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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 05.02.2003
Aktenzeichen: 2 M 370/02
Rechtsgebiete: VwGO, BImSchG


Vorschriften:

VwGO § 80 VII 1
BImSchG § 4 I
1. Das Gericht kann seinen Beschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO auch dann ändern, wenn es inzwischen zu einer anderen Rechtsauffassung gelangt ist.

2. Nachbarschutz gegen Keime aus einer Putenmastanlage scheidet aus, wenn ihre Verbreitung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen lediglich nicht ausgeschlossen werden kann, indessen nicht verifiziert werden kann.

3. Zum Mindestabstand zwischen Putenmastanlage und Wohnbebauung.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 370/02

Datum: 05.02.2003

Tatbestand:

Der Antragssteller wendete sich gegen die der Beigeladenen vom Antragsgegner erteilten Baugenehmigungen vom 10.05.2001 zur Errichtung von zwei Truthühnermastställen für 19.500 Truthühner und vom 28.05.2001 von weiteren drei Truthühnermastställen mit ebenfalls 19.500 Tieren im Außenbereich ... . Die beiden Standorte sind 300 m voneinander und vom Wohnhaus des Antragstellers in der Ortschaft ... 570 und 860 m entfernt.

Gegen die Genehmigungen legte der Antragsteller rechtzeitig Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz. Das Verwaltungsgericht gab dem Antrag statt und ordnete die aufschiebende Wirkung der Widersprüche an. Fraglich sei, ob die VDI-Richtlinie 3472 als Orientierungshilfe herangezogen werden könne, da die von der Beigeladenen geplanten Ställe nicht ausschließlich eine Lüftungsanlage nach DIN 18910 aufwiesen. Darüber hinaus sei auch fraglich, ob, wie es die Richtlinie voraussetze, die größtmögliche Trockenheit und Sauberkeit in den Ställen gegeben sei. Ferner müsse aller Voraussicht nach durch ein Sachverständigengutachten geprüft werden, ob der vorhandene Abstand Gesundheitsgefährdungen für den Antragsteller ausschließe. Bei daher offenem Verfahrensausgang sei eine Interessenabwägung vorzunehmen. Das Interesse der Beigeladenen, die ihr erteilten Baugenehmigungen möglichst zeitnah ausnutzen zu können, sei geringer anzusehen als das Interesse des Antragstellers, bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache Geruchsbelästigungen hinnehmen zu müssen.

Mit Beschluss vom 26.10.2001 - 2 M 281/01 - hat der Senat über die Beschwerde wie folgt entschieden: Im Rahmen der nach §§ 80a Abs. 3 i.V.m.80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessensabwägung lasse sich eine vorläufige Begrenzung des Inhalts der Baugenehmigung rechtfertigen, dass die Beigeladene die Gebäude errichten dürfe, die Nutzung der Anlage aber bis zur Klärung der Immissionsbelastung suspendiert bleibe.

Am 19.02.2002 hat der Antragsteller im Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO beantragt, den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung insgesamt abzulehnen. Nach der Rechtskraft des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO habe sich die Sach- und Rechtslage verändert: Das Privatgutachten ... sei bei der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht hinreichend berücksichtigt worden. Nach der Entscheidung des Senats vom 26.10.2001 habe sich die Rechtsprechung höchstrichterlich hinreichend geklärt. Mit Beschluss vom 29.11.2001 habe das Nieders. Oberverwaltungsgericht entschieden, dass die VDI-Richtlinie 3471 für Schweinemastställe jedenfalls auf große Entfernungen auch dann anzuwenden sei, wenn diese Stallform nicht über eine Zwangs-, sondern über eine Schwerkraftlüftung verfüge. Dies könne auf Putenställe (VDI-Richtlinie 3472) übertragen werden. Das VG Oldenburg und bestätigend das Nieders. Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom 18.01.2002) hätten entschieden, dass bei einem Abstand von 150 Metern zwischen zwei Entenställen und einer Putenmastanlage eine Übertragbarkeit unwahrscheinlich sei. Ferner habe das OVG Schleswig in einem Beschluss vom 22.02.2002 die immissionsschutzrechtliche Genehmigung zum Betrieb einer Anlage von Putenhennen mit 20.100 Truthühnerplätzen in drei Offenställen für rechtmäßig gehalten. Bei Entfernungen zwischen der Wohnbebauung und Putenställen von 330 und 270 m könne bei den in umwelthygienischer Hinsicht geltend gemachten Beeinträchtigungen und Gefahren die immissionsschutzrechtliche Genehmigung nicht als nachbarrechtsverletzend angesehen werden. Dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zufolge seien schädliche Wirkungen von Luftverunreinigungen durch Stallluft in einer Entfernung von 430/370 m nicht nachgewiesen. Schließlich sei das im Widerspruchverfahren herangezogene Hygieneinstitut Sachsen-Anhalt zu der Stellungnahme gekommen, dass Gesundheitsgefährdungen durch Emissionen von Mikroorganismen, Allergenen und Gasen aus der Putenmastanlage nicht vorlägen. Hierbei sei auch ausschlaggebend, dass bei den vorhandenen Abständen von 500 m und mehr zu den nächsten Wohnbebauungen der zugrundezulegende Mindestabstand zur Wohnbebauung von 400 m (gemäß Kabinettsbeschluss vom 12.12.2001 zur TA Luft) hinreichend überschritten werde. Mikroorganismen unterlägen in der Außenluft einer Vielzahl von Einflüssen, die zu einer drastischen Keimminderung führten. Mit zunehmender Entfernung vom Stall nehme die Konzentration rasch ab. Bei einer Entfernung von ca. 250 m vom Stall bestehe bereits kein quantitativer Unterschied mehr zum natürlichen Keimgehalt der Außenluft.

Das Verwaltungsgericht hat den Änderungsantrag mit Beschluss vom 08.08.2002 abgelehnt. Eine Änderung der Sach- und Rechtlage sei weder durch die in der Antragsschrift benannten Entscheidungen anderer Gerichte noch durch die fachliche Stellungnahme des Hygieneinstituts Sachsen-Anhalt eingetreten. Die zu beurteilende Problematik bleibe unverändert. Endotoxine, die beim Zerfall von Bakterien freigesetzt würden und im Stallstaub über eine lange Zeit hinweg unverändert erhalten blieben, würden bei der Entstehung von Atemwegsbeschwerden bei Landwirten Bedeutung zugemessen. Die höchsten Konzentrationen an Endotoxinen würden in der Stallluft in der Geflügelhaltung gemessen. Wie weit Endotoxine in die Stallumgebung getragen und in welcher Entfernung vom Stall diese noch in gesundheitlich beachtenswerten Konzentrationen gefunden würden, sei derzeit nicht bekannt. Es bestehe nach wie vor Aufklärungsbedarf.

Gegen den Beschluss hat der Beigeladene rechtzeitig Beschwerde eingelegt.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Es kann dahin gestellt bleiben, ob das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO zu Recht verneint hat oder nicht.

Nach § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO kann das Gericht seine Entscheidung jedenfalls jederzeit ändern. Das von Amts wegen betriebene Verfahren ist nicht von näheren Voraussetzungen abhängig. Das Gericht kann jeden Grund zum Anlass nehmen, sofern dieser nur willkürfrei bestimmt wird. Eine Änderung kann daher auch erfolgen, wenn das Gericht mittlerweile zu einer anderen Rechtsauffassung gekommen ist (vgl. Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. § 80 RdNr. 134).

So liegt der Fall hier.

Der Senat geht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren weiter von der bereits dem Beschluss vom 26.10.2001 - 2 M 289/01 - zugrundgelegten wissenschaftlichen Erkenntnis von Prof. Dr. Hartung (Deutsche tierärztliche Wochenschrift 105 [1998], S.213 ff.) aus, wonach bislang nur unzureichend untersucht worden sei, wie weit Mikroorganismen, wie Bakterien, Pilze und Viren, vom Stall transportiert werden, weil die Keime in der Außenluft rasch absterben. Der Senat geht weiter von der wissenschaftlichen Erkenntnis aus, dass nach einer Entfernung von ca. 250 m vom Stall bei Anwendung üblicher kultureller Nachweisverfahren kein quantitativer Unterschied mehr zum Keimgehalt der Außenluft feststellbar ist (Hartung a. a. O.; fachliche Stellungnahme des deutschen Hygieneinstituts Sachsen-Anhalt in diesem Verfahren).

Dies besagt allerdings noch nicht, dass der Keimtransport aus Massentierhaltungsanlagen nach 250 Metern nicht mehr stattfindet; denn wie weit der Staub und Endotoxine der Stallluft getragen werden, ist nach dem Stand der derzeitigen Wissenschaft nicht bekannt (Hartung a. a. O., S.215 f.). Mit den bekannten Nachweisverfahren sind diese Keime ab 250 m lediglich nicht mehr nachweisbar. Die Behauptung des Antragstellers, dass die Keime aus der Stallluft auch noch nach mehr als 500 m Entfernung Wirkung zeigten, ist somit zwar nicht widerlegt - dafür könnten beispielsweise die Ergebnisse der sog. Morbus-Studie (Deutsche tierärztliche Wochenschrift 105 [1998], S. 235 ff.) sprechen, wonach in kinderärztlichen Praxen der Region Südoldenburg (einer "Hochburg" der Massentierhaltungsproduktion) es zu häufigeren Arztkontakten jüngerer Kinder mit Asthma bronchiale als in Hannover, Braunschweig und Verden gekommen sei -; es kann auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass durch künftige Forschungen möglicherweise weitergehende Gefährdungen durch die Massentierhaltung nachgewiesen werden.

Die Auffassung des Antragstellers lässt sich anderseits aber nach den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen schlechterdings auch nicht verifizieren; denn es gibt zur Zeit keine nachgewiesenen neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse, die für die Ansicht des Antragstellers sprechen.

Bei einer solchen Sachlage besteht aber keine Pflicht des Staates zur Vorsorge gegen rein hypothetische Gefährdungen. Die bau- oder immissionschutzrechtliche Genehmigungspraxis der Verwaltungsbehörden kann nur dann rechtlich beanstandet werden, wenn erkennbar wird, dass die menschliche Gesundheit dabei völlig unzureichend geschützt wird. Davon kann so lange kein Rede sein, als sich die Eignung und Erforderlichkeit größerer Abstände zwischen Wohnbebauung und rechtlich nach wie vor zulässiger Massentierhaltung mangels verlässlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse noch gar nicht abschätzen lässt. Es obliegt allein der Legislative und der Exekutive in einer solchen Situation der Ungewissheit, Vorsorgemaßnahmen sozusagen "ins Blaue hinein" zu ergreifen. Bei komplexen Gefährdungslagen, über die noch keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, kommt den staatlichen Einrichtungen ein angemessener Erfahrungs- und Anpassungsspielraum zu. In einer solchen Situation der Ungewissheit verlangt die staatliche Schutzpflicht von den Gerichten weder, ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Hilfe des Prozessrechts zur Durchsetzung zu verhelfen, noch, die Vorsorgeentscheidung des Staates unter Kontrolle zu halten und die Schutzeignung von Abständen und Grenzwerten jeweils nach dem aktuellen Stand der Forschung zu beurteilen. Es ist vielmehr Sache der staatlichen Gremien, den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft mit geeigneten Mitteln nach allen Seiten zu beobachten und zu bewerten, um gegebenenfalls weitergehende Schutzmaßnahmen zu ergreifen (BVerfG, Beschl. v. 28.02.2002 - 1 BvR 1676/01 -, NJW 2002, 1638-1640).

Das Bundeskabinett hat dementsprechend am 12.12.2001 beschlossen, dass in der TA Luft künftig ein Mindestabstand zwischen Wohnbebauung und Massentierhaltung von 400 m einzuhalten sei. Sogar diesen Abstand, der sich allein mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht zwingend belegen lässt, halten die hier angegriffenen Genehmigungen mit über 500 m Abstand ein.

Dieser Erkenntnisstand war allerdings bereits bei der Entscheidung des Senats vom 26.10.2001 im Verfahren 2 M 289/01 vorhanden; der Senat musste gleichwohl zum damaligen Zeitpunkt die Frage der Rechtmäßigkeit der Genehmigungen als offen ansehen, weil er in einem anderen Verfahren die Besonderheiten der Produktionsweise bei den sog. Lousiana-Ställen durch ein Fachgutachten hat klären lassen und dieses zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vorlag. Der Senat hat es deshalb damals für möglich gehalten, dass bei den noch nicht fachbegutachteten "Offenställen" die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verbreitung von Keimen aus der Geflügelproduktion anders bewertet werden müssten als bei einer herkömmlichen Fabrikationsweise.

Nunmehr liegen dem Senat die Gutachten in den Verfahren 2 L 5-7/00 vor; bei einer mit den hier zu beurteilenden Putenfabrikationsanlagen vergleichbaren Anlage (19.200 Putenplätze) und dem geringsten Abstand zur Wohnbebauung von 278 m kommt der Gutachter zu dem Ergebnis, dass von der geplanten Anlage keine Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten seien. Der Jahresgrenzwert auf der Immissionsseite betrage nach der TA Luft (2002) 40 µg/m³. Der von der EU-Kommission zur Diskussion vorgeschlagene Grenzwert ab 01.01.2005 belaufe sich auf 30 µg/m³. Die Simulation für die begutachtete Fabrikationsanlage liefere Ergebnisse im Nanogrammbereich. Nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen seien bei Endotoxin-Werten zwischen 0,01 und 0,1 ng/m³ (10 x 10-12 g/m³) Auswirkungen auf die Gesundheit wenig plausibel (Danuser B, Monn C [1999]: Endotoxine in der Arbeitswelt und Umwelt, Schweiz. Medizinische Wochenschrift 129, S. 475-483). Die Simulationen zeitigten beim Wirken der o. g. Anlage sowie zwei weiteren in unmittelbarer Nähe befindlichen Anlagen auf die Wohnbebauung Werte von 0,01 ng/m³.

Angesichts dieser Ergebnisse geht der Senat nunmehr im Rahmen des Bewertungsmaßstabes des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens davon aus, dass sich die der Beigeladenen erteilten Genehmigungen als offensichtlich rechtmäßig erweisen.

Die Kostenentscheidung für dieses (Änderungs-)Verfahren folgt aus den §§ 154 Abs. 1; 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertentscheidung beruht auf § 13 Abs. 1 S. 1 GKG.



Ende der Entscheidung

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