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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 08.11.2004
Aktenzeichen: 8 A 4331/04.A
Rechtsgebiete: ZPO, AuslG


Vorschriften:

ZPO § 412
AuslG § 51 Abs. 3
Zur Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens (hier betreffend die Frage, ob ein Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative AuslG bedeutet).
Tatbestand:

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge widerrief die Anerkennung des Klägers, eines türkischen Staatsangehörigen yezidischen Glaubens, nachdem dieser wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war. Zur Begründung der hiergegen gerichteten Klage machte der Kläger geltend, eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative AuslG gehe von ihm nicht aus. Das VG wies die Klage ab. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hatte keinen Erfolg.

Gründe:

1. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung des Streitfalls im Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Daran fehlt es hier. Die in der Antragsschrift aufgeworfenen Fragen,

wie alt ein Gutachten sein darf, aus dem Rückschlüsse auf eine aktuelle Gefahr i.S.d. § 51 Abs. 3 AuslG geschlossen werden dürfen,

ob aus einem fünfeinhalb Jahre alten Gutachten, das in einem Satz die Wiederholung ähnlicher Straftaten für möglich hält, ein Schluss hinsichtlich einer aktuellen Wiederholungsgefahr gezogen werden darf,

von welcher Güte ein Gutachten sein muss, um daraus Rückschlüsse für eine aktuelle Wiederholungsgefahr zu ziehen, wenn feststeht, dass eine psychiatrisch diagnostizierte Persönlichkeitsstörung festgestellt wurde, die zur Tat geführt haben soll,

ob die gutachtliche Stellungnahme eines Anstaltspsychologen, die im Hinblick auf die Eignung für den offenen Vollzug abgegeben wurde und sich weder zur Frage der Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Straftat noch zu der Persönlichkeitsstörung verhält und ohne medizinischen Hintergrund verfasst wurde, ausreicht oder ob nicht vielmehr erneut eine Begutachtung von der Güte derer stattzufinden hat, mit der seinerzeit die Persönlichkeitsstörung untersucht wurde,

sind einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Sie betreffen die Prognose, ob im Fall des Klägers i.S.v. § 51 Abs. 3 Satz 1, 2. Alt. AuslG eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue Straftaten ernsthaft droht. Diese Gefahrenprognose erfordert eine einzelfallbezogene Würdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung der Tatumstände und der Entwicklung, die der Kläger seither genommen hat.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 (192).

Die diesbezüglichen Rügen zielen mithin im Kern auf die Sachverhalts- und Beweiswürdigung im Einzelfall.

2. Die geltend gemachte Abweichung von der Rechtsprechung des BVerwG führt nicht zur Zulassung der Berufung. Eine Divergenz i.S.v. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ist nur gegeben, wenn das angefochtene Urteil mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz von einem in der übergeordneten Rechtsprechung aufgestellten ebensolchen, die Entscheidung tragenden Rechts- oder Tatsachensatz abgewichen ist. Das legt die Antragsschrift nicht dar. Der Kläger benennt keinen Rechtssatz, den das VG ausdrücklich oder konkludent aufgestellt hat und der in Widerspruch zu den vom BVerwG aufgestellten Grundsätzen steht. Nach den vom Kläger angeführten Beschlüssen des BVerwG vom 4.5.1990 - 1 B 82.89 -, NVwZ-RR 1990, 649, und vom 14.2.1984 - 1 B 10.84 -, NJW 1984, 1315, erfordert die Prüfung der Gefährlichkeit eines verurteilten Straftäters grundsätzlich nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens, weil das Gericht sich mit einer entsprechenden tatsächlichen Würdigung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Eine Ausnahme kommt danach nur in Betracht, wenn die Prognose die Feststellung oder Bewertung von Umständen voraussetzt, für die eine dem Richter nicht zur Verfügung stehende Sachkunde erforderlich ist, wie es z.B. bezüglich der Frage des Vorliegens oder der Auswirkungen eines seelischen Leidens der Fall sein kann.

Vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 14.3.1997 - 1 B 63.97 -, Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 10.

Einen Grundsatz des vom Kläger wiedergegebenen Inhalts, dass die Prognose, ob der Straftäter erneut ein vergleichbares Delikt begehen könnte, stets die Hinzuziehung eines Sachverständigen erfordere, weil eine solche Prognose dem Richter unmöglich sei, hat das BVerwG in den genannten Entscheidungen gerade nicht aufgestellt.

Eine Divergenz liegt im Übrigen nicht schon dann vor, wenn in der angefochtenen Entscheidung ein in der übergeordneten Rechtsprechung aufgestellter Grundsatz lediglich übersehen, übergangen oder sonstwie nicht richtig angewandt worden ist.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 2.1.1995 - 1 BvR 320/94 -, NJW 1996, 45; BVerwG, Beschlüsse vom 19.8.1997 - 7 B 261.97 -, NJW 1997, 3328, vom 17.2.1997 - 4 B 16.97 -, NVwZ-RR 1997, 512 (513), und vom 10.7.1995 - 9 B 18.95 -, InfAuslR 1996, 29 (30).

3. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

Die Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung gestellten und durch Beschluss gemäß § 86 Abs. 2 VwGO abgelehnten Beweisantrages,

ein Sachverständigengutachten dazu einzuholen, dass der Kläger mit ausreichender Sicherheit in Zukunft keine abnormen Persönlichkeitsreaktionen zeigen wird, von ihm daher keine Wiederholungsgefahr ausgeht und er daher keine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.d. § 51 Abs. 3 Satz 1, 2. Alt. AuslG bedeutet,

stellt keinen Gehörsverstoß dar. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch die Ablehnung eines Beweisantrages nur dann verletzt, wenn seine Ablehnung im Prozessrecht objektiv keine Stütze findet.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8.11.1978 - 1 BvR 158/78 -, BVerfGE 50, 32 (35 f.), und vom 29.11.1983 - 1 BvR 1313/82 -, BVerfGE 65, 305 (307); BVerwG, Beschluss vom 24.3.2000 - 9 B 530.99 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308.

Dies ist hier nicht der Fall. Dabei kann dahinstehen, ob das VG in der Begründung seines Ablehnungsbeschlusses zu Recht § 412 ZPO zitiert hat. Nach dieser gemäß § 98 VwGO auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anwendbaren Regelung kann das Gericht eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn es das Gutachten für ungenügend erachtet. § 412 ZPO findet unmittelbar nur dann Anwendung, wenn das Gericht bereits ein Gutachten nach Maßgabe der §§ 402 ff. ZPO eingeholt hat.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.11.1993 - 2 BvR 594/93 -, BayVBl. 1994, 143.

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und der Kommentarliteratur wird darüber hinaus eine analoge Anwendbarkeit des § 412 ZPO angenommen.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 27.3.2000 - 9 B 518.99 -, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 60, m.w.N., und vom 11.2.1999 - 9 B 381.98 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 42; OVG NRW, Beschluss vom 18.5.1994 - 25 A 3240/91.A -, OVGE 44, 81 (82); Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: September 2003, § 98 Rn. 178 ff.; Lang, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Stand: Januar 2003, § 98 VwGO Rn. 201.

Danach kommt die Ablehnung eines auf eine weitere Begutachtung gerichteten Beweisantrages auch dann in Betracht, wenn dem Gericht Erkenntnisse aus Sachverständigengutachten vorliegen, die in anderen Verfahren gewonnen worden sind und im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden sollen. Ob im vorliegenden Fall eine - die analoge Anwendung rechtfertigende - Vergleichbarkeit der Interessenlage anzunehmen ist, kann fraglich erscheinen, weil die Gutachten und Stellungnahmen, auf die das VG bei der Ablehnung des Beweisantrages verwiesen hat, zu anderen als den hier in Rede stehenden Beweisfragen erstellt worden sind, nämlich im Strafverfahren zur Frage der Schuldfähigkeit und im Strafvollzug zur Frage etwaiger Vollzugslockerungen.

Darauf kommt es aber nicht entscheidend an. Die Ablehnung des Beweisantrages findet mit der vom VG gegebenen Begründung - ungeachtet der zitierten Rechtsvorschrift - jedenfalls unter dem Aspekt der eigenen Sachkunde des Gerichts (vgl. § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) eine ausreichende Stütze im Prozessrecht.

Nach gefestigter Rechtsprechung des BVerwG kann ein auf Einholung eines Sachverständigengutachtens oder einer amtlichen Auskunft gerichteter Beweisantrag verfahrensfehlerfrei nach tatrichterlichem Ermessen entweder gemäß § 98 VwGO in entsprechender Anwendung des § 412 ZPO oder mit dem Hinweis auf eigene Sachkunde abgelehnt werden.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.3.2000 - 9 B 518.99 -, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 60, m.w.N.

Der Sache nach stellen sich in beiden Fällen die gleichen Fragen.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.2.1999 - 9 B 381.98 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 42.

Das VG muss nachvollziehbar darlegen, dass es aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse beziehungsweise aufgrund der aus den vorliegenden Erkenntnissen gewonnenen Sachkunde über eine ausreichende Erkenntnisgrundlage verfügt.

Dies zugrunde gelegt begegnet die Ablehnung des Beweisantrages keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie musste sich vielmehr aufdrängen. Wie bereits ausgeführt erfordert die richterliche Würdigung, ob die im Falle des § 51 Abs. 3 Satz 1, 2. Alt. AuslG vorauszusetzende Wiederholungsgefahr besteht, entgegen der Annahme des Klägers regelmäßig nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Ausgangspunkt für die richterliche Würdigung ist vielmehr die in § 51 Abs. 3 AuslG zum Ausdruck gekommene gesetzliche Wertung, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verbunden sind. Im Hinblick auf die spezialpräventive Zielsetzung der Vorschrift ist im Einzelfall zu prüfen, ob der Ausländer - etwa wegen der Einmaligkeit der Tatsituation, einer ernsthaften sozialen oder politischen Neuorientierung oder sonstiger Umstände - künftig keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr darstellt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 (189, 192).

Auf der Grundlage der Erkenntnisse, auf die das VG in seinem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss abgestellt und die es in den Urteilsgründen näher erläutert hat, bestand kein Anlass, die im Regelfall anzunehmende eigene Sachkunde des Gerichts bezüglich der Beurteilung der Gefahrenprognose ausnahmsweise in Frage zu stellen.

Art und Umstände der Tat sprechen maßgeblich für die Annahme einer Wiederholungsgefahr. Der wegen eines Straßenverkehrsdelikts vorbestrafte und im Rotlichtmilieu tätige Kläger hat seine Vermieterin, nachdem diese ihn zur Begleichung von Mietrückständen in Höhe von 1.700,- DM aufgefordert hatte, durch zahlreiche Messerstiche getötet. Nach den Feststellungen des Strafgerichts trug er sich seinerzeit konkret mit dem Gedanken, eine andere Person - ebenfalls wegen Mietstreitigkeiten - zu töten; er hatte zu diesem Zweck bereits einen Landsmann gebeten, ihm eine Schusswaffe zu besorgen. Auch wenn das Strafgericht von einer i.S.v. § 21 StGB verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen ist, beträgt das verhängte Strafmaß von sieben Jahren und sechs Monaten weit mehr als das Doppelte des in § 51 Abs. 3 Satz 1, 2. Alt. AuslG vorausgesetzten Strafmaßes von drei Jahren. Die Umstände der Tat sind nicht ansatzweise geeignet, die Gefährlichkeit des Klägers in Frage zu stellen.

Das VG konnte aufgrund eigener Sachkunde auch die Entwicklung des Klägers seit seiner Inhaftierung am 13.12.1998 berücksichtigen, wie sie insbesondere durch die gutachtlichen Äußerungen des Anstaltspsychologen dokumentiert wird. Während dieser in seiner ausführlichen Stellungnahme vom 22.11.2002 eine Verlegung in den offenen Vollzug noch "für verantwortbar" hielt, beschrieb er in der ebenfalls mehrseitigen Stellungnahme vom 6.2.2004 eine leichte Negativentwicklung im Verhalten des Klägers; eine Verlegung in den offenen Vollzug befürwortete er nicht mehr. Anhaltspunkte dafür, dass das Verwaltungsgericht, etwa wegen besonderer Entwicklungen der Persönlichkeit des Klägers, zur sachgerechten Einschätzung der Wiederholungsgefahr auf die Hilfe eines psychiatrischen Gutachters angewiesen gewesen wäre, ergaben sich weder aus den vorliegenden Stellungnahmen noch aus dem Vorbringen des Klägers, der auf die seit Begehung der Tat verstrichene Zeit und sein Verhalten im Vollzug hingewiesen hat. Hat schon eine - unter Inkaufnahme eines gewissen Restrisikos erfolgende - Strafaussetzung zur Bewährung keine bindende Wirkung dergestalt, dass die aus ordnungsrechtlicher Sicht und daher längerfristig zu beurteilende Gefahrenprognose zu verneinen wäre,

vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 (193); VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 9.11.2001 - 10 S 1900/01 -, InfAuslR 2002, 175,

gilt dies erst recht für die - hier letztlich sogar verneinte - Frage, ob eine Verlegung in den offenen Vollzug vertretbar erscheint. Ebenso wenig kann dem Umstand, dass die abgeurteilte Tat inzwischen über fünf Jahre zurückliegt, ausschlaggebendes Gewicht beigemessen werden. Der Kläger stand während dieser Zeit unter dem Druck des Strafverfahrens bzw. des Strafvollzugs und derzeit zusätzlich unter dem Druck des Widerrufsverfahrens. Die hier vorzunehmende Prognose betrifft hingegen die Gefahr, die von dem Kläger ausginge, wenn er in Freiheit wäre.



Ende der Entscheidung

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