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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Urteil verkündet am 15.05.2007
Aktenzeichen: 4 L 522/04
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO § 240 Abs. 1 S. 1
AO § 240 Abs. 1 S. 4
1. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruches gegen einen Abgabenbescheid i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO lässt die Säumnis i.S.d. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO rückwirkend ab dem Zeitpunkt entfallen, ab dem nach dem Tenor und der Begründung die aufschiebende Wirkung (rückwirkend) angeordnet worden ist.

2. Falls sich weder dem Tenor noch der Begründung der gerichtlichen Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine ausdrückliche Feststellung zur Rückwirkung entnehmen lässt, wirkt der Beschluss auch im Rahmen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO grundsätzlich zurück bis zum Erlass des angefochtenen Bescheides.


Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Erhebung von Säumniszuschlägen.

Die Beklagte zog die Klägerin mit einem Bescheid vom 5. September 2001 zu einem Erschließungsbeitrag heran. Die Klägerin erhob Widerspruch und beantragte am 10. Oktober 2001 beim Beklagten die Aussetzung der Vollziehung, Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2002 zurück und lehnte gleichzeitig den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Am 16. Juli 2002 beantragte die Klägerin die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 80 Abs. 5 VwGO. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab, das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt ordnete mit Beschluss vom 26. September 2003 (- 2 M 487/02 -) "die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Heranziehungsbescheid vom 5. September 2001" an.

In einer Mahnung vom 15. November 2002 an die Klägerin hatte die Beklagte neben dem Erschließungsbeitrag auch unter dem Punkt "Nebenforderungen" Säumniszuschläge in Höhe von 26.040,- € sowie Mahngebühren von 870,- € aufgeführt. Einen Widerspruch der Klägerin gegen diese Nebenleistungen hatte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2003 zurückgewiesen. Der Erschließungsbeitrag sei seit dem 8. Oktober 2001 fällig gewesen.

Die Klägerin hat am 26. Februar 2003 gegen die Festsetzung von Säumniszuschlägen und Mahngebühren Klage erhoben, der das Verwaltungsgericht Halle auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2004 hinsichtlich der Mahngebühren stattgab sowie hinsichtlich der Säumniszuschläge, soweit sie einen Betrag von 18.600,- € überstiegen. Denn die Säumnis sei für die letzten vier Monate durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Klägerin gegen die sofortige Vollziehung entfallen. Wenn die aufschiebende Wirkung gegen die Erhebung einer § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO unterfallenden Abgabe ohne zeitliche Einschränkung angeordnet worden sei, trete die aufschiebende Wirkung im Hinblick auf die Entstehung von Säumniszuschlägen mit dem Zeitpunkt der Stellung des einstweiligen Rechtsschutzantrages bei Gericht ein.

Mit Beschluss vom 24. Januar 2007 hat der erkennende Senat auf Antrag der Klägerin die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, soweit die Klage abgewiesen worden ist.

Die Klägerin macht zur Begründung ihrer fristgerecht eingelegten Berufung geltend, die Säumnis entfalle bei einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO durch ein Verwaltungsgericht bei einer Abgabe nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO von Anfang an. Denn durch die Anordnung entfalle rückwirkend die von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO dem Bescheid vermittelte vorläufige Vollziehbarkeit und es trete ein dem § 80 Abs. 1 VwGO vergleichbarer Zustand ein.

Sie beantragt sinngemäß,

das auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2004 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Halle - 2. Kammer - abzuändern und den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2003 in vollem Umfang aufzuheben,

sowie die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat im Berufungsverfahren keine Stellungnahme abgegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des beigezogenen Verwaltungsvorganges der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben (vgl. § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage zu Unrecht teilweise abgewiesen. Der feststellende Bescheid der Beklagten ist hinsichtlich der Säumniszuschläge insgesamt rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Der Zulässigkeit der erhobenen Anfechtungsklage steht nicht entgegen, dass es sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bei der streitbefangenen Mahnung der Beklagten vom 15. November 2002 nicht (schon) um einen Verwaltungsakt handelt. Denn durch den Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2003, mit dem der Widerspruch der Klägerin gegen eine "Festsetzung" der Nebenleistungen als unbegründet zurückgewiesen wurde, wurde der in der Mahnung enthaltene Realakt der Beklagten hinsichtlich der Nebenleistungen i.S.d. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zu einem feststellenden Verwaltungsakt umgestaltet (vgl. zu einer solchen Umgestaltung BVerwG, Urt. v. 26. Juni 1987 - 8 C 21.86 -, NVwZ 1988, 51 f.; vgl. auch OVG LSA, Beschl. v. 1. November 1999 - A 1 S 113/99 -, NVwZ 2000, 208 f.).

2. Die Anfechtungsklage ist auch begründet, da die Voraussetzungen für die Erhebung von Säumniszuschlägen nicht vorliegen.

Gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b KAG LSA i.V.m. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 % des abgerundeten rückständigen Beitrages zu entrichten, wenn der Beitrag nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird. Obwohl der Erschließungsbeitrag unstreitig ab 8. Oktober 2001 fällig gewesen ist, hat die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches der Klägerin (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO) durch das Oberverwaltungsgericht die Säumnis i.S.d. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO in vollem Umfang entfallen lassen.

a) Eine (teilweise) Aufhebung des Beitragsbescheides in einem gerichtlichen Verfahren hat zwar auf Grund des § 240 Abs. 1 Satz 4 AO keine Auswirkungen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 2. Mai 1995 - 80 B 50/95 -, zit. nach JURIS; BFH, Urt. v. 30. März 2006 - V R 2/04 -, zit. nach JURIS m.w.N.). Jedoch lässt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Abgabenbescheid i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO die Säumnis i.S.d. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO rückwirkend ab dem Zeitpunkt entfallen, ab dem nach dem Tenor und der Begründung die aufschiebende Wirkung (rückwirkend) angeordnet worden ist (OVG Niedersachen, Urt. v. 14. März 1989 - 9 A 57/88 -, NVwZ 1990, 270 f. unter ausdrücklicher Aufgabe des früheren Rechtsstandpunkts; OVG Sachsen, Urt. v. 12. Oktober 2005 - 5 B 471/04 -, NVwZ-RR 2007, 54 ff.; Driehaus, Kommunalabgabenrecht Bd. III, § 12 Rdnr. 82; Sodan/Ziekow, VwGO 2. A., § 80 Rdnr. 170; wohl auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 20. Mai 2003 - 1 L 137/02 -, NVwZ-RR 2004, 212 f.). Der Gegenmeinung, wonach die Säumnis ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung entfällt, ist nicht zu folgen. Die Vertreter dieser Auffassung verweisen darauf, dass die aufschiebende Wirkung eines gegen den Abgabenbescheid eingelegten Rechtsbehelfs die im Anforderungsbescheid bestimmte Fälligkeit der Schuld unangetastet lasse und auch eine bereits eingetretene Fälligkeit durch ihre Rückwirkung auf den Erlass des angefochtenen Abgabenbescheides nicht wieder beseitigt werde (so VGH Bayern, Beschl. v. 25. August 1989 - 23 CS 89.02090 und 23 CS 89.02092 -, BayVBl 1990, 757 f.; vgl. weiter Kopp/Schenke, VwGO 14. A., § 80 Rdnr. 34; vgl. auch BFH, Beschl. v. 10. Mai 2002 - VII B 244/01 -, Urt. v. 30. März 1993 - VII R 37/92 - und Urt. v. 30. März 1993 - VII R 37/92 -, jeweils zit. nach JURIS zu § 69 Abs. 2 und 3 FGO). Teilweise wird auch auf den Rechtsgedanken des § 240 Abs. 1 Satz 4 AO abgestellt (vgl. OVG Niedersachsen, Urt. v. 13. Mai 1986 - 9 A 46/83 - KStZ 1987, 18 f.; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge 7. A., § 24 Rdnr. 61 m.w.N.).

Durch die rückwirkende Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird festgestellt, dass eine Durchsetzung der Heranziehung zur Abgabenzahlung mit Zwangsmitteln in diesem Zeitraum nicht erfolgen durfte. Damit entfällt rückwirkend auch eine Voraussetzung des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO, der von einer Verpflichtung zur (sofortigen) Zahlung und der Anwendbarkeit von Zwangsmitteln hinsichtlich des zugrunde liegenden Abgabenbescheides ausgeht. Denn die Säumniszuschläge sollen den Abgabenpflichtigen gerade als Druckmittel zur Zahlung bewegen, so dass es nicht systemgerecht wäre und dem Sinn und Zweck des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO widersprechen würde, wenn die Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO insoweit keine Rechtsfolgen auslösen würde (vgl. dazu auch OVG Niedersachsen, Urt. v. 14. März 1989, a.a.O. S. 272). Dass die Fälligkeit der Abgabe durch die Anordnung nicht berührt wird, spielt keine Rolle für die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Abgabenzahlung erzwungen wird.

Die Regelung des § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bezieht sich auf die Aufhebung des zugrunde liegenden (Abgaben)Bescheides und gerade nicht auf eine gerichtliche Entscheidung im Eilverfahren zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines gegen diesen Bescheid gerichteten Rechtsbehelfs. Angesichts der Unterschiede zwischen der Anfechtung der Abgabenerhebung im Widerspruchs- und Klageverfahren und der Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes ist die bloße Berufung auf den "Rechtsgedanken" des § 240 Abs. 1 Satz 4 AO nicht ausreichend, die in § 80 Abs. 5 VwGO bestimmte Befugnis des Gerichts zur rückwirkenden Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuändern (vgl. dazu auch OVG Sachsen, Urt. v. 12. Oktober 2005, a.a.O. S. 55 f.; OVG Niedersachsen, Urt. v. 14. März 1989, a.a.O. S. 272).

b) Falls sich - wie hier - weder dem Tenor noch der Begründung der gerichtlichen Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine ausdrückliche Feststellung zur Rückwirkung entnehmen lässt, wirkt der Beschluss auch im Rahmen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO grundsätzlich zurück bis zum Erlass des angefochtenen Bescheides (vgl. OVG Sachsen, Urt. v. 12. Oktober 2005, a.a.O. S. 54 ff.; OVG Niedersachen, Urt. v. 14. März 1989, a.a.O. S. 270 ff.; VGH Bayern, Beschl. v. 2. April 1985 - 23 CS 85 A.361, 23 CE 84 A.2998, 23 CE 84 A.2900 - NVwZ 1987, 63; vgl. auch Sodan/Ziekow, VwGO 2. A., § 80 Rdnr. 169, 170; Kopp/Schenke, VwGO 14. A., § 80 Rdnr. 54).

Der Beschluss ist daher nicht im Zweifel dahingehend auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung rückwirkend mit dem Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht eintritt (so aber OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 20. Mai 2003 - 1 L 137/02 -, NVwZ-RR 2004, 212 f.; Driehaus, Kommunalabgabenrecht Bd. III § 12 Rdnr. 82; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge 7. A., § 24 Rdnr. 61; wohl auch OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 8. November 1988 - 6 A 118/87 -, NVwZ-RR 1989, 324). Dazu wird vertreten, für den Bereich der öffentlichen Abgaben ordne § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO gerade an, dass der Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO nicht gelte, so dass insofern durch die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch nicht der Zustand wiederhergestellt werde, den § 80 Abs. 1 VwGO aufstelle. Da dem Abgabenpflichtigen für den vorläufigen Rechtsschutz keine Frist gesetzt sei, erscheine es weiterhin unbillig, die Zeit, die bis zur Antragstellung bei Gericht verstreiche, im Regelfall zu seinen Gunsten zu bewerten.

Diese Argumente überzeugen jedoch nicht. Wie das OVG Sachsen (Urt. v. 12. Oktober 2005, a.a.O. S. 55) im Einzelnen dargelegt hat, lässt die Systematik der Absätze 1, 2 und 5 des § 80 VwGO sowie die Regelung des § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO nur den Schluss zu, dass ohne anders lautende Entscheidung des Verwaltungsgerichts durch die Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs regelmäßig eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes erreicht werden soll (so auch Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 80 Rdnr. 294, 362 m.w.N.; Redeker/v. Oertzen, VwGO 14. A., § 80 Rdnr. 59; Eyermann, VwGO 12. A., § 80 Rdnr. 87; Bader u.a., VwGO 3. A., § 80 Rdnr. 103). Es ist nicht erkennbar, dass speziell für die Fälle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO eine Abweichung vorliegt. Der in dieser Norm vorgesehene Wegfall der Wirkung des § 80 Abs. 1 VwGO jedenfalls hat keine Auswirkungen auf die Auslegung der gerichtlichen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO. Soweit auf den Gesichtspunkt der Unbilligkeit abgestellt wird, steht dem schon entgegen, dass das Gericht es in der Hand hat, durch eine zeitliche Begrenzung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung übermäßigen Verzögerungen Rechnung zu tragen (so auch VGH Bayern, Beschl. v. 2. April 1985, a.a.O. S. 63 f.; OVG Niedersachsen, Urt. v. 14. März 1989, a.a.O. S. 272; Sodan/Ziekow, VwGO 2. A., § 80 Rdnr. 169).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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