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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 07.11.2008
Aktenzeichen: 4 L 240/07
Rechtsgebiete: AO, LSA-KAG, VwGO


Vorschriften:

AO § 237
AO § 240 Abs. 1 S. 1
LSA-KAG § 13 Abs. 1 Nr. 5 b
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80b
1. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Abgabenbescheid lässt die Säumnis i. S. d. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO rückwirkend ab dem Zeitpunkt entfallen, ab dem nach dem Tenor und der Begründung die aufschiebende Wirkung (rückwirkend) angeordnet worden ist. Lässt sich weder dem Tenor noch der Begründung der gerichtlichen Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine ausdrückliche Feststellung zur Rückwirkung entnehmen, wirkt der Beschluss auch im Rahmen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO grundsätzlich zurück bis zum Erlass des angefochtenen Bescheides.

2. Der Wegfall des Suspensiveffekts bewirkt nicht, dass der Gemeinde nachträglich eine Durchsetzung der Heranziehung zur Abgabenzahlung durch die Erhebung von Säumniszuschlägen gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO ermöglicht wird.


Gründe:

Der statthafte Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.

I. Entgegen der Auffassung der Beklagten bestehen an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung keine ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Festsetzung von Säumniszuschlägen für den Zeitraum vom 30. Dezember 2002 bis zum 11. März 2004 rechtswidrig ist, weil der Tatbestand des nach § 13 Abs. 1 Nr. 5 b) KAG LSA anwendbaren § 240 Abs. 1 Satz 1 AO nicht erfüllt ist. Danach sind Säumniszuschläge zu entrichten, wenn ein Beitrag nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird. Voraussetzung hierfür ist nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urt. v. 15.05.2007 - 4 L 522/04 -), dass der Kläger in dem betreffenden Zeitraum überhaupt zur Beitragszahlung herangezogen werden konnte. Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall; denn die Beklagte konnte von ihm die Entrichtung des Straßenausbaubeitrags nicht verlangen, weil das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 11. März 2004 - 2 B 111/03 DE - gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des gegen den Beitragsbescheid gerichteten Widerspruchs des Klägers angeordnet hatte. Dabei kann dahinstehen, ob die aufschiebende Wirkung zur Hemmung der (inneren) Wirksamkeit des Beitragsbescheids oder lediglich zur Hemmung seiner Vollziehbarkeit führt (vgl. zum Streitstand Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80 RdNr. 72 ff.). Auch wenn man der Anordnung der aufschiebenden Wirkung nur die Funktion der Vollziehbarkeitshemmung beimisst, durfte die Beklagte die Beitragsforderung nicht durchsetzen; denn der Begriff der Vollziehbarkeitshemmung ist weit zu verstehen. Er erfasst jede Art der Realisierung des Verwaltungsakts, gegen den ein Hauptsacherechtsbehelf aufschiebende Wirkung entfaltet (so auch BFH, Beschl. v. 10.12.1986 - I B 121/86 -, BFHE 149, 6 [8]; NdsOVG, Urt. v. 14.03.1989 - 9 A 57/88 -, NVwZ 1990, 270 f.; SächsOVG, Urt. v. 12.10.2005 - 5 B 471/04 -, NVwZ-RR 2007, 54 ff.).

1. Ohne Erfolg wendet der Beklagte dagegen ein, der Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen einen belastenden Verwaltungsakt anordne, könne grundsätzlich nur ex nunc wirken.

Der Senat ist bereits in seinem Urteil vom 15. Mai 2007 unter Auseinandersetzung mit der in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen Gegenmeinung (BayVGH, Beschl. v. 25.08.1989 - 23 CS 89.02090 und 23 CS 89.02092 -, BayVBl 1990, 757 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 80 Rdnr. 34; vgl. auch BFH, Beschl. v. 10.05.2002 - VII B 244/01 -, Urt. v. 30.03.1993 - VII R 37/92 - und Urt. v. 30. 03.1993 - VII R 37/92 -, jeweils zit. nach JURIS zu § 69 Abs. 2 und 3 FGO) zu der Auffassung gelangt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Abgabenbescheid gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO die Säumnis i. S. d. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO rückwirkend ab dem Zeitpunkt entfallen lasse, ab dem nach dem Tenor und der Begründung die aufschiebende Wirkung (rückwirkend) angeordnet worden sei. Lasse sich weder dem Tenor noch der Begründung der gerichtlichen Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO - wie hier - eine ausdrückliche Feststellung zur Rückwirkung entnehmen, wirke der Beschluss auch im Rahmen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO grundsätzlich zurück bis zum Erlass des angefochtenen Bescheides (so auch NdsOVG, Urt. v. 14.03.1989, a. a. O., unter ausdrücklicher Aufgabe des früheren Rechtsstandpunkts; SächsOVG, Urt. v. 12.10.2005, a. a. O.; BayVGH, Beschl. v. 02.04.1985 - 23 CS 85 A.361, 23 CE 84 A.2998, 23 CE 84 A.2900 -, NVwZ 1987, 63; Driehaus, Kommunalabgabenrecht Bd. III, § 12 Rdnr. 82; Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 80 Rdnr. 170; wohl auch OVG MV, Urt. v. 20.05.2003 - 1 L 137/02 -, NVwZ-RR 2004, 212 f.).

An dieser Auffassung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Beklagten fest; insbesondere haben weder das Verwaltungsgericht noch der erkennende Senat den rückwirkenden Entfall einer Voraussetzung des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO schlicht unterstellt, sondern ihre gegenteilige Auffassung durch Auslegung der maßgeblichen Normen (§§ 80 VwGO, 240 AO) begründet. Dazu hat der Senat im Einzelnen ausgeführt, dass die Systematik der Absätze 1, 2 und 5 des § 80 VwGO sowie die Regelung des § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO nur den Schluss zuließen, dass ohne anders lautende Entscheidung des Verwaltungsgerichts durch die Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs regelmäßig eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes erreicht werden solle. Es sei nicht erkennbar, dass speziell für die Fälle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO eine Abweichung vorliege.

2. Entgegen der Auffassung der Beklagten eröffnet auch die Regelung des § 80b Abs. 1 Satz 1 1. Alt. VwGO (eingefügt durch Art. 1 Nr. 13 des 6. VwGOÄndG vom 01.11.1996 [BGBl. I S. 1626], in Kraft getreten am 01.01.1997) nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit des angefochtenen Abgabenbescheides nicht erneut den Anwendungsbereich des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO.

Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 15. Mai 2007 ausgeführt hat, wird durch die rückwirkende Anordnung der aufschiebenden Wirkung festgestellt, dass eine Durchsetzung der Heranziehung zur Abgabenzahlung mit Zwangsmitteln in diesem Zeitraum nicht erfolgen durfte. Damit entfällt rückwirkend auch eine Voraussetzung des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO, der von einer Verpflichtung zur (sofortigen) Zahlung und der Anwendbarkeit von Zwangsmitteln hinsichtlich des zugrunde liegenden Abgabenbescheides ausgeht. Denn die Säumniszuschläge sollen den Abgabenpflichtigen gerade als Druckmittel zur Zahlung bewegen, so dass es nicht systemgerecht wäre und dem Sinn und Zweck des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO widersprechen würde, wenn die Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO insoweit keine Rechtsfolgen auslösen würde (vgl. dazu auch NdsOVG, Urt. v. 14.03.1989, a. a. O.).

Ausgehend von diesen Erwägungen mag das Ende der aufschiebenden Wirkung ex tunc zwar dazu führen, dass die materielle Rechtslage wieder an die Stelle der durch die aufschiebende Wirkung herbeigeführten Zwischenregelung tritt (Schoch, a. a. O., § 80 Rdnr. 103; Schmidt in: Eyermann, VwGO, 10. Aufl. 1998, § 80 Rdnr. 16), d. h. der Beitragsschuldner zur sofortigen Zahlung des geltend gemachten Straßenausbaubeitrags verpflichtet ist. Indes kann der Wegfall des Suspensiveffekts nicht bewirken, dass der Gemeinde nachträglich eine Durchsetzung der Heranziehung zur Abgabenzahlung durch die Erhebung von Säumniszuschlägen gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO ermöglicht wird. Ein solches Verständnis verkennt, dass Säumniszuschläge als Druckmittel, das dem Zwangsgeld verwandt ist, eingesetzt werden, um den Abgabenschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anzuhalten. War der Abgabenschuldner aber infolge eines gerichtlich angeordneten Suspensiveffekts für einen bestimmten Zeitraum zur Abgabenzahlung nicht verpflichtet, scheidet die nachträgliche Anwendung eines Druckmittels - hier durch die Geltendmachung von Säumniszuschlägen - aus (vgl. auch BFH, Urt. v. 14.09.1978 - 5 R 35/72 -, BStBl. II, S. 58).

3. Dem Einwand der Beklagten, die Klage habe wegen der Verzinsungspflicht i. S. d. §§ 237 Abs. 1 Satz 1, 238 AO nur in Höhe von 1.201,50 Euro Erfolg haben dürfen, kann schon deswegen nicht gefolgt werden, weil das Gericht Aussetzungszinsen nicht von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Vielmehr hat die Beklagte die Zinsen vorab durch Bescheid (§§ 155 Abs. 1, 239 Abs. 1 Satz 1 AO) festzusetzen. Dass ein solcher Bescheid hier von der Beklagten erlassen worden ist, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

II. Die von der Beklagten als grundsätzlich bedeutsam erachtete Fragestellung, "ob das ex tunc wirkende Ende der aufschiebenden Wirkung die Säumnis wieder aufleben lässt, so dass folglich Säumniszuschläge entstehen können", rechtfertigt die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) schon deswegen nicht, weil sich diese Frage - wie oben bereits ausgeführt - ausgehend von Sinn und Zweck der §§ 80b VwGO, 240 AO dahingehend beantworten lässt, dass der Wegfall des Suspensiveffekts nicht bewirkt, dass der Gemeinde nachträglich eine Durchsetzung der Heranziehung zur Abgabenzahlung durch die Erhebung von Säumniszuschlägen gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO ermöglicht wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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