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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 08.02.2007
Aktenzeichen: 7 A 11318/06.OVG
Rechtsgebiete: 2004/38/EG, AufenthG, FreizügG/EU, VwVfG


Vorschriften:

2004/38/EG Art. 28
2004/38/EG Art. 28 Abs. 3
2004/38/EG Art. 32
2004/38/EG Art. 40
AufenthG § 11
AufenthG § 11 Abs. 1
AufenthG § 102
AufenthG § 102 Abs. 1
AufenthG § 102 Abs. 1 Satz 1
FreizügG/EU § 6
FreizügG/EU § 7
VwVfG § 43
VwVfG § 43 Abs. 2
VwVfG § 51
VwVfG § 51 Abs. 1
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Ausweisungen von Unionsbürgern, die vor dem 1. Januar 2005 bestandskräftig geworden sind, bleiben auch nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU wirksam.

Bei einem Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG sind nur die von dem Antragsteller geltend gemachten Gründe zu prüfen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT RHEINLAND-PFALZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

7 A 11318/06.OVG

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Ausweisung (Frankreich)

hat der 7. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der Beratung vom 8. Februar 2007, an der teilgenommen haben Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Wünsch Richter am Oberverwaltungsgericht Wolff Richter am Verwaltungsgericht Pirrung ehrenamtlicher Richter Kaufmann Geiger ehrenamtlicher Richter Kaufmann Hoffmann

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Tier vom 30. August 2006 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Aufhebung einer bestandskräftigen Ausweisungsverfügung.

Er ist französischer Staatsangehöriger, der sich seit seinem 6. Lebensjahr in Deutschland aufhielt. Wegen zahlreicher Straftaten wies ihn die Beklagte mit bestandskräftiger Verfügung vom 11. September 1995 aus. Am 4. März 1996 wurde er nach Frankreich abgeschoben.

Am 10. November 2005 beantragte der Kläger die Aufhebung der Ausweisungsverfügung. Zur Begründung führte er aus, dass seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes die Ausweisung von europäischen Staatsangehörigen nicht mehr möglich sei. Mit Schreiben vom 30. Januar 2006 teilte ihm die Beklagte mit, dass die Ausweisung bestandskräftig und durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht gegenstandslos geworden sei. Auch seien die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht gegeben.

Mit der am 17. März 2006 erhobenen Untätigkeitsklage hat der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über seinen Antrag, hilfsweise zur Aufhebung der Ausweisungsverfügung beantragt. Er hat hierzu geltend gemacht, das mit dem Zuwanderungsgesetz neu eingeführte Freizügigkeitsgesetz/EU sehe eine Ausweisung von Unionsbürgern nicht mehr vor.

Dem ist die Beklagte unter Vertiefung ihrer Rechtsauffassung entgegen getreten. Die Wirkungen bestandskräftiger Ausweisungen seien mit der Einführung des Freizügigkeitsgesetzes/EU nicht entfallen.

Mit Urteil vom 30. August 2006 hat das Verwaltungsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen, soweit der Kläger eine "reine Bescheidung" seines Antrags vom 10. November 2005 beantragt habe. Der auf die Aufhebung der Ausweisungsverfügung gerichtete Hilfsantrag sei unbegründet, weil bestandskräftige Ausweisungsverfügungen mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU zum 1. Januar 2005 ihre Gültigkeit nicht verloren hätten.

Die von dem Verwaltungsgericht zugelassene Berufung hat der Kläger mit seinem erstinstanzlichen Vorbringen begründet und vertiefend ausgeführt: Die Ausweisung sei durch die Änderung der Rechtslage gegenstandslos geworden. Denn das für Unionsbürger geltende Freizügigkeitsgesetz/EU beinhalte eine Überleitungsvorschrift für die Fortgeltung ausländerrechtlicher Maßnahmen nicht. Es nehme auch nicht Bezug auf § 102 AufenthG, der für Ausländer, die nicht Unionsbürger seien, ausdrücklich das Fortbestehen der Wirksamkeit von Ausweisungen anordne, die vor dem 1. Januar 2005 ergangen seien. Eine solche Regelung fehle aber für Ausweisungen von Unionsbürgern. Angesichts der Aufzählung der anwendbaren Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, zu welchen § 102 AufenthG nicht gehöre, sei nicht von einem bloßen Regelungsversehen des Gesetzgebers auszugehen. Für eine Fortgeltung bestandskräftiger Ausweisungen von Unionsbürgern bestehe auch kein praktisches Bedürfnis, weil die Rückkehr von unanfechtbar ausgewiesenen Schwerkriminellen in einem neuen Verfahren auf der Grundlage des Freizügigkeitsgesetzes/EU geprüft und gegebenenfalls sofort vollziehbar verhindert werden könne.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 30. August 2006 zu verpflichten,

über den mit Schriftsatz vom 10. November 2005 gestellten Antrag auf Aufhebung ihrer Verfügung vom 11. September 1995 zu entscheiden,

hilfsweise,

ihre Verfügung vom 11. September 1995 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und vertieft ihre bisherigen Ausführungen.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakte 4 K 698/99.TR Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung durch den Senat gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Sie ist bereits unzulässig, soweit der Kläger beantragt hat, die Beklagte verpflichten, über seinen Antrag vom 10. November 2005 auf Aufhebung der Verfügung vom 11. September 1995 zu entscheiden. Für eine solche, nur auf eine allgemeine Bescheidung gerichtete Klage besteht aus den vom Verwaltungsgericht zutreffend dargelegten Gründen, auf welche verwiesen wird (§ 130a Satz 2 VwGO), kein Rechtsschutzinteresse.

Der Hilfsantrag mit dem Ziel der Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung der Ausweisungsverfügung ist zulässig. Die Voraussetzungen für eine Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO sind im Hinblick auf das beanspruchte Wiederaufgreifen des Verfahrens gegeben. Die Beklagte hat über den Antrag des Klägers vom 10. November 2005 nicht in der Sache entschieden. Ihr Schreiben vom 30. Januar 2006 enthält lediglich allgemeine Hinweise auf die Rechtslage. Davon geht die Beklagte auch selbst aus; in der Klageerwiderung vom 12. April 2006 hat sie eingeräumt, eine Sachentscheidung bislang nicht getroffen zu haben.

Der Wiederaufgreifensantrag ist bei sachgerechter Auslegung auch dahin zu verstehen, dass der Kläger im Falle der von ihm behaupteten Wirkungslosigkeit seiner Ausweisung begehrt, die Ausweisungsverfügung zur Beseitigung eines entgegenstehenden Rechtsscheins aufzuheben.

Der Hilfsantrag ist unbegründet. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (- VwVfG -) i.V.m. § 1 des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes (- LVwVfG -) hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Ausweisungsverfügung vom 11. September 1995 ist nicht unwirksam geworden (1.). Die Beklagte ist wegen des geltend gemachten Grundes nicht verpflichtet, das Verfahren wiederaufzugreifen und die Ausweisung aufzuheben (2.).

1. Mit dem Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) wurde ab dem 1. Januar 2005 das Ausländergesetz vom 9. Juli 1990 - AuslG 1990 - aufgehoben und durch das Aufenthaltsgesetz - AufenthG - ersetzt. Für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen traten an die Stelle des bis dahin gültigen Aufenthaltsgesetzes/EWG - AufenthG/EWG - und der Freizügigkeitsverordnung die Vorschriften des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - FreizügG/EU -. Diese Änderung der Rechtslage lässt die zuvor eingetretene Bestandskraft der Ausweisungen von Unionsbürgern unberührt. Bestandskräftige Ausweisungen sind weder durch das Außerkrafttreten des Ausländergesetzes 1990 und des Aufenthaltsgesetzes/EWG (a) noch durch das Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU (b) unwirksam geworden (vgl. § 43 Abs. 2 VwVfG i.V.m. § 1 LVwVfG).

a) Ausweisungen, die unter der Geltung des Ausländergesetzes 1990 und des Aufenthaltsgesetzes/EWG unanfechtbar geworden sind, gelten grundsätzlich unabhängig von der Rechtslage kraft ihrer materiellen Bestandskraft als freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen auch nach dem 1. Januar 2005 fort (ebenso HambOVG, Urteil vom 22. März 2005 - 3 Bf 294/04 -, juris und Beschluss vom 14. Dezember 2005, InfAuslR 2006, 305 [308]; a.A. OVG BlnBbg, Beschluss vom 15. März 2006, NVwZ 2006, 953 sowie HessVGH, Beschluss vom 29. Dezember 2004, NVwZ 2005, 837 f.). Die Bestandskraft ist ein anerkanntes Prinzip der Rechtssicherheit (vgl. BVerfGE 60, 269 f.). Auch das Gemeinschaftsrecht verlangt grundsätzlich nicht, eine bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen (EuGH, NVwZ 2004, 459 f., - Kühne & Heitz - Nr. 24; vgl. auch Lenzen, Verwaltungsarchiv 2006, 49 ff.).

Der Eintritt der materiellen Bestandskraft bewirkt die Bindung der Behörde und der Beteiligten an die getroffene Regelung. Ausnahmen gelten nur, wenn eine Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten ist, die zu ihrer Gegenstandslosigkeit geführt hat. Hierzu genügt es nicht, dass der bestandskräftige Verwaltungsakt wegen einer Gesetzesänderung so nicht mehr erlassen werden dürfte (BVerwGE 64, 24 [26]). Es kommt für die Fortdauer seiner Wirksamkeit vielmehr darauf an, ob der Verwaltungsakt nach seinem Inhalt und Zweck und im Zusammenhang mit den gesetzlichen Regelungen, auf welchen er beruht, Geltung auch für den Fall veränderter Umstände beansprucht. Selbst die Aufhebung der Regelungen, auf dessen Grundlage er ergangen ist, lässt seine Wirksamkeit unberührt, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt (zum Ganzen vgl. Kopp/Ramsauer, 9. Auflage, VwVfG, § 43 Rn. 31, 42 bis 44).

Eine solche abweichende Bestimmung enthält weder das Aufenthaltsgesetz noch das Freizügigkeitsgesetz/EU. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber auf die Bestandskraft von Ausweisungen gleichsam verzichten wollte. Dies hätte nämlich zur Folge, dass Unionsbürger, die beispielsweise wegen schwerer Straftaten ausgewiesen sind, zunächst ungehindert in die Bundesrepublik Deutschland einreisen könnten. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind aber auch bei Unionsbürgern weiterhin möglich. Im Einzelnen gilt Folgendes:

Mit dem Aufenthaltsgesetz und dem Freizügigkeitsgesetz/EU beabsichtigte der Gesetzgeber nicht, die Bestandskraft von Ausweisungsverfügungen zu beseitigen. Ziel des Gesetzgebungsverfahrens war es insofern (nur), vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts die durch die Europäische Kommission wiederholt angemahnte Anpassung der Rechtsvorschriften für Unionsbürger im Rahmen der erforderlichen Gesamtrevision des Aufenthaltsrechtes durchzuführen (BT-Drucks. 15/420, S. 65). Weder dem Gesetzestext noch seiner Begründung ist eine Erstreckung dieser Rechtsangleichung auch auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren zu entnehmen. Dies gilt umso mehr, als eine generelle Wirkungslosigkeit bestandskräftiger Ausweisungen gleichsam die Möglichkeit zur ungehinderten Einreise auch solcher Unionsbürger zur Folge hätte, die bereits in der Vergangenheit wegen schwerer Taten, die ein grundlegendes Sicherheitsinteresse der Gesellschaft berührten, unanfechtbar ausgewiesen worden sind. Denn deren Aufenthalt könnte auch heute noch unter den Voraussetzungen des Art. 28 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates der Union vom 29. April 2004 (ABl. L 229/35 vom 29. Juni 2004, - RL 2004/38/EG -) beendet werden. Für die Inkaufnahme solcher Sicherheitsdefizite gibt es keine Anhaltspunkte.

Auch der Umstand, dass das Freizügigkeitsgesetz/EU den Begriff der Ausweisung nicht mehr verwendet, bedeutet keinen Verzicht auf die Bestandskraft von Ausweisungsverfügungen. Die Notwendigkeit, auch in Zukunft gegenüber Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anordnen zu können, war im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. So erlaubt § 6 FreizügG/EU unter bestimmten dort genannten Voraussetzungen auch zukünftig die Beschränkung der Freizügigkeit bei Unionsbürgern. Dies steht insoweit in Einklang mit Art. 28 RL 2004/38/EG, der die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung im Sinne einer Ausweisung nach deutschem Sprachgebrauch rechtlich voraussetzt (zum unterschiedlichen Sprachgebrauch vgl. Jakober, VBlBW 2006, 15 [18]). Umso weniger ist dann aber von dem Willen des Gesetzgebers auszugehen, die Bestandskraft von Ausweisungen aufzugeben, die noch vor dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU eingetreten ist.

Nicht anderes folgt daraus, dass mit den §§ 6, 7 FreizügG/EU seit dem 1. Januar 2005 eigene Regelungen für eine Aufenthaltsbeendigung bei Unionsbürgern zur Verfügung stehen, die eine vorherige Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit erfordern. Selbst wenn man darin eine über die bisherigen Verfahren zur Ausweisung hinausgehende Besserstellung von Unionsbürgern erkennen wollte, kann hieraus nicht auf eine Gegenstandslosigkeit der unter der Geltung anderer Rechtsvorschriften bestandskräftig gewordenen Ausweisungen geschlossen werden. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber die Begriffe an die Fortentwicklung des Freizügigkeitsverständnisses angepasst hat. Terminologisch lehnt er sich an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften an. Danach wird durch die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis-EG bzw. einer Freizügigkeitsbescheinigung (lediglich) festgestellt, dass der Unionsbürger die zur Inanspruchnahme der Freizügigkeit notwendigen Voraussetzungen erfüllt; die Freizügigkeit wird ihm nicht erst durch den Aufenthaltstitel verliehen (vgl. z.B. EuGH, NVwZ 1993, 765 f., - Tsiotras -). Die Formulierungen in § 1 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 Satz 1 AufenthG/EWG waren begrifflich ungenau, soweit es darin hieß, dass das Aufenthaltsgesetz/EWG Freizügigkeit "gewährt". Dementsprechend führt die Gesetzesbegründung zum Freizügigkeitsgesetz/EU aus, dass "trotz weitreichender Gleichstellung von Unionsbürgern mit Deutschen noch immer eine Aufenthaltsgenehmigung verlangt (wird), der jedoch nur deklaratorische Bedeutung zukommt". Weiter heißt es, dass "das geltende Recht der Aufenthaltsbeendigung für Unionsbürger nicht den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes entspricht und daher einer entsprechenden Ausgestaltung bedarf" (BT-Drucks. 15/420, S. 61). Dem folgt § 6 FreizügG/EU, soweit er für beschränkende Maßnahmen die Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit fordert (vgl. auch Lüdke, InfAuslR 2005, 177 [178]).

Durch das Erfordernis der Verlustfeststellung hat der Gesetzgeber auch inhaltlich nicht zum Ausdruck gebracht, die Neuregelung auf zurückliegende Fälle anwenden zu wollen. In der Begründung zum Freizügigkeitsgesetz/EU heißt es hierzu gerade gegenteilig, "Satz 1 (stelle) insofern unverändert gegenüber dem bisherigen § 12 Abs.1 Satz 1 AufenthG/EWG klar, dass derartige freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne des Art. 39 Abs. 3 und des Art. 46 Abs. 1 des EGV zulässig sind" (BT-Drucks. 15/420, S. 104). Dies wird bestätigt durch die Voraussetzungen und die weiteren Folgen der Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU, die den Wirkungen einer Ausweisung ähnlich geblieben sind. Überdies spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber überhaupt eine Notwendigkeit gesehen hätte, die Bestandskraft der Ausweisung von Unionsbürgern neu regeln zu müssen.

Gleiches ergibt sich letztlich aus dem Sinn und Zweck von Ausweisungsverfügungen. Denn sie legen sich ihrem Wesen als präventive Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Geltung grundsätzlich solange bei, bis der mit ihnen verfolgte Sicherungszweck erreicht ist. Ihr rechtlicher Charakter blieb aber durch die nachträglichen Änderungen unberührt. Zwar bestehen zwischen der Ausweisung nach altem Recht und der Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU strukturelle Unterschiede, weswegen die Ausweisung und Verlustfeststellung nicht dieselben, sondern lediglich vergleichbare Wirkungen entfalten (vgl. im Einzelnen z.B. Jakober, VBlBW 2006, 15 [17 - 19]). Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, bestandskräftig gewordene Ausweisungen seien - unabhängig von dem Erreichen ihres Sicherungszweckes - alleine durch das Inkrafttreten der ab dem 1. Januar 2005 geltenden Neuregelungen gegenstandslos geworden (vgl. aber Gutmann, InfAuslR 2005, 125 f.). Hiervon ging auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 3. August 2004 (1 C 30/02) unter ausdrücklichem Vorgriff auf die Vorschriften des Freizügigkeitsgesetzes/EU nicht aus (BVerwGE 121, 297 ff. im Falle einer nicht bestandskräftigen Ausweisung).

b) Auch aus dem Fehlen einer Übergangsvorschrift im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU folgt nicht die Unwirksamkeit der Ausweisungen von Unionsbürgern. Für Ausländer, die nicht Unionsbürger sind, regelt § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausdrücklich die Fortgeltung von Ausweisungen einschließlich ihrer Rechtsfolgen und der Befristung ihrer Wirkungen. Das Fehlen einer Übergangsvorschrift im Freizügigkeitsgesetz/EU besagt aber nur, dass die Wirksamkeit von Ausweisungen, die gegenüber Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft vor dem 1. Januar 2005 rechtsbeständig geworden sind, in Ermangelung einer (abweichenden) gesetzlichen Regelung nach den allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen ist, zu welchen auch die Bestandskraft zählt. Trifft der Gesetzgeber keine den Fortbestand beseitigende Anordnung, ist sowohl bei Unionsbürgern als auch bei Nicht-Unionsbürgern grundsätzlich unabhängig von § 102 AufenthG davon auszugehen, dass es bei dem Inhalt rechtsbeständig verfügter Ausweisungen bleiben soll.

Eine solche, die Geltung von bestandskräftigen Ausweisungen beseitigende Anordnung hat der Gesetzgeber nicht getroffen. Eine gesetzliche Verweisungslücke kann auch nicht aus der Überlegung hergeleitet werden, nach der die Übergangsvorschrift des § 102 AufenthG (auch) für Nicht-Unionsbürger überflüssig sei, wäre der Gesetzgeber von dem Fortbestand der Ausweisungswirkungen alleine wegen ihrer Bestandskraft ausgegangen. Denn die Vorschrift des § 102 AufenthG dient nicht dazu, die Geltung der Bestandskraft von Ausweisungen zu erhalten. Sie lässt schon ihrem Wortlaut nach die Bestandskraft (oder die sonstige Vollziehbarkeit) unberührt und knüpft alleine an die Wirksamkeit der Ausweisung an. Sie bezieht sich auch auf noch anfechtbare Ausweisungen und geht in ihrem Anwendungsbereich über die Bestandskraft hinaus. Sinn und Zweck des § 102 AufenthG ist es, die Regelungen über die bisherigen Aufenthaltsrechte (§ 101 AufenthG) und über die Anwendung des bisherigen Rechts (§§ 103, 104 AufenthG) zu ergänzen. Sie legt sich ihrem Wesen als Übergangsvorschrift insbesondere Bedeutung für Verwaltungsverfahren zu, die vor dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes nicht unanfechtbar abgeschlossen gewesen sind oder aber Aufenthaltsrechte betreffen, über welche zu diesem Zeitpunkt gerade nicht rechtsverbindlich entschieden worden war, und die - zum Teil - sogar den andauernden Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet voraussetzen. Die Aufnahme der Ausweisungen in den Katalog des § 102 AufenthG trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass unter der Geltung des Ausländergesetzes 1990 eine Ausweisung rechtserhebliche Wirkungen unabhängig von ihrer Vollziehbarkeit und dem Eintritt der Bestandskraft entfalten konnte, deren Wirksamkeit durch die Erhebung von Rechtsmitteln grundsätzlich unberührt blieb (vgl. etwa § 72 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AuslG 1990 und § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

2. Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass der Kläger aus den von ihm dargelegten Gründen keinen Anspruch darauf hat, das Ausweisungsverfahren nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG i.V.m. § 1 LVwVfG wiederaufzugreifen und die bestandskräftige Ausweisung aufzuheben. Seinen Antrag vom 10. November 2005 auf Aufhebung der Ausweisungsverfügung begründete der Kläger allein damit, eine Ausweisung von europäischen Staatsangehörigen sei aufgrund des Zuwanderungsgesetzes nicht mehr möglich. Damit macht er zwar eine Änderung des materiellen Rechts und demzufolge eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geltend. Die Fortgeltung der Ausweisungsverfügung bewirkt allerdings, dass eine ihm günstigere Entscheidung nicht ergehen kann.

Die Frage, ob die Aufrechterhaltung der Ausweisung unter anderen Gesichtspunkten bedenklich ist, bedarf daher keiner Prüfung. Denn im Rahmen des Wiederaufgreifensverfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sind die Behörden und Gerichte an die von dem Antragsteller hierfür aufgezeigten Gründe gebunden. Sie sind nicht befugt, andere als die geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe ihrer Entscheidung zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, NvWZ 1990, 359 [360]; OVG NRW, NVwZ 1986, 51 [52]; s. auch Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 51 Rn. 24; ebenso Schäfer, in: Obermayer, VwVfG, 3. Aufl., § 51 Rn. 24 ff. [26]). Deshalb ist insbesondere nicht zu prüfen, welche Folgen die Richtlinie 2004/38/EG hat, die mangels fristgerechter Umsetzung seit dem 1. Mai 2006 zugunsten des Klägers unmittelbar anwendbar ist (vgl. das Urteil des Senats vom 5. Dezember 2006 - 7 A 10924/06.OVG -, veröffentlicht in ESOVG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten ergeht gemäß § 167 VwGO.

Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Beschluss

Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt (§§ 47, 52 Abs. 2 GKG)

Ende der Entscheidung

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