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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 22.10.2003
Aktenzeichen: 2 L 327/00
Rechtsgebiete: BauNVO, LSA-BauO, LSA-VwVfG, GG, VwGO


Vorschriften:

BauNVO § 15 I 2
LSA-BauO § 77 I 2
LSA-VwVfG § 48
GG Art. 14 I 2
GG Art. 103 I
VwGO § 108
VwGO § 124 II 5
VwGO § 124a I 4
VwGO § 124a IV 4
1. Die Aufhebung einer rechtswidrigen Baugenehmigung verstößt nicht gegen die Eigentumsgarantie der Verfassung.

2. Ein Boxenlaufstall kann mit Blick auf § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO selbst in einem Dorfgebiet gegen den Grundsatz der Rücksichtnahme verstoßen.

3. Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe die Vorbelastung des Gebiets nicht ermittelt, führt nicht zum Erfolg, wenn es der Betroffene unterlassen hat, auf Aufklärung zu dringen.

4. Mit der Verfahrensrüge, rechtliches Gehör sei verletzt, kann nicht geltend gemacht werden, dass das Verwaltungsgericht die Sachlage unrichtig gewürdigt habe.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 L 327/00

Datum: 22.10.2003

Gründe:

Der Beschluss beruht auf §§ 124a; 124 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686) - VwGO -, geändert durch Gesetz vom 01.11.1996 (BGBl I 1626) und zuletzt geändert durch Gesetz vom 13.07.2001 (BGBl I 1543) - wegen der durch das Änderungsgesetz vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) als § 194 Abs. 1 VwGO eingefügten Übergangsregelung auf diesen Fall noch anwendbar -, sowie auf § 154 Abs. 2 VwGO (Kosten) und hinsichtlich des Streitwerts auf § 13 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]), i. V. m. II. Nr. 7.6.1. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (DVBl. 1996, 605 ff.). Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2. waren nicht für erstattungsfähig zu erklären, weil sie - im Gegensatz zum Beigeladenen zu 1. - weder Anträge gestellt noch sonst das Verfahren wesentlich gefördert hat.

I. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen; denn diese sind nicht hinreichend dargelegt worden (vgl. § 124a Abs. 1 Satz 4 VwGO).

Der Darlegungslast genügt nur, wer den "Grund" benennt, der ausnahmsweise die Zulassung rechtfertigt, und dessen Voraussetzungen "schlüssig" beschreibt. Dazu gehört bei § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, dass belegt wird, es beständen gerade "ernstliche Zweifel an der Richtigkeit" der angefochtenen Entscheidung. Dies verlangt zunächst, dass der Antrag einzelne tatsächliche Feststellungen des Gerichts oder Elemente der rechtlichen Ableitung konkret bezeichnet, die beanstandet werden sollen, sowie zusätzlich, dass aufgezeigt wird, aus welchem Grund die konkrete Passage ernstlichen Zweifeln begegnet. Da § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO außerdem verlangt, dass ernstliche Zweifel an der "Richtigkeit" des Ergebnisses bestehen, muss der Zulassungsantragsteller ferner darlegen, dass das Gericht bei Vermeidung der gerügten Fehler zu einer anderen, für den Rechtsmittelführer positiven Entscheidung gelangt wäre. Daran fehlt es hier.

1. Soweit der Kläger meint, er werde durch das Urteil in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG verletzt, weil durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 08.12.1997 und 18.12.1997 eine Enteignung in Form der teilweisen Entziehung seines ihm zustehenden Nutzungsrechts am Grundstück sowie unmittelbar eine für den Gewerbebetrieb bestehende Nutzungsbeschränkung vollzogen werde, vermag dieser Einwand ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht zu begründen.

Die Aufhebung einer rechtswidrigen Baugenehmigung stellt weder eine Enteignung noch einen enteignungsgleichen Eingriff dar; denn die durch eine rechtswidrige Baugenehmigung eingeräumte Rechtsposition des öffentlichen Rechts unterliegt nicht dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG. Es handelt sich dabei nicht um eine Eigentumsposition, die dem Bauherrn, der nicht zwingend Grundstückseigentümer sein muss (§§ 58; 59 der Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt - BauO LSA - vom 09.02.2001 [LSA-GVBl., S. 50], zuletzt geändert durch Gesetz vom 16.07.2003 (LSA-GVBl., S. 158 [161]), nur gegen Entschädigung entzogen werden könnte. Dies wäre nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.06.1960 - 1 BvL 10/58 -, BVerfGE 11, 221 [226]; BVerfG, Beschl. v. 19.07.1967 - 2 BvL 1/65 -, BVerfGE 22, 241 [253]) nur dann der Fall, wenn eine Rechtsposition des öffentlichen Rechts so geschaffen ist, dass sie der Rechtsstellung des Eigentümers nahe kommt, wenn sie also so stark ist, dass ihr ersatzloser Entzug den rechtsstaatlichen Grundsätzen zuwiderlaufen würde, und wenn sie nicht ausschließlich auf staatlicher Gewährung, sondern auf eigener Leistung beruht. Eine solche Rechtsstellung gibt die Baugenehmigung nicht; denn sie beruht weder auf eigener Leistung noch ist sie eine staatliche Gewährung. Vielmehr stellt die Baugenehmigung lediglich fest, dass dem genehmigten Vorhaben im Zeitpunkt der Entscheidung öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 BauO LSA; BVerwG, Urt. v. 02.07.1963 - BVerwG I C 110.62 -, BRS 14, S. 51).

Im Übrigen steht die Position, die der Inhaber einer rechtswidrigen Baugenehmigung innehat, gerade wegen des Vorhandenseins der §§ 48 ff. des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Sachsen-Anhalt i. d. F. d. Bek. v. 07.01.1999 (LSA-GVBl., S. 3) - VwVfG LSA -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.03.2002 (LSA-GVBl., S. 130 [135 <Nr. 34>]), unter dem gesetzlichen Vorbehalt der jederzeitigen Aufhebung. In dieser Vorbelastung liegt ein von Anfang an vorhandenes und vom Gesetzgeber, der gemäß Artikel 14 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmt, gewolltes Risiko, das mit der Aufhebung lediglich offen zutage tritt.

2. Auch der Einwand des Klägers, das Gericht habe völlig verkannt, dass eine Baumaßnahme nur dann unzulässig sei, wenn durch diese erhebliche und unzumutbare Beeinträchtigungen ausgingen, geht ins Leere; denn das Verwaltungsgericht hat unter Hinweis auf die vorliegende immissionsseitige Stellungnahme des Staatlichen Amtes für Umweltschutz Magdeburg vom 09.09.1998 festgestellt, dass von dem geplanten Vorhaben des Klägers Belästigungen oder Störungen ausgehen, die selbst unter Berücksichtigung der Eigenart des Dorfgebiets und der tatsächlichen Vorbelastung dem Beigeladenen zu 1. und den übrigen Nachbarn nicht im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 der Baunutzungsverordnung i. d. F. d. Bek. v. 23.01.1990 (BGBl I 132) - BauNVO -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.04.1993 (BGBl I 466), zuzumuten seien. In seiner Stellungnahme kommt das Staatliche Amt für Umweltschutz zu dem Ergebnis, dass aus immissionsschutzrechtlichen Gründen erhebliche Bedenken gegen das Vorhaben der Erweiterung der Rinderanlage bestehen, weil u. a. der tatsächliche Abstand zwischen der Anlage und den angrenzenden Wohnhäusern statt des notwendigen Mindestabstands von 90 m nur ca. 30 m betrage und dadurch eine Immissionssituation gegeben sei, die bei einer weiteren Verschlechterung zu schädlichen Umwelteinwirkungen in der Nachbarschaft führen könne. Diese Argumentation hat sich das Verwaltungsgericht zu eigen gemacht und im Hinblick auf die besondere Grundstücks- und Bebauungssituation (Hauptwindrichtung) eine Rücksichtslosigkeit des klägerischen Bauvorhabens im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO angenommen.

Damit hat das Verwaltungsgericht aber in keiner Weise den Regelungsgehalt des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verkannt, sondern ist zutreffend davon ausgegangen, dass dem Gebot der Rücksichtnahme, das in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO enthalten ist, drittschützende Wirkung zukommt, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Was der Nachbarschaft an Belästigungen für seine unmittelbare Umgebung zugemutet werden darf, bestimmt sich nach der konkreten Schutzwürdigkeit der im Einwirkungsbereich der baulichen Anlage liegenden Grundstücke und ihrer Bewohner, wobei Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit ihrerseits maßgeblich von der bebauungsrechtlichen Prägung der Situation sowie den tatsächlichen und planerischen Vorbelastungen abhängen (st. Rspr. des Senats, OVG LSA, Beschl. v. 16.09.1996 - B 2 S 271/96 -). Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen; je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (OVG LSA, Beschl. v. 04.01.2000 - A 2 S 158/98 -, m. w. N.). Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahme-Begünstigten und andererseits dem Rücksichtnahme-Verpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, Urt. v. 25.02.1977 - BVerwG 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122). Der Kläger legt in seiner Zulassungsschrift nicht substanziiert dar, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Würdigung, das streitige Vorhaben erweise sich gegenüber dem Beigeladenen zu 1. als unzumutbar, nach Aktenlage sowie unter Berücksichtigung der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu durchgreifenden Bedenken Anlass gibt, sondern widerspricht schlicht - nach Art einer Rechtsmittelbegründung, wie sie ohne Zulassungspflicht vor dem 1. Januar 1997 statthaft war - den Feststellungen des Verwaltungsgerichts. Hiermit wird der Kläger aber dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 1 Satz 4 VwGO nicht gerecht.

3. Auch die geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) werden nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 1 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt.

Soweit der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe die Vorbelastung des Gebietes nicht ermittelt, zeigt er den damit sinngemäß geltend gemachten Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht schlüssig auf; insbesondere fehlt es an einer konkreten Darlegung, ob und in welchem Stadium des Verfahrens der Kläger auf einen entsprechenden Ermittlungsbedarf hingewiesen hat. Auf eine Verletzung rechtlichen Gehörs kann sich aber nur berufen, wer darlegt, zunächst selbst alles ihm Mögliche versucht zu haben, um sich Gehör zu verschaffen (Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 138 RdNr. 19 [m. w. Nachw.]; Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, § 138 RdNr. 48 [m. w. Nachw.]; vgl. auch: OVG LSA, Beschl. v. 16.01.1995 - 2 L 10/95 -; Beschl. v. 04.05.1995 - 2 L 54/95 -).

Soweit der Kläger beanstandet, das Verwaltungsgericht habe eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Sachverhalts vorgenommen, führt der damit ebenfalls nur sinngemäß geltend gemachten Gehörsverstoß nicht zu der begehrten Zulassung; denn die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist von vornherein nicht geeignet, eine - vermeintlich - fehlerhafte Feststellung und Bewertung des Sachverhaltes einschließlich seiner rechtlichen Würdigung zu beanstanden. Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht verletzt, wenn der Richter im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit zur Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Beteiligten vorgetragenen Tatsachen zu einer möglicherweise unrichtigen Tatsachenfeststellung gekommen ist (BVerfG, Beschl. v. 19.07.1967 - 2 BvR 639/66 -, BVerfGE 22, 267 [273f]).

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