Öcalan ist die einstweilige Anordnung des EGMR umgesetzt worden. Ebenso ist im Falle der bekannten kurdischen Abgeordneten Leyla Zana ein Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt worden.

Vgl. Kommission der Europäischen Union, Fortschrittsbericht Türkei vom 5.11.2003, S. 27; Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 12.8.2003, S. 51, und vom 19.5.2004, S. 43.

... (wird ausgeführt)

Im Übrigen ist davon auszugehen, dass sich angesichts der gegenwärtig unternommenen Anstrengungen die Situation der türkischen Justiz hinsichtlich der "fair trial"-Gewährleistung weiter verbessern wird.

Vgl. zur Schulung der Justiz auf die Anforderungen der EMRK: Kommission der Europäischen Union, Fortschrittsbericht Türkei vom 5.11.2003, S. 23; ferner Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19.5.2004, S. 12.

Im Falle eines zunächst unfairen Verfahrens könnte der Kläger wirksamen Rechtsschutz - einschließlich eines nach erfolgreicher Anrufung des EGMR durchzuführenden Wiederaufnahmeverfahrens - voraussichtlich nach insgesamt etwa 4 bis 5 Jahren erlangen. Erstinstanzliche Strafverfahren vor türkischen Gerichten dauern durchschnittlich 400 Tage.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19.5.2004, S. 12.

Aufgrund der Verfahrensdauer bis zum jeweiligen Erlass der Revisionsurteile des Kassationsgerichts vom 18.12.2000 (Verfahrens-Nr. 2000/2397, Urteils-Nr.: 2000/3269) gegen Mehmet Demir u.a. sowie vom 3.7.2003 (Verfahrens-Nr.: 2003/1083, Urteils-Nr.: 2003/1301) gegen Hasan Basri Gökbulut ist anzunehmen, dass der innerstaatliche Rechtsweg im Falle des Klägers ebenfalls nach etwa 2 Jahren erschöpft sein dürfte. Auch der EGMR, der seinerseits bei den Mitgliedstaaten mit Blick auf Art. 6 und Art. 13 EMRK auf eine rasche Verfahrensdauer drängt,

vgl. etwa Gundel, Neue Anforderungen des EGMR an die Ausgestaltung des nationalen Rechtsschutzsystems, DVBl. 2004, 17,

bemüht sich um eine zeitnahe Bearbeitung, nicht zuletzt, um die von ihm selbst aufgestellten Kriterien zur Verfahrensdauer einzuhalten. Auf der Grundlage der neuen Verfahrensordnung entscheiden die Kammern des EGMR über die Beschwerden oft binnen ein bis zwei Jahren.

Vgl. Wittinger, Die Einlegung einer Individualbeschwerde vor dem EGMR, NJW 2001, 1238 (1242).

Für das anschließende Wiederaufnahmeverfahren geht der Senat im Hinblick auf das Wiederaufnahmeverfahren gegen Leyla Zana, Sedim Sadak u.a. von bis zu zwölf Monaten Verfahrensdauer aus, so dass eine Gesamtverfahrensdauer von etwa 4 bis 5 Jahren wahrscheinlich ist. Zwar ist im ungünstigsten Fall eine längere Verfahrensdauer nicht ausgeschlossen; hierfür besteht aber keine beachtliche Wahrscheinlichkeit.

bb) Die dem Kläger auch unter Berücksichtigung des Wiederaufnahmeverfahrens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Folgen - namentlich eine etwa vier- bis fünfjährige Haftzeit - sind bei Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Einzelfalls nach Quantität und Qualität nicht einer menschenunwürdigen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK gleichzusetzen. Insoweit ist vor allem von Bedeutung, dass der Kläger unabhängig von den Tatvorwürfen, deren Nachweis möglicherweise mit unter Folter erlangten Geständnissen geführt werden soll, voraussichtlich mit einer Haftstrafe von etwa 5 Jahren rechnen müsste.

Wann eine Haft, die auf einer Art. 6 EMRK verletzenden Verurteilung beruht, für den Betroffenen einen derart schweren und intensiven Eingriff darstellt, dass ihm Abschiebungsschutz zu gewähren ist, kann nicht allgemein gültig für alle Fälle bestimmt werden, sondern nur nach den jeweiligen konkreten Umständen des Einzelfalls. Ein allgemein gültiger Maßstab ergibt sich insbesondere auch nicht aus der Rechtsprechung des EGMR und der Europäischen Menschenrechtskommission zur Angemessenheit der Dauer einer Untersuchungshaft.

Vgl. dazu Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 5 Rdnr. 122 ff.; siehe auch EGMR, Urteil vom 27.8.1992 - Nr. 27-1991-279-350 -, EuGRZ 1994, 101; Urteil vom 26.10.2000 - Nr. 30201/96 -, NJW 2001, 2694.

Allenfalls lässt sich dieser Rechtsprechung der Grundsatz entnehmen, dass die Gewichtigkeit der Straftat und ihr Bedrohungspotential für die Allgemeinheit ein höheres Maß an Freiheitsentzug - ohne Verurteilung - zu rechtfertigen vermag.

Vgl. EGMR, Urteil vom 27.8.1992 - Nr. 27-1991-279-350 -, EuGRZ 1994, 101 (102) Nr. 91.

Ferner ist auf den Rechtsgedanken des Art. 5 Abs. 1 a) EMRK zu verweisen, wonach eine Freiheitsentziehung aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung grundsätzlich als rechtmäßig gilt, auch wenn das Gericht einem Irrtum erlegen ist.

Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 5 Rdnr. 7 m.w.N.

Gewicht und Schwere des Eingriffs, die maßgeblich durch die Dauer der Freiheitsentziehung bestimmt werden, können entscheidend gemildert werden, wenn und soweit der Betroffene eine Haftzeit schon wegen anderer Taten verbüßen müsste, also unabhängig von einer auf der Verletzung des Art. 6 EMRK beruhenden Verurteilung. Denn insoweit kann die gegen Art. 6 EMRK verstoßende Verurteilung hinweg gedacht werden, ohne dass sich an dem mutmaßlichen Geschehensablauf voraussichtlich Entscheidendes ändern würde. Die ohnehin drohende Haftzeit müsste der Betroffene unabhängig von dem Verstoß gegen Art. 6 EMRK und der darauf beruhenden Verurteilung hinnehmen. Ließe man hiervon ausgehend im vorliegenden Fall die angeblich geplanten Anschläge auf das Atatürk-Mausoleum und die Fatih-Moschee, die dem Kläger möglicherweise aufgrund von erpressten Geständnissen vorgeworfen werden, außer Betracht, blieben weitere Tatvorwürfe gegen den Kläger bestehen, derentwegen dieser in der Türkei voraussichtlich zu einer Haftstrafe von mindestens 5 Jahren verurteilt werden würde, ohne dass insoweit eine Verletzung des Art. 6 EMRK droht.

Der Senat folgt insoweit dem von ihm in Auftrag gegebenen Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht - Forschungsgruppe Strafrecht - vom 15.4.2004 einschließlich der ergänzenden Erläuterungen vom 10.5.2004. Danach hat der Kläger unter Berücksichtigung der türkischen Strafrechtspraxis bei Außerachtlassung der ihm vorgeworfenen Urheberschaft für die geplante Bombardierung des Atatürk-Mausoleums und für einen versuchten Anschlag auf die Fatih-Moschee jedenfalls als Leiter einer terroristischen Organisation nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 des Antiterrorgesetzes (ATG) eine Verurteilung zu 5 Jahren Zuchthaus zu erwarten. ... (wird ausgeführt)

Im vorliegenden Zusammenhang ist nach Auffassung des Senats unerheblich, ob eine Verurteilung des Klägers nach Art. 7 ATG auch asylerhebliche Bedeutung hätte. Die EMRK schützt nicht vor politischer Verfolgung. Würde allerdings die im Einzelfall konkret zu erwartende Strafe in besonderer Weise außer Verhältnis zu dem Tatvorwurf stehen, dürfte dies zu berücksichtigen sein. Derartige Anhaltspunkte sind jedoch im vorliegenden Fall nicht ersichtlich; denn eine Verurteilung würde daran anknüpfen, dass der Kläger als Führer einer gewaltbereiten und verfassungsfeindlichen Organisation zum gewaltsamen Kampf gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Türkei und zur Tötung der kemalistischen Gegner aufgerufen hat. Im Übrigen bringt auch § 51 Abs. 3 AuslG zum Ausdruck, dass bei Vorliegen seiner Voraussetzungen - hier nach Widerruf der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter - eine asylerhebliche Gerichtetheit der Maßnahme keine abschiebungsrechtliche Bedeutung haben soll.

Dessen ungeachtet handelt es sich bei der dem Kläger konkret drohenden Verurteilung nach Art. 7 ATG im Kern um eine Maßnahme des Rechtsgüterschutzes (Leben, Gesundheit, Eigentum sowie sonstige Grundrechte und -freiheiten der Bürger) und der staatlichen Selbstverteidigung. Die Fetwa (Rechtsgutachten zum Heiligen Krieg) ist im Zusammenhang mit den zitierten Artikeln (in der Verbandszeitschrift des Kalifatsstaats) geeignet, über eine bloß geistige Auseinandersetzung hinaus Gewalttaten und terroristische Handlungen konkret zu fördern und zu initiieren. Selbst wenn eine Verurteilung des Klägers nach Art. 7 ATG eine überschießende asylerhebliche Komponente enthalten sollte, wäre diese nicht von solchem Gewicht, dass bei der hier gebotenen Gesamtwürdigung die dem Kläger nach Art. 7 ATG drohende Haftstrafe nicht die Schwere einer möglichen Haft aufgrund eines unfairen Verfahrens entscheidend mildern würde.

...

Im Rahmen der hier vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände ergeben sich - schon mangels ausreichend substantiierten Vortrags - keine hinreichenden Anhaltspunkte für gesundheitliche Beeinträchtigungen des Klägers, die eine mögliche Haft als besonders beeinträchtigend oder gar unzumutbar erscheinen lassen. ... (wird ausgeführt)

Dass eine dem Kläger drohende Haftzeit aus anderen, insbesondere sich aus der EMRK ergebenden Gründen unzumutbar sein könnte, ist nicht ersichtlich. Das gilt - wie oben ausgeführt - namentlich für die Haftbedingungen. Unregelmäßigkeiten drohen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, so dass die Haftzeit des Klägers insgesamt nicht zu einem menschenunwürdigen Eingriff führt. Sonstige Umstände sind nicht von solchem Gewicht, dass sie die Gesamtwürdigung in Frage stellen könnten.

Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen wären die Folgen einer Haftzeit für den Kläger selbst dann, wenn entgegen der Prognose des Senats bis zum Abschluss eines Wiederaufnahmeverfahrens des Klägers ein etwas längerer Zeitraum als fünf Jahre vergehen sollte, angesichts der dargelegten Gesamtumstände nicht so einschneidend und intensiv, dass sie mit einer unmenschlichen Behandlung gleichgesetzt werden könnten. Die Beklagte kann den Kläger vielmehr darauf verweisen, Rechtsschutz vor dem EGMR zu suchen und die sich daraus ergebenden nachteiligen Auswirkungen in dem aufgezeigten Umfang auf sich zu nehmen.

Ende der Entscheidung

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