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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 11.05.2004
Aktenzeichen: 2 M 308/04
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB, BauNVO


Vorschriften:

VwGO § 146
VwGO § 61
VwGO § 80 V
VwGO § 80 VII
BauGB § 34 II
BauNVO § 4 II 2
BauNVO § 15 I 2
1. Im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO sind die Parteien notwendig dieselben wie im Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, weil der Streitgegenstand beider Verfahren derselbe ist (Beschl v 11.05.2004).

2. Ob eine Gaststätte i. S. des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der "Versorgung des Gebiets" dient, ist vom verbraucherbezogenen Einzugsbereich her zu bestimmen; nicht entscheidend sind dagegen das Gemeindegebiet oder Gebietsteile (Beschl v 05.07.2004).

3. Zum Gebot der Rücksichtnahme und dazu erteilten Auflagen (Beschl v 05.07.2004)


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 308/04

Datum: 11.05.2004

Gründe:

Die Parteistellungen der an diesem Änderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO Beteiligten sind zu korrigieren. Aus Gründen der Rechtsklarheit wird die damit nicht übereinstimmende Beiladung des Saalkreises aufgehoben und der durch die Baugenehmigung Begünstigte, ..., erneut beigeladen.

Dies beruht auf folgender Überlegung:

Es handelt sich um ein Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO, mit welchem die Änderung der im Verfahren 2 B 97/03 HAL = 2 M 531/03 OVG LSA ergangenen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter Tatsachenlage verlangt wird. In einem solchen Fall sind die Beteiligten des Änderungsverfahrens automatisch und notwendig dieselben wie im Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO (OVG LSA, Beschl. v. 15.07.2003 - 2 M 111/03 -; ebenso BVerwG, Beschl. v. 27.01.1982 - BVerwG 4 ER 401.81 -, BVerwGE 64, 347 [355]), weil der Streitgegenstand beider Verfahren derselbe ist (OVG LSA, Beschl. v. 07.01.1998 - B 2 S 867/97 -, unter Hinweis auf VGH BW, Beschl. v. 19.09.1995 - 8 S 2485/95 -, NVwZ 1995, 1004). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. schon: OVG LSA, Beschl. v. 19.10.1994 - 2 M 57/94 -: "Wegen der veränderten Umstände wird das frühere Verfahren gleichsam fortgesetzt.").

Die hiermit wiederhergestellte Parteistellung entspricht derjenigen im Ausgangsverfahren 2 M 531/03.

Beschluss vom 05.07.2004:

Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686) - VwGO -, in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO 02 -, sowie auf die §§ 154 Abs. 2; 162 Abs. 3 VwGO (Kosten) und auf §§ 13 Abs. 1 S. 1; 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]) (Streitwert).

Die Beschwerde des Beigeladenen hat Erfolg.

Der Senat sieht in dem Erlass des Widerspruchsbescheids des Landesverwaltungsamts vom 1. April 2004 einen veränderten Umstand im Sinne von § 80 Abs. 7 VwGO, der eine Abänderung des ursprünglichen Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2003 (2 B 97/03 HAL) rechtfertigt. Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung hat die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 5. Juni 2003 durch den Widerspruchsbescheid eine Gestalt erhalten, die eine Verletzung der Nachbarrechte der Antragsteller nicht mehr erkennen lässt.

Wie bereits im Beschluss vom 4. Dezember 2003 (2 M 531/03) geht der Senat mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass sich die Zulässigkeit des streitigen Vorhabens nach § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m . § 4 BauNVO richtet, weil die Eigenart der näheren Umgebung des Betriebsgrundstücks einem allgemeinen Wohngebiet entsprechen dürfte. In diesem faktischen allgemeinen Wohngebiet ist die in Rede stehende Pizzeria gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO als der Versorgung des Gebiets dienende Schank- und Speisewirtschaft allgemein zulässig.

Ob eine Gaststätte im Sinne dieser Vorschrift der "Versorgung des Gebiets" dient, ist vom verbraucherbezogenen Einzugsbereich her zu bestimmen; nicht entscheidend sind dagegen - auch bei kleineren Landgemeinden - das Gemeindegebiet oder Gemeindegebietsteile, ebenso nicht das Wohngebiet (BVerwG, Beschl. v. 03.09.1998 - BVerwG 4 B 85.98 -, NJW 1998, 3792). Maßgeblich für die Qualifizierung als einer gebietsbezogenen Anlage sind objektive Kriterien, wie insbesondere die Größe und sonstige Beschaffenheit der Anlage, die daraus sich ergebenden Erfordernisse einer wirtschaftlich tragfähigen Ausnutzung, die örtlichen Gegebenheiten und die - möglicherweise regional unterschiedlichen - typischen Verhaltensweisen in der Bevölkerung (BVerwG, Urt. v. 29.10.1998 - BVerwG 4 C 9.97 -, BRS 60 Nr. 68). Danach ist zu beurteilen, ob die Anlage absehbar nur oder zumindest in einem erheblichen Umfang von den Bewohnern des umliegenden Gebiets besucht wird oder ob ein darüber hinaus gehender Besucherkreis zu erwarten ist, der zum Verlust des Gebietsbezugs führt (BVerwG, Urt. v. 29.10.1998, a. a. O.).

Nach diesen Maßstäben kommt einer Pizzeria in der hier streitigen Größenordnung von 20 zugelassenen Sitzplätzen eine gebietsbezogene Versorgungsfunktion zu (so auch OVG NW, Urt. v. 02.03.2001 - 7 A 2432/99 -, BRS 64 Nr. 69). Nach den heutigen, mittlerweile auch in kleineren Gemeinden anzutreffenden Lebensgewohnheiten werden Pizzerien häufig von den Bewohnern aus dem näheren und weiteren Wohnumfeld aufgesucht, um (kurzfristig) auf das Zubereiten von warmen Mahlzeiten im eigenen Haushalt verzichten zu können. Aus der geringen Zahl der zur Verfügung stehenden Sitzplätze ergibt sich weiter, dass der Betrieb nicht auf einen erheblich weiter reichenden Besucherkreis ausgerichtet ist, der (in der Regel) auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist.

Die angegriffene Baugenehmigung dürfte - anders als das Verwaltungsgericht meint - auch nicht deshalb rechtswidrig sein, weil die Pizzeria im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO nach ihrer Lage der Eigenart des Baugebiets widersprechen würde oder von ihr unzumutbare Belästigungen im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ausgehen würden.

Insbesondere sind unzumutbare Beeinträchtigungen durch den Zu- und Abgangsverkehr nicht zu erwarten. Zwar sollte - worauf das Verwaltungsgericht im Beschluss vom 16. Oktober 2003 unter anderem abgestellt hat - ursprünglich entlang der GrundMagdeburgstücke der Antragsteller eine "Binnenerschließung" über den zum Betriebsgrundstück führenden schmalen Kiesweg erfolgen. Nach den eingereichten Bauvorlagen waren drei Stellplätze auf dem Betriebsgrundstück vorgesehen. Die Baugenehmigung sieht aber ausdrücklich vor, dass die Anordnung der Stellplätze außerhalb des Grundstücks im Saaleweg und außerdem so erfolgen muss, dass sich daraus keine Belästigungen (lärm- und abgasseitig) für die Anwohner ergeben. Diese Stellplätze sind auch für den Lieferservice zu nutzen. Die Befahrung des Hofraums ist nur in Ausnahmesituationen gestattet.

Eine Außenbeschallung des Hofraums durch Tonträger verbietet die Baugenehmigung ausdrücklich. Die der Gaststätte zurechenbaren übrigen Geräuschimmissionen, insbesondere die Gespräche der Gäste in und vor der Gaststätte sowie im Biergarten, sind (auch) in einem allgemeinen Wohngebiet hinzunehmen. Nach der vom Antragsgegner angeordneten und vom Beigeladenen in Auftrag gegebenen schalltechnischen (prognostischen) Untersuchung des Ingenieurbüros für Bauakustik Schürer vom 12. November 2003 kann der für allgemeine Wohngebiete tagsüber geltende Immissionsrichtwert der TA Lärm von 40 dB(A) - auch bei Nutzung des Biergartens mit bis zu 20 Sitzplätzen - eingehalten werden. Der Senat sieht keinen Anlass, die Ergebnisse dieser Untersuchung im Rahmen der summarischen Prüfung in Zweifel zu ziehen. Zwar ist durch die Richtwerte für Schallpegel der TA Lärm nicht abschließend bestimmt, ob eine geltend gemachte Beeinträchtigung durch Geräusche von einer immissionsschutzrechtlich genehmigungsfreien Anlage die für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots maßgebliche Zumutbarkeitsschwelle überschreitet; vielmehr ist eine einzelfallbezogene Bewertung aller Auswirkungen vorzunehmen (BVerwG, Beschl. v. 22.09.1998 - BVerwG 4 B 88.98 -, BRS 60 Nr. 85). Allerdings können diese Richtwerte als Anhalt für solche Anlagen dienen (BVerwG, Beschl. v. 22.09.1998, a. a. O.). Es sind im konkreten Fall keine Umstände erkennbar, die die vom Gaststättenbetrieb ausgehenden Geräuschimmissionen trotz Einhaltung des für tagsüber geltenden Richtwerts als unzumutbar erscheinen ließen. Auch die Lage des Biergartens innerhalb eines umbauten Karrees lässt dies nicht befürchten. Die Schallreflexion an den umliegenden Gebäuden ist in der schalltechnischen Untersuchung bereits berücksichtigt. Die in der Baugenehmigung enthaltene (rechtswidrige) Nebenbestimmung, dass die für Mischgebiete geltenden Immissionsrichtwerte von 60 dB(A) tagsüber und 45 dB(A) nachts einzuhalten seien, ist durch den Widerspruchsbescheid vom 1. April 2004 rechtlich zutreffend dahin gehend abgeändert worden, dass nunmehr die für allgemeine Wohngebiete maßgeblichen Werte von 55 dB(A) tagsüber und 40 dB(A) nachts einzuhalten sind.

Soweit die schalltechnische Untersuchung vom 12. November 2003 zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der für die Nacht (ab 22.00 Uhr) geltende Immissionsrichtwert bei Nutzung des Biergartens deutlich überschritten werde, trägt dem die im Widerspruchsbescheid enthaltene Auflage Rechnung, nach der die Betriebszeiten auf 17.00 Uhr bis 22.00 Uhr täglich sowie an den Wochenenden und feiertags zusätzlich auf die Zeit von 11.30 Uhr bis 14.00 Uhr beschränkt werden.

Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass die Antragsteller unzumutbaren Geruchsbelästigungen ausgesetzt werden. Die Baugenehmigung sieht in einer weiteren Nebenbestimmung vor, dass die Be- oder Entlüftung und die Ableitung der Kaminluft so erfolgen muss, dass die Nachbarschaft keinen Geruchsbelästigungen ausgesetzt ist; dazu muss die Entlüftung über Dach führen und den First um mindestens einen Meter überragen. Die bei einem kleinen Gaststättenbetrieb allgemein auftretenden Gerüche stellen hingegen in der Regel keine unzumutbare Belästigung dar.

Für die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung ohne Bedeutung ist, ob der Beigeladenen die Nebenbestimmungen zur Baugenehmigung, insbesondere die Beschränkung der Betriebszeiten und die Sperrung der Hofzufahrt für Kraftfahrzeuge in der Vergangenheit eingehalten hat oder künftig einhalten wird. Verstöße gegen die Nebenbestimmungen sind von der Baugenehmigung nicht gedeckt; ihnen muss der Antragsgegner mit bauaufsichtlichen Maßnahmen begegnen. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Beigeladene eine der (dem Schutz der Antragsteller dienenden) Nebenbestimmungen gar nicht einhalten könnte. So liegt es hier aber nicht. Insbesondere die Beschränkung der Betriebszeit stellt eine allgemein gängige Auflage für Gaststätten dar.

Ende der Entscheidung

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