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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 10.12.2002
Aktenzeichen: VerfGH 10/01
Rechtsgebiete: LV NRW, BSHG, AG-BSHG NRW, VerfGHG NRW


Vorschriften:

LV NRW Art. 78
BSHG § 96 Abs. 1
AG-BSHG NRW § 3
AG-BSHG NRW § 6 Abs. 1
VerfGHG NRW § 12 Nr. 8
VerfGHG NRW § 52 Abs. 1
Das für die Kommunalverfassungsbeschwerde geltende Zulässigkeitserfordernis unmittelbarer Betroffenheit verwehrt es den Kommunen, gegen ein Gesetz vorzugehen, das noch der Konkretisierung durch eine untergesetzliche, ihrerseits mit der Kommunalverfassungsbeschwerde angreifbare Rechtsnorm bedarf. Die Unmittelbarkeit der Betroffenheit fehlt, wenn das Gesetz nicht eo ipso, sondern erst in Verbindung mit einer weiteren Norm auf den Rechtskreis der betroffenen Körperschaft einwirkt oder die Betroffenheit vom Ergehen einer solchen Norm abhängt. Rechtsnorm in diesem Sinne kann auch eine Kreissatzung sein.
Tatbestand:

Die Beschwerdeführerin, eine kreisangehörige Stadt, wandte sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die in § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW getroffene Regelung über die Tragung der Sozialhilfeaufwendungen für den Fall, dass die Kreise kreisangehörige Gemeinden zur Durchführung der Aufgaben des örtlichen Trägers der Sozialhilfe heranziehen.

§ 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW gibt den Kreisen als örtlichen Sozialhilfeträgern die Möglichkeit, kreisangehörige Gemeinden durch Satzung zur Durchführung ihrer Aufgaben heranzuziehen. Nach der ursprünglichen Gesetzesfassung hatten die Kreise, wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, den Gemeinden die erbrachten Aufwendungen in voller Höhe zu erstatten. Die Neufassung von § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW schreibt hingegen vor, dass die beauftragten Gemeinden grundsätzlich 50 % ihrer Aufwendungen selbst tragen. Der Kreis, dem die Beschwerdeführerin angehört, hat eine Heranziehungssatzung nach § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW erlassen.

Mit ihrer allein gegen § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW, nicht auch gegen die Heranziehungssatzung gerichteten Verfassungsbeschwerde machte die Beschwerdeführerin geltend, sie werde in ihrem Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung aus Art. 78 LV NRW verletzt. Die angegriffene Regelung verlagere unter Verstoß gegen das Bundessozialhilfegesetz die Kostenträgerschaft für die Aufgaben der örtlichen Sozialhilfeträger teilweise auf die Gemeinden.

Der VerfGH NRW verwarf die Verfassungsbeschwerde.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Die angegriffene Bestimmung des § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW betrifft die Beschwerdeführerin nicht unmittelbar in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 78 Abs. 1 und 2 LV).

1. Die den Gemeinden und Gemeindeverbänden nach §§ 12 Nr. 8, 52 Abs. 1 VerfGHG NRW eröffnete Verfassungsbeschwerde gegen Landesrecht setzt voraus, dass die beanstandete Rechtsnorm die beschwerdeführende Körperschaft selbst, gegenwärtig und unmittelbar betrifft (vgl. VerfGH NRW, Städte- und Gemeinderat 1985, 293, 294; NWVBl. 2001, 340, 344; zur bundesverfassungsrechtlichen Kommunalverfassungsbeschwerde BVerfGE 71, 25, 34; 76, 107, 112). Die Beschwerdebefugnis der Kommune besteht nicht losgelöst von einer eigenen Rechtsposition, sondern ist an eine Rechtsschutz erfordernde Betroffenheit in ihrem Selbstverwaltungsrecht geknüpft.

Das Erfordernis unmittelbarer Betroffenheit verwehrt es der Kommune, gegen ein Gesetz vorzugehen, das noch der Konkretisierung durch eine untergesetzliche, ihrerseits mit der Kommunalverfassungsbeschwerde angreifbare Rechtsnorm bedarf. Die kommunale Körperschaft muss den Erlass dieser Rechtsnorm abwarten; sie kann im Rahmen der gegen die untergesetzliche Norm gerichteten Verfassungsbeschwerde auch die verfassungsgerichtliche Überprüfung des Gesetzes erreichen (BVerfGE 71, 25, 34 ff.; 76, 107, 112 f.; Clemens, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 91 Rdnr. 46). Die Unmittelbarkeit der Betroffenheit fehlt, wenn das Gesetz nicht eo ipso, sondern erst in Verbindung mit einer weiteren Norm auf den Rechtskreis der betroffenen Körperschaft einwirkt oder die Betroffenheit vom Ergehen einer solchen Norm abhängt (vgl. RhPf VerfGH, NVwZ-RR 1996, 458; VerfG M.-V., NordÖR 1998, 302 f.; BVerfGE 70, 35, 50 f.; 72, 39, 43).

Rechtsnorm in diesem Sinne kann auch eine Kreissatzung sein. Die regelungsbetroffenen Gemeinden haben die Möglichkeit, sie in gleicher Weise wie die von Landesorganen erlassenen untergesetzlichen Normen mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Für den Begriff des Landesrechts in den §§ 12 Nr. 8, 52 Abs. 1 VerfGHG NRW kommt es, wie der VerfGH für lokal wirkendes Gewohnheitsrecht entschieden hat (VerfGH NRW, DVBl. 1982, 1043), mit Rücksicht auf die Rechtsschutzfunktion der Kommunalverfassungsbeschwerde nur darauf an, ob die Norm der Disposition des örtlichen Selbstverwaltungsträgers entzogen ist. Das trifft auf Kreissatzungen zu.

2. Hiervon ausgehend fehlt es an einer unmittelbaren Betroffenheit der Beschwerdeführerin durch § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW.

§ 6 Abs. 1 Satz 1 AG-BSHG NRW knüpft die Pflicht der kreisangehörigen Gemeinden, grundsätzlich 50 v.H. der Sozialhilfeaufwendungen zu tragen, an deren Heranziehung zur Durchführung der Aufgaben des örtlichen Trägers der Sozialhilfe. Die Heranziehung erfolgt nach § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW durch Satzung. Die Kostenlast kann also nur und erst dann entstehen, wenn der Kreis von der Ermächtigung in § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW Gebrauch macht und in der Satzung sein Bestimmungsrecht im Sinne von § 3 Abs. 2 AG-BSHG NRW ausübt. Die Heranziehungssatzung - hier die Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe im Märkischen Kreis vom 20.11.2000 - vollzieht die gesetzliche Kostenregelung zwar nicht in dem Sinne, dass sie deren Maßgaben ausformt und konkretisiert; während das Gesetz die Kostentragungspflicht der Gemeinden regelt, richtet sich der Regelungsgehalt der Satzung auf die Begründung der gemeindlichen Sachkompetenz. Die Heranziehungssatzung bildet aber die unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen der Kostenlast; von der Entscheidung des Satzungsgebers hängt es ab, ob, in welchem Umfang und wann die gesetzliche Kostenregelung Wirkungen entfalten kann (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfGE 53, 366, 389). Das trifft auch dann zu, wenn die Satzung wie im Streitfall aufgrund der schon vorher geltenden Ermächtigung in § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW bereits vor Inkrafttreten der Neufassung des § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW erlassen worden ist. Unabhängig von der zeitlichen Abfolge tritt die gesetzliche Kostenlast erst in Verbindung mit der satzungsrechtlichen Heranziehung zur Aufgabendurchführung ein.

Entsprechendes gilt für die Ermächtigung zur satzungsrechtlichen Regelung von Härtefällen in § 6 Abs. 1 Satz 2 AG-BSHG NRW. Sie kann ebenfalls nur greifen, wenn ein Kreis von der Möglichkeit der Heranziehung nach § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW Gebrauch macht.

Soweit das BVerfG in einem vereinzelt gebliebenen Urteil eine unmittelbare Betroffenheit durch ein Gesetz bejaht hat, obwohl dessen Anwendung vom Erlass einer Rechtsverordnung abhing (BVerfGE 34, 165, 179; kritisch dazu Clemens a.a.O., § 91 Rdnr. 65), vermag das die Beurteilung im vorliegenden Verfahren nicht zu beeinflussen. Der Entscheidung des BVerfG lag nämlich eine nicht vergleichbare Fallgestaltung zugrunde, die dadurch gekennzeichnet war, dass das Gesetz dem Verordnungsgeber eine Pflicht zur Umsetzung unter präzise bezeichneten Voraussetzungen auferlegt hatte. Demgegenüber kann der Satzungsgeber nach § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW autonom über die Heranziehung der Gemeinden entscheiden und hat es damit selbst in der Hand, ob und inwieweit er die gesetzliche Kostenregelung zum Tragen bringt.

Ende der Entscheidung

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