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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 29.01.2004
Aktenzeichen: 2 M 28/04
Rechtsgebiete: VwGO, AuslG, GG, BGB


Vorschriften:

VwGO § 80 V
VwGO § 123 I
AuslG § 55 II
GG Art. 6 I
GG Art. 6 II
BGB § 1592 Nr. 2
BGB § 1594
BGB § 1626a
BGB § 1626d
1. Bei offenem Ausgang in der Hauptsache gelten für die Abwägung im Rahmen des § 123 Abs. 1 VwGO die gleichen Grundsätze wie im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO.

2. Für den Nachweis, dass die Vaterschaft anerkennt ist und dass ein gemeinsames Sorgerecht besteht, bedarf es zur Glaubhaftmachung im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht zusätzlich der Vorlage der Abstammungsurkunde, wenn die Wirksamkeit der Anerkennung feststeht.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 28/04

Datum: 29.01.2004

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686), in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO -, sowie auf § 154 Abs. 2 VwGO <Kosten> und auf §§ 13 Abs. 1 Satz 2; 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]) <Streitwert>, der wegen des endgültigen Charakters des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht zu halbieren ist.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen. Voraussetzung des Erlasses ist, dass der Antragsteller darlegt und glaubhaft macht, es bestehe ein Recht oder ein rechtlich geschütztes Interesse (Anordnungsanspruch), das durch das Verhalten der öffentlichen Gewalt gefährdet sei (Anordnungsgrund). Die Entscheidung beruht auf einer Abwägung der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen, die nach den gleichen Grundsätzen erfolgt, welche bei der Aussetzung des sofortigen Vollzugs nach § 80 Abs. 5 VwGO gelten (BVerfG, Beschl. v. 12.08.1977 - 1 BvR 699/77 -, BVerfGE 51, 268 [280]). Sie fällt zugunsten des Antragstellers aus, wenn die Abwägung ergibt, dass die Folgen, die eintreten, wenn die einstweilige Anordnung verweigert wird und die Behörde später in der Hauptsache zur Vornahme der begehrten Handlung verpflichtet wird, schwerer wiegen als die Folgen, die eintreten, wenn das Rechtsverhältnis einstweilen geregelt und die Ablehnung der begehrten Handlung später in der Hauptsache bestätigt wird. Hat das Hauptsacheverfahren überwiegende Erfolgsaussichten, dann überwiegen die Interessen des Antragstellers, im anderen Fall diejenigen des Antragsgegners. Bei offenem Prozessausgang kommt es allein auf die Gewichtung der widerstreitenden Nachteile an.

Dem Antragsteller ist mit der für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderlichen Wahrscheinlichkeit ein Duldungsanspruch zuzubilligen, weil seine Abschiebung aus Gründen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG; 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 - EMRK - (BGBl 1952 II 686, 953; 1968 II 1116, 1120; 1989 II 547) rechtlich unmöglich ist (§ 55 Abs. 2 des Ausländergesetzes - AuslG - (= Art. 1 des Gesetzes vom 09.07.1990 [BGBl I 1354], geändert durch Gesetz vom 30.06.1993 [BGBl I 1062], zuletzt geändert durch Gesetz vom 09.01.2002 [BGBl I 361 <368>]).

Nach § 55 Abs. 2 AuslG wird einem Ausländer eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach § 53 Abs. 6 oder § 54 AuslG ausgesetzt werden soll. Dem Antragsteller dürfte wegen seiner Beziehung zu seiner minderjährigen Tochter ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 2 GG zur Seite stehen.

Zu dem Verhältnis eines Ausländers zu seinem deutschen Kind vertritt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -) folgende Auffassung:

"Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei ihrer Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfGE 76, 1 [49 ff.]; 80, 81 [93]). Es ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber die sonstigen Umstände des Einzelfalles. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und einem von ihm als Vater anerkannten deutschen Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil dem deutschen Kind wegen dessen Beziehung zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfGE 76, 1 [49 ff.]; 80, 81 [93 ff.] sowie Kammerbeschlüsse vom 1. Oktober 1992 - 2 BvR 1365/92 -, InfAuslR 1993, S. 10 f., und vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94 -, InfAuslR 1994, S. 394 f.). Dabei läßt sich das Bestehen einer aufenthaltsrechtlich schützenswerten Beistandsgemeinschaft verfassungsrechtlich tragfähig nicht allein mit einem Verweis auf die Möglichkeit der Betreuung im erforderlichen Umfang auch durch die Mutter verneinen. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte (vgl. BVerfGE 80, 81 [95] und Kammerbeschlüsse vom 25. Oktober 1995 - 2 BvR 1119/96 -, InfAuslR 1996, S. 341 f., und vom 20. März 1997 - 2 BvR 260/97 -, in JURIS veröffentlicht). Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, daß der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird, sondern der Vater - allein oder durch die Mutter - wesentliche elterliche Betreuungsleistungen erbringen kann, die gegebenenfalls auch als Beistandsgemeinschaft aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG entfalten (vgl. Kammerbeschluß vom 20. März 1997 - 2 BvR 260/97 -, in JURIS veröffentlicht).

Der Gesetzgeber hat durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16. Dezember 1997 (BGBl I S. 2942) das gemeinsame Sorgerecht auch für nichteheliche Kinder geschaffen und die gemeinsame Sorge auch bei Scheidung der Eltern nunmehr als Regelfall vorgesehen. Er hat damit seiner aus Art. 6 Abs. 1 GG bestehenden Verpflichtung zum besonderen Schutz der Familie Rechnung getragen (für nichteheliche Kinder auch der aus Art. 6 Abs. 5 GG zur Schaffung gleicher Bedingungen wie für eheliche Kinder). Ein Zurücktreten des Vollzugsinteresses könnte daher nunmehr bereits aufgrund der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung zugunsten nichtehelicher Väter und eines gemeinsamen Sorgerechts sowie eines Anspruches des Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen anzunehmen sein (vgl. §§ 1626 Abs. 1 und 3, 1626a BGB; vgl. auch § 1684 Abs. 1 BGB). Insofern weisen die Beschwerdeführer zutreffend auf die zusammen mit der Mutter der Beschwerdeführerin zu 2. am 8. Juli 1999 notariell erklärte Anerkennung der Vaterschaft durch den Beschwerdeführer zu 1. und die gemeinsame Sorgerechtserklärung sowie darauf hin, daß es sich auch um einen in die Abwägung einzubeziehenden öffentlichen Belang und nicht lediglich das private Interesse des Beschwerdeführers zu 1. handele.

Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen die durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützten privaten Interessen des Beschwerdeführers zu 1. und der Beschwerdeführerin zu 2. nicht ohne weiteres schon deshalb, weil der Beschwerdeführer zu 1. vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Durch das nachträgliche Entstehen einer von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG grundsätzlich geschützten Lebensgemeinschaft ist eine neue Situation eingetreten. Es müßte daher aufgezeigt werden, durch welches verfassungsrechtlich beachtliche überwiegende Interesse eine Entfernung des Beschwerdeführers zu 1. aus dem Bundesgebiet dennoch gerechtfertigt sein kann (vgl. Kammerbeschluß vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94-, InfAuslR 1994, S.394 f.)."

Die Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seiner als Kind anerkannten Tochter (vgl. Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft mit Zustimmung vom 17.10.2002) kann nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil der Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zuzumuten ist. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bedarf es nach dem klaren Wortlaut des § 1594 BGB zur Wirksamkeit der Anerkennung der Vaterschaft im Sinne des § 1592 Nr. 2 BGB nicht zusätzlich der Vorlage einer Abstammungsurkunde.

Dem Antragsteller steht durch die beurkundete Erklärung des Jugendamts der Stadt Dessau vom 08.04.2003 auch das gemeinsame Sorgerecht für seine Tochter zu (§§ 1626a, 1626d BGB). Durch ihre eidesstattliche Versicherung vom 09.01.2003 hat die anwaltlich beratene Mutter des Kindes bezeugt, dass der Antragsteller mit seiner Tochter tatsächlich einen Umgang pflegt, der über eine reine Begegnungsgemeinschaft hinausgeht und aufgrund der nahezu täglichen Anwesenheit des Antragstellers zu einer persönlichen Verbundenheit geführt hat.

Da die Sachverhaltsaufklärung noch nicht abgeschlossen erscheint, war die einstweilige Anordnung - im Übrigen auch nur so vom Antragsteller beantragt - bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Duldung auszusprechen.

Ende der Entscheidung

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