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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 21.04.2008
Aktenzeichen: 2 M 94/08
Rechtsgebiete: NatSchG LSA, LuftVG


Vorschriften:

NatSchG LSA § 56 Abs. 4 Nr. 5
NatSchG LSA § 45
LuftVG 30 Abs. 1
1. Die Bundesrepublik Deutschland - Bundesministerium der Verteidigung - muss vor der Durchführung von Tiefflügen der Bundeswehr eine als "Befreiung" im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA zu qualifizierende Abweichungsentscheidung nach § 45 Abs. 3 NatSchG LSA treffen, wenn die Flüge im Sinne des § 45 Abs. 2 NatSchG LSA zu erheblichen Beeinträchtigungen eines Vogelschutzgebiets führen können.

2. Einem anerkannten Naturschutzverband ist vor einer solchen Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, soweit Auswirkungen auf Natur- und Landschaftsschutz nicht nur im geringfügigen Umfang oder Ausmaß zu erwarten sind. § 30 Abs. 1 LuftVG setzt dieses gesetzlich eingeräumte Beteiligungsrecht nicht außer Kraft.

3. Wird eine solche Beteiligung unterlassen und führt dies dazu, dass durch tatsächliches Handeln eine Vereitelung des Mitwirkungsrechtes droht, kann der Naturschutzverband beanspruchen, dass alle Maßnahmen unterlassen werden, die ohne das an sich notwendig Beteiligungsverfahren durchgeführt werden (Fortführung der Rechtsprechung de Senats, vgl. Beschl. v. 08.01.2007 - 2 M 358/06 -, NuR 2007, 395).


Gründe:

Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde ist begründet, soweit sich der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Antragsgegnerin zu 1 richtet.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 123 VwGO liegen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts vor.

Der für eine einstweilige Anordnung erforderliche Anordnungsgrund ist gegeben, weil mit den streitigen Tiefflügen bereits begonnen wurde und daher eine Vereitelung der Beteiligungsrechte des Antragstellers durch die Schaffung vollendeter Tatsachen droht.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung steht ihm ein vorläufiger Anspruch auf Einstellung der Tiefflüge zu, weil es die Antragsgegnerin zu 1 versäumt hat, ihm vor dieser Maßnahme Gelegenheit zur Stellungnahme im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA zu geben. Nach dieser Vorschrift ist einem nach Abs. 1 anerkannten Verein - wie hier dem Antragsteller - vor Befreiungen von Verboten und Geboten zum Schutz von Naturschutzgebieten, Nationalparken, Biosphärenreservaten und sonstigen Schutzgebieten im Rahmen des § 44 Abs. 3 Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben, soweit Auswirkungen auf Natur- und Landschaftsschutz nicht nur im geringfügigen Umfang oder Ausmaß zu erwarten sind. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 08.01.2007 - 2 M 358/06 - NuR 2007, 395) ist der Begriff der "Befreiung" im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA weiter auszulegen als der entsprechende Begriff im Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 NatSchG LSA. Unter "Befreiungen" im Sinne der erstgenannten Vorschrift sind auch Ausnahme- und Abweichungsentscheidungen nach § 45 Abs. 3 NatSchG LSA zu verstehen. Der Antragsteller beruft sich mit Erfolg auf die Verletzung eines Beteiligungsrechts nach § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA, weil die Antragsgegnerin zu 1 nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung vor der Durchführung der Tiefflüge eine als "Befreiung" im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA zu qualifizierende Abweichungsentscheidung nach § 45 Abs. 3 NatSchG LSA treffen muss. Nach § 45 Abs. 1 NatSchG LSA sind Projekte vor ihrer Zulassung oder Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines Gebietes von gemeinschaftlicher Bedeutung oder eines Europäischen Vogelschutzgebiets zu prüfen. Ergibt die Prüfung der Verträglichkeit, dass das Projekt zu erheblichen Beeinträchtigungen eines solchen Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen kann, ist es unzulässig (§ 45 Abs. 2 NatSchG LSA). Gemäß § 45 Abs. 3 NatSchG LSA darf ein Projekt abweichend von Abs. 2 nur zugelassen oder durchgeführt werden, soweit es - 1. - aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art, notwendig ist und - 2. - zumutbare Alternativen, den mit dem Projekt verfolgten Zweck an anderer Stelle ohne oder mit geringeren Beeinträchtigungen zu erreichen, nicht gegeben sind.

Die Voraussetzungen für das Erfordernis einer Abweichungsentscheidung nach § 45 Abs. 3 NatSchG LSA sind nach der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung gegeben. Bei den streitigen Tiefflügen der Antragsgegnerin handelt es sich um ein "Projekt" im Sinne des § 45 NatSchG LSA. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 12 a) NatSchG LSA zählen zu den "Projekten" im Sinne dieses Gesetzes Vorhaben und Maßnahmen innerhalb eines Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung oder eines Europäischen Vogelschutzgebiets sowie Eingriffe in Natur und Landschaft im Sinne des § 18 NatSchG LSA, sofern sie einer behördlichen Entscheidung oder einer Anzeige an eine Behörde bedürfen oder von einer Behörde durchgeführt werden. Dazu zählen auch Tiefflugübungen (vgl. Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch, BNatSchG, 2. Aufl., § 10 RdNr. 12). Die Flüge führen über das Europäische Vogelschutzgebiet SPA "Colbitz-Letzlinger Heide". Es spricht auch Überwiegendes dafür, dass die Tiefflugübungen zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebietes im Sinne von § 45 Abs. 2 NatSchG LSA führen können. Der Antragsteller und die Antragsgegnerin haben zwar teilweise unterschiedliche Angaben darüber gemacht, welche (geschützten) Vogelarten sich in diesem Gebiet befinden bzw. welche dort im maßgeblichen Zeitraum der Flugübungen brüten. Aber auch die Antragsgegnerin räumt unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Amts für Geoinformationswesen der Bundeswehr vom 21.04.2008 ein, dass derzeit zumindest Mittelspecht, Schwarzspecht, Kranich, Rotmilan, Schwarzmilan und Heidelerche betroffen seien. Ob - wie der Antragsteller vorträgt - auch andere geschützte Vogelarten beeinträchtigt werden, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in Anbetracht der Kürze der Zeit nicht verlässlich bewertet werden. Gleiches gilt für die Frage, welche Auswirkungen die Tiefflüge konkret auf das Verhalten der einzelnen Vogelarten haben. Diese Fragen bedürfen indes keiner abschließenden Bewertung. Allein der Umstand, dass nicht wenige Vogelarten derzeit im Bereich des Tieffluggebiets brüten oder sich zumindest dorthin begeben, rechtfertigen eine für das Eilverfahren hinreichende Wahrscheinlichkeit dahingehend, dass das Projekt im Sinne des § 45 Abs. 2 NatSchG LSA zu erheblichen Beeinträchtigungen führen "k a n n". Im Übrigen erscheint der mögliche Schaden für Natur und Umwelt bei einer Schaffung vollendeter Tatsachen durch Tiefflüge größer als der Schaden, der durch eine Verschiebung der Übungen nach einer Prüfung der Verträglichkeit des Projekts mit den Erhaltungszielen der Schutzgebiete unter Beteiligung des Antragstellers und der damit einhergehenden Verzögerungen zu erwarten ist.

Können die streitgegenständlichen Übungsflüge mithin zu erheblichen Beeinträchtigungen im Sinne des § 45 Abs. 2 NatSchG LSA führen, ist auch davon auszugehen, dass er im Sinne des § 56 Abs. 4 NatSchG LSA Auswirkungen auf Natur- und Landschaftsschutz in nicht nur geringfügigem Umfang oder Ausmaß erwarten lässt.

Die Beteiligung des Antragstellers ist auch nicht in Anbetracht des § 30 Abs. 1 Sätze 1 und 3 LuftVG entbehrlich. Danach darf u. a. die Bundeswehr von den Vorschriften des Ersten Abschnitts dieses Gesetzes - ausgenommen die §§ 12, 13 und 15 bis 19 - und den zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften abweichen, soweit dies zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben unter Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist. Von den Vorschriften über das Verhalten im Luftraum darf nur abgewichen werden, soweit dies zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben zwingend notwendig ist. Der Antragsgegnerin zu 1 ist zwar darin zu folgen, dass ihr bei der Entscheidung, wann und in welchem Umfang eine militärische Tiefflugübung notwendig ist, ein weiter und nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht und kein Verwaltungsverfahren durchzuführen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.1994 - 11 C 18.93 -, BVerwGE 97, 203). Diese Besonderheiten vermögen aber das gesetzlich eingeräumte Beteiligungsrecht des Antragstellers nicht außer Kraft zu setzen. Ein naturschutzrechtlich zu beurteilendes "Projekt" richtet sich insbesondere nicht danach, ob ein Verwaltungsverfahren durchzuführen ist. Wie bereits dargelegt, liegt ein solches "Projekt" gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 12 a) NatSchG LSA auch dann vor, wenn ein Vorhaben oder eine Maßnahme innerhalb eines Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung oder eines Europäischen Vogelschutzgebiets von einer Behörde - wie beispielsweise der Antragsgegnerin zu 1 - schlicht "durchgeführt" wird.

Als Folge des fehlenden Befreiungsverfahrens und der deshalb auch fehlenden Beteiligung des Antragstellers ist diesem ein vorläufiger Unterlassungsanspruch hinsichtlich der geplanten Maßnahme zuzusprechen. Wird ein erforderliches naturschutzrechtliches Befreiungsverfahren unterlassen und führt dies dazu, dass durch tatsächliches Handeln die Schaffung vollendeter Tatsachen und eine Vereitelung des im Befreiungsverfahren bestehenden Mitwirkungsrechtes eines Naturschutzverbandes droht, kann dieser Verband beanspruchen, dass die zuständige Behörde alle Maßnahmen unterlässt, die ohne das an sich notwendige Beteiligungsverfahren durchgeführt werden (vgl. Beschl. d. Senats v. 08.01.2007, a. a. O.). Nach § 45 Abs. 6 NatSchG LSA ist für die - hier unterbliebene - Abweichungsentscheidung die Behörde zuständig, die das Projekt genehmigt oder in sonstiger Weise über die Durchführung des Vorhabens entscheidet. Der Antragsgegnerin zu 1 ist danach als derjenigen Behörde, die die Tiefflüge durchführt, die aus dem Tenor ersichtliche Einstellung der Flüge solange aufzugeben, bis der Antragsteller Gelegenheit erhalten hat, seine Beteiligungsrechte im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG i. V. m. §§ 44 Abs. 3 und der nach § 45 Abs. 1 bis 3 NatSchG LSA durchzuführenden Prüfung wahrzunehmen.

Dagegen bleiben die gegen die Antragsgegner zu 2 und 3 gerichteten Anträge ohne Erfolg, da sie die Tiefflüge weder selbst durchführen noch genehmigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 2, 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG.

Ende der Entscheidung

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