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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 03.11.2004
Aktenzeichen: 2 M 513/04
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB, BauNVO


Vorschriften:

VwGO § 42 II
VwGO § 80 V
BauGB § 34
BauGB § 212a I
BauNVO § 9 III
BauNVO § 15
1. Das Rechtsschutzinteresse für den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen den Ausbau einer Betriebswohnung im Industriegebiet entfällt nicht deshalb, weil die Wohnung bereits hergestellt ist, wenn als Beeinträchtigung gerade die Nutzung der Wohnung geltend gemacht ist.

2. Für die Zulässigkeit einer Betriebswohnung i. S. des § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO reicht aus, dass vernünftige, auf den konkreten Betrieb bezogene Gründe vorliegen, die eine Wohnung als notwendig erscheinen lassen.

Zur Ermessensausübung in diesen Fällen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 513/04

Datum: 03.11.2004

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. der Novellierung v. 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO -, diese in der jeweils gültigen Fassung, sowie auf §§ 154 Abs. 2; 162 Abs. 3 VwGO <Kosten> und auf §§ 47 Abs. 1; 52 Abs. 1; 53 Abs. 3 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. des Art. 1 des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes v. 05.05.2004 (BGBl I 718) - GKG - <Streitwert>. Der Senat orientiert sich insoweit an dem im Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 07./08.07.2004 in Leipzig beschlossenen Änderungen unter Nr. 9.7.1 angegeben Betrag, der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich zu halbieren ist.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bauschein der Antragsgegnerin vom 22.01.2003 zum Um- und Ausbau eines Teils der Werkhalle 1 zu einer Wohneinheit als Betriebswohnung auf dem im Flächennutzungsplan der Antragsgegnerin teils als Gewerbe- teils als Industriegebiet dargestellten Grundstück des Beigeladenen zu Unrecht abgelehnt.

1. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist das rechtliche Interesse der Antragstellerin an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht dadurch entfallen, dass der Um- und Ausbau der Betriebswohnung bereits fertiggestellt ist. Richtig ist zwar, dass in einem Fall der vorliegenden Art eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Nachbarwiderspruchs mit dem Ziel der Stilllegung des Bauvorhabens an sich nicht mehr in Betracht kommen kann; denn im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gemäß § 80a Abs. 3 VwGO gegen eine Baugenehmigung ist eine Abwägung zwischen dem Interesse des Bauherrn und der Allgemeinheit an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung einerseits und dem Interesse des Nachbarn an der vorläufigen Aussetzung der Baugenehmigung andererseits vorzunehmen, bei der auch zu berücksichtigen ist, dass der Gesetzgeber durch § 212a Abs. 1 des Baugesetzbuchs - BauGB - i. d. F. d. Bek. v. 27.08.1997 (BGBl I 2141, ber.: BGBl. 1998 I 137), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24.06.2004 (BGBl I 1359), dem Interesse an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung einen grundsätzlichen Vorrang eingeräumt hat. Eine solche Interessenabwägung wird unzweifelhaft mit Fertigstellung des Bauvorhabens sinnlos, weil selbst bei einem überwiegenden Interesse des Nachbarn ihm die Aussetzung des Vollzugs der Baugenehmigung oder gar ein Baustopp nichts mehr nützen würde, mit der Folge, dass in diesen Fällen eine Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig mangels eines rechtlich schützenswerten Interesses nicht mehr in Betracht kommt (OVG LSA, Beschl. v. 11.03.1994 - 1 M 26/93 -; OVG Bbg, Beschl. v. 22.11.2002 - 3 B 319/02 -, BRS 65 Nr. 199; OVG NW, Beschl. v. 13.07.1995 - 11 B 1543/95 -, BRS 57 Nr. 135).

Vorliegend macht die Antragstellerin aber ausweislich ihres erstinstanzlichen Vorbringens in erster Linie geltend, dass sie durch die genehmigte Nutzung der Betriebswohnung in ihren Nachbarrechten beeinträchtigt werde. In einem solchen Fall besteht für den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch nach Fertigstellung der Baumaßnahme ein rechtliches Interesse, da das Recht zur Nutzung einer baulichen Anlage von der Vollziehbarkeit der Baugenehmigung abhängt und hier die von der Antragstellerin beanstandete Nutzung der Betriebswohnung fortdauert (so in einem ähnlich gelagerten Fall auch OVG NW, Beschl. v. 13.07.1995, a. a. O.).

2. Die Beschwerde der Antragstellerin hat auch in der Sache Erfolg. Die nach §§ 80a; 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu ihren Gunsten aus; denn bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmenden summarischen Prüfung erweist sich die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung als offensichtlich rechtswidrig.

Die planungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens beurteilt sich vorliegend nach § 29 Abs. 1 i. V. m. § 34 des Baugesetzbuchs - BauGB - i. d. F. d. Bek. v. 27.08.1997 (BGBl I 2141, ber.: BGBl. 1998 I 137), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24.06.2004 (BGBl I 1359), da ein rechtsgültiger qualifizierter Bebauungsplan nicht vorhanden ist (§ 30 BauGB). Innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB). Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der Baunutzungsverordnung bezeichnet sind, beurteilt sich die Zulässigkeit des Bauvorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Verordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre (§ 34 Abs. 2 Satz 1 BauGB).

Unter Beachtung dieser rechtlichen Vorgaben dürfte die Eigenart der näheren Umgebung des streitgegenständlichen Baugebiets hier bei summarischer Prüfung gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 9 der Baunutzungsverordnung i. d. F. d. Bek. v. 23.01.1990 (BGBl I 132) - BauNVO -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.04.1993 (BGBl I 466), einem Industriegebiet entsprechen; denn in unmittelbarer Nähe des Baugrundstücks befindet sich u. a. der Sitz der F.-GmbH, die einen Speditions-, Logistik- und Lagerbetrieb betreibt, der angesichts der von dem Betrieb ausgehenden Immissionen (Einsatz von 3000 Lastkraftwagen; 24-Stunden-Betrieb; tägliche Zu- und Abfahrt von 150 Fahrzeugen) nur in einem Industriegebiet zulässig sein dürfte; insoweit besteht auch unter den Beteiligten kein Streit.

Nach § 9 Abs. 1 BauNVO dienen Industriegebiete ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben, und zwar vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind. Ausnahmsweise können nach § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter, die dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet sind, zugelassen werden. Bauplanungsrechtlich erforderlich ist sonach eine funktionale Zuordnung solcher Wohnungen zum jeweiligen Betrieb. Diese Zuordnung besteht, soweit es sich um Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonal handelt, wenn diese Personen wegen der Art des Betriebes oder zur Wartung von Betriebseinrichtungen oder aus Sicherheitsgründen ständig erreichbar sein müssen, und deswegen das Wohnen solcher Personen nahe dem Betrieb erforderlich ist. Für Betriebsleiter und Betriebsinhaber können wegen ihrer engen Bindungen an den Betrieb Wohnungen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück auch dann zulässig sein, wenn der Betrieb ihre ständige Einsatzbereitschaft nicht zwingend erfordert; aber auch dann muss ihr Wohnen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück mit Rücksicht auf Art und Größe des Betriebes aus betrieblichen Gründen objektiv sinnvoll sein (BVerwG, Beschl. v. 22.06.1999 - BVerwG 4 B 46.99 -, BRS 62 Nr. 78; Urt. v. 16.03.1984 - BVerwG 4 C 50.80 -, NVwZ 1984, 511). Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist davon auszugehen, dass es zunächst grundsätzlich Aufgabe des Betriebsinhabers ist, den Betrieb nach den betrieblichen Erfordernissen einschließlich seiner Betriebsabläufe zu organisieren; das schließt den Einsatz der Mitarbeiter ein. Es reicht aus, dass vernünftige, auf den konkreten Betrieb bezogene Gründe vorliegen, die eine Betriebswohnung als notwendig erscheinen lassen. Wann dies der Fall ist, lässt sich nicht allgemeinverbindlich formulieren; maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles.

Die Errichtung der Betriebswohnung durch den Beigeladenen ist bei summarischer Prüfung und mit Rücksicht auf Art und Größe des Betriebs objektiv sinnvoll. Sie erfolgt auch nicht aus betriebsfremden Zwecken. Der Beigeladene hat unwidersprochen vorgetragen, dass - betriebsbedingt - auf dem Grundstück in erheblichem Maße eine Lagerung von unterschiedlichstem, zum Teil sehr wertvollem Umzugsgut (Klaviere und andere Musikinstrumente, Tresore, Maschinen, Möbel und Kücheneinrichtungen, Kunstgegenstände) stattfindet, dessen Sicherung gegen Einbruchsdiebstähle durch das Wohnen und den Aufenthalt auf dem Betriebsgrundstück auch zur Nachtzeit am effektivsten gewährleistet ist. Auch ist es nicht fernliegend, dass der Betrieb eines Umzugsunternehmens die ständige Anwesenheit des Betriebsinhabers auf dem Grundstück erfordert; denn wie der Beigeladene vorträgt, muss das Umzugsgut häufig länger ein- und ausgeladen werden, so dass die Rückkehr der Fahrzeuge von den Umzugsfahrten nicht im Vorhinein bestimmbar ist. Bei Rückkehr der Mitarbeiter zu unterschiedlichen Zeiten muss zudem das Entladen und Einlagern des Umzugsguts organisiert werden. Auch eine Kontrolle der eingesetzten Transportfahrzeuge hat zur Gewährleistung der Einsatzbereitschaft am nächsten Tag noch am selben Tag oder Abend zu erfolgen, so dass auch aus diesem Grund die Anwesenheit des Betriebsinhabers notwendig ist.

Liegen somit die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO vor, so hat der Beigeladene einen Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens, die auch die Interessen des Nachbarn - hier der Antragstellerin - berücksichtigen muss. Daran fehlt es; denn die Baugenehmigung vom 22.01. 2003, die den Um- und Ausbau eines Teils der Werkhalle zu einer Wohneinheit "als Betriebswohnung" genehmigt, lässt eine Ermessensbestätigung in diesem Sinne nicht erkennen; insbesondere hat die Antragsgegnerin bei der Zulassung der Betriebswohnung gemäß § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO nicht geprüft, ob sie zu einer Behinderung der im Industriegebiet zulässigen immissionsträchtigen gewerblichen Nutzung der Nachbargrundstücke führen kann. Zwar kann der Bewohner einer nach § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO genehmigten Betriebswohnung nicht verlangen, nur solchen Immissionen ausgesetzt zu werden, die in einem Wohngebiet zulässig sind. Vielmehr gelten für eine Betriebswohnung grundsätzlich die Immissionsgrenzwerte, die im gesamten Gebiet zulässig sind. Dieser Umstand hat allerdings nicht zur Folge, dass das Ermessen der Antragsgegnerin nunmehr auf Null reduziert ist und sie die beantragte Baugenehmigung zwingend zu erteilen hat. Das Gebot der Rücksichtnahme (§ 15 BauNVO) kann nämlich dazu führen, dass der Betrieb oder eine geplante Erweiterung des Gewerbebetriebs der Antragstellerin die Nutzung eines benachbarten Gebäudes zu Wohnzwecken in Rechnung stellen muss; denn trotz der grundsätzlichen Gleichstellung von Betriebswohnungen mit den übrigen baulichen Anlagen im Industriegebiet kann die in § 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BauGB enthaltene Grundregel des Baurechts, dass bauliche Anlagen den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse entsprechen müssen, im Einzelfall eine unterschiedliche Schutzbedürftigkeit für die Menschen, die auf dem Nachbargrundstück wohnen und arbeiten, begründen; denn ungesunde Wohnverhältnisse dürfen auch in einem Industriegebiet nicht entstehen (BVerwG, Urt. v. 16.03.1984, a. a. O.; NdsOVG, Beschl. v. 10.11.1982 - 6 B 69/82 -, BRS 39 Nr. 51).

Diese Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtungsweise bei der Anwendung des Ausnahmetatbestands des § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO hat die Antragsgegnerin bei der Erteilung der Baugenehmigung überhaupt nicht berücksichtigt, so dass hier schon fraglich ist, ob sie überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat. Aber selbst wenn man das Vorbringen der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren als "nachgeschobene" Ermessensbetätigung versteht, führt dies zu keinem anderen Ergebnis; denn auch mit ihrem Vortrag, "die Bewohner müssen grundsätzlich die üblicherweise im Industriegebiet auftretenden zulässigen Störungen hinnehmen. Grundsätzlich haben gewerbliche Betriebe, die sich im Rahmen des zulässigen Störgrades des Industriegebietes halten, keine Einschränkungen zu befürchten, wenn störempfindliche Nutzungen zugelassen werden", hat die Antragsgegnerin dem Ausnahmecharakter der Zulassung von Betriebswohnungen nicht hinreichend Rechnung getragen; denn ihre Auslegung des § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO läuft darauf hinaus, dass Betriebswohnungen immer zulässig seien. Damit legt die Antragsgegnerin ihrer Entscheidung - wie oben ausgeführt - eine falsche Rechtsauffassung zugrunde, mit der Folge, dass sie die schutzwürdigen Interessen der Antragstellerin nicht in vollem Umfang berücksichtigt hat.

Ende der Entscheidung

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