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Beginn der Entscheidung

Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 10.12.2003
Aktenzeichen: 5 U 259/03
Rechtsgebiete: AUB 88, ZPO, VVG


Vorschriften:

AUB 88 § 2 Abs. 4
AUB 88 § 7
AUB 88 § 7 Abs. 1
AUB 88 § 9
AUB 88 § 10
ZPO § 139
ZPO § 139 Abs. 2
ZPO § 139 Abs. 4
ZPO § 286
ZPO § 286 Abs. 1
ZPO § 296 Abs. 1
ZPO § 411 Abs. 4 S. 2
ZPO § 538 Abs. 2
ZPO § 540 Abs. 1 Nr. 1
VVG § 6 Abs. 3
VVG § 6 Abs. 3 S. 1
1. Zur Heranziehung von Mitarbeitern durch einen Sachverständigen.

2. Zur Notwendigkeit weiterer sachverständiger Aufklärung bei Unklarheiten eines Gutachtens.


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers und auf die Anschlussberufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 19. 03. 2003 (Az.: 12 O 358/00) aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens an das Landgericht zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

I. Der Kläger macht Ansprüche auf Invaliditätsentschädigung, Krankentagegeld und Krankenhaustagegeld aus einer privaten Unfallversicherung geltend. Hinsichtlich der versicherungsvertraglichen Vereinbarungen im Einzelnen wird auf den Versicherungsschein (GA Bl. 60) und die dem Vertrag zugrundeliegenden Allgemeinen und Besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUB 88) (GA Bl. 257 ff) verwiesen.

Der 1957 geborene Kläger - ehemals selbständiger Dachdeckermeister - hat behauptet, er habe im September 1997 kurz hintereinander 2 Unfälle erlitten. Am 10. 09. 1997 sei er an einer Baustelle in eine Baugrube auf Kopf und Schulter gefallen, nachdem eine Bohle, über die er gegangen sei, zusammengebrochen sei. Er habe zunächst deshalb keinen Arzt aufgesucht, weil er gehofft habe, die Beschwerden würden sich bei Schonung von selbst bessern. Als er nach 5 Tagen wieder arbeiten wollte, sei er in den 1,50 m hohen Kriechkeller unter seiner Garage gegangen, um dort Werkzeug zu holen. Dort habe er sich über ein lautes Geräusch erschreckt und sei erneut mit dem Kopf angestoßen, diesmal an der Decke des Kriechkellers. Aufgrund der beiden vorgenannten Unfälle habe er ein Schädel- Hirntrauma, eine Contusio Labyrinthi und eine depressive Anpassungsstörung erlitten. Er leide unter Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen, einem eingeengten Gesichtsfeld, einer Hörminderung links, einem Tinnitus, einer verminderten Denk- und Merkfähigkeit sowie einer Depression. Diese Beschwerden seien allesamt ursächlich auf die Unfallereignisse zurückzuführen.

Die Beklagte hat die Unfälle, die Beschwerden sowie die Ursächlichkeit der Unfälle für etwaige Beschwerden bestritten und verweist darauf, dass die Angaben des Klägers zu Unfallhergang und -folgen im Rahmen der vorprozessualen Schilderungen des Klägers gegenüber begutachtenden Ärzten widersprüchlich seien. Sie beruft sich weiterhin auf § 7 Abs. 1 AUB, welcher zu einem Ausschluss von Invaliditätsansprüchen führe, da die Invalidität nicht binnen 15 Monaten ärztlich festgestellt sei. Zudem habe der Kläger eine Obliegenheit verletzt, da er den Unfall am 15. 09. 1997 - im Kriechkeller - nicht unverzüglich gemeldet habe. Dies führe zum Leistungsausschluss (§§ 10, 9 AUB).

Das Landgericht hat zum Unfallhergang Beweis erhoben durch Vernehmung von Zeugen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25. 06. 2001 (GA Bl. 288) verwiesen. Das Landgericht hat weiterhin ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt, wobei als Sachverständiger Priv.- Doz. Dr. V. bestellt war. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 10. 07. 2002 (GA Bl. 321) verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlich vorgetragenen Sach- und Streitstandes wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil verwiesen.

Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, Krankentagegeld und Krankenhaustagegeld für jeweils 28 Tage in Höhe von insgesamt 2176 Euro nebst Zinsen zu zahlen und im übrigen die Klage abgewiesen. Es hat hierzu ausgeführt, dass aufgrund des Sachverständigengutachtens lediglich der Krankenhausaufenthalt vom 25. 09. bis zum 22. 10. 1997 unfallbedingt erforderlich gewesen sei. Im übrigen sei die Arbeitsunfähigkeit auf psychische Ursachen zurückzuführen und unterläge daher dem Ausschlusstatbestand des § 2 Abs. 4 AUB. Dies gelte auch hinsichtlich der geltend gemachten Invaliditätsentschädigung.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er trägt vor, das Landgericht habe das Sachverständigengutachten nicht regelgerecht nach § 286 ZPO gewürdigt. Es habe verkannt, dass zahlreiche andere Gutachter zu dem Ergebnis gelangt seien, dass die Symptome des Klägers auf organische Ursachen zurückzuführen seien, die als solche wiederum ursächlich auf den Unfall zurückzuführen seien. Die diesbezüglichen Widersprüche zu dem Gerichtsgutachten habe es nicht ausgeräumt, was aber notwendig sei, da in den Fällen, in denen psychische Defekte auf organisch bedingte Krankheitsbilder zurückgeführt werden könnten, die Ausschlussklausel des § 2 Abs. 4 AUB nicht anwendbar sei. Bei verfahrensmäßig korrekter Beweiserhebung hätte sich zumindest ein "non liquet" ergeben, was zu Lasten des Versicherers ginge, da diesem die Beweislast für das Vorliegen einer Ausschlussklausel obliege.

Die Entscheidung des Landgerichts beruhe überdies auf einem Verstoß gegen § 139 ZPO, nachdem es seine Absicht, den Sachverständigen nicht, wie von dem Kläger beantragt und von dem Gericht ursprünglich auch vorgesehen, zu dem Termin zu laden, nicht rechtzeitig zuvor mitgeteilt habe. Hierdurch habe das Landgericht dem Kläger die Möglichkeit genommen, im Rahmen der Befragung des Sachverständigen selbst die Widersprüche zu den außergerichtlichen Gutachten aufzuzeigen und dem gerichtlichen Sachverständigen vorzuhalten; der Kläger behauptet, der gerichtlich bestellte Sachverständige habe ihn auch nicht selbständig untersucht, sondern ihn lediglich 5 Minuten gesehen und gefragt, wie es ihm gehe. Durch die Abladung des Sachverständigen sei dem Kläger auch die Möglichkeit genommen worden, den Sachverständigen hiermit zu konfrontieren.

Der Kläger beantragt,

Unter Abänderung des am 19. März 2003 verkündeten Urteils des Landgerichts Saarbrücken die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 90.838, 22 EUR nebst 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen.

Der Beklagte und Berufungsbeklagte trägt die Kosten des gesamten Rechtsstreits.

vorsorglich

Den Rechtsstreit an die 1. Instanz zurückzuverweisen.

sowie

die Anschlussberufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt

die Berufung des Klägers kostenpflichtig zurückzuweisen und im Wege der Anschlussberufung das Urteil vom 19. 03. 2003 Az.: 12 O 358/00 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil, soweit die Klage abgewiesen wurde. Im übrigen habe das Landgericht verkannt, dass die Unfälle durch die Beklagte bestritten worden seien. Zwar habe das Landgericht hierüber Beweis erhoben, die Entscheidung enthalte jedoch keinerlei Beweiswürdigung. Im Hinblick auf das erstinstanzlich eingeholte Gutachten sei nach wie vor nicht nachgewiesen, dass der stationäre Aufenthalt in der Zeit vom 25. 09. bis zum 22. 10. 1997 medizinisch notwendig gewesen sei.

Entscheidungsgründe:

II. Die Berufung des Klägers ist zulässig und wurde insbesondere frist- und formgerecht eingelegt. Die Anschlussberufung ist als unselbständige Anschlussberufung ebenfalls zulässig und wurde insbesondere fristgerecht (§ 524 Abs. 2 S. 2 ZPO) eingelegt. In der Sache haben beide Rechtsmittel vorläufig mit der Maßgabe Erfolg, dass das Urteil des Landgerichts aufzuheben und die Sache erneut zu verhandeln und zu entscheiden ist . Das Urteil des Landgerichts beruht auf einem Fehler im Verfahren, der es rechtfertigt, es aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 538 II Nr. 1 ZPO).

A. Das Urteil des Landgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen.

Das Landgericht hat seine Pflicht aus § 139 Abs. 2, 4 ZPO verletzt; überdies wird die vorgenommene Beweiswürdigung den Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO nicht gerecht.

1. Nach § 139 Abs. 2 ZPO darf das Gericht auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, seine Entscheidung nur stützen, wenn es darauf hingewiesen hat, wobei der Hinweis gem. § 139 Abs. 4 ZPO so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen ist. Das sich daraus ergebende Verbot der Überraschungsentscheidung erfasst insbesondere auch rechtliche Gesichtspunkte, d.h. alle die Entscheidung tragenden Erwägungen (Thomas-Putzo, ZPO, 24. Aufl., § 139 Rn. 18). Insbesondere muss das Gericht darauf hinweisen, dass und warum es seine rechtliche Beurteilung gegenüber einem früher gegebenen Hinweis geändert hat und eine vorgesehene Beweisaufnahme nicht durchführt (vgl. BVerfG NJW 1996, 3202; Saarl. OLG NJW 1998, 1609). Der Partei muss überdies Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu gegeben werden (BVerfG a.a.O.). Das alles entspricht dem Gebot fairen Verfahrens, das einem Gericht auferlegt, Parteien, die sich auf eine bestimmte, von dem Gericht eingeschlagene Verfahrensweise prozessual eingestellt - und möglicherweise andere, ihnen zustehende Angriffs- und Verteidigungsmittel daraufhin nicht eingesetzt - haben, die Gelegenheit zu geben, auf eine Änderung der Rechtsauffassung des Gerichts zu reagieren.

2. Dem ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Nachdem das Gutachten des Sachverständigen Dr. V. eingegangen war und der Kläger mit Schriftsatz vom 19. 11. 2002 Einwendungen hiergegen erhoben hatte, hat das Landgericht mit Verfügung vom 21. 11. 2002 Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme bestimmt und dabei den Sachverständigen "zwecks Erläuterung des Gutachtens vom 10. 07. 2002 und Auseinandersetzung mit den Einwendungen des Klägers im Schriftsatz vom 19. 11. 2002" geladen (Bl. 381).

Die Beklagte hat sodann mit Schriftsatz vom 03. 12. 2002 auf § 2 Abs. IV AUB hingewiesen und - wegen einer Terminkollision des Beklagtenvertreters - um Verlegung des Verhandlungstermins gebeten (Bl. 386). Dem ist das Gericht nachgekommen; ausweislich Ziffer 3. der diesbezüglichen Verfügung vom 09. 11. 02 (Bl. 386R) ("Geladene umladen") ist nicht ersichtlich, weshalb eine Ladung des Sachverständigen zum Termin nicht erfolgt ist. Jedenfalls war er in der mündlichen Verhandlung vom 19. 02. 2003 nicht anwesend. Das Gericht wies ausweislich des Sitzungsprotokolls sodann darauf hin, das die Ladung des Sachverständigen im Hinblick auf den Schriftsatz der Beklagten vom 03. 12. 2002 "untunlich" gewesen sei, da wegen der Berufung der Beklagten auf den Leistungsausschluss nach § 2 Abs. 4 AUB die Klage entscheidungsreif sei (S. 1.des Sitzungsprotokolls, GA Bl. 389). Nach mündlicher Verhandlung hat es sodann Verkündungstermin bestimmt und schließlich das angefochtene Urteil verkündet. In der Urteilsbegründung hat das Landgericht ausgeführt, dass der Antrag des Klägers auf Erläuterung des Gutachtens keinen Anlass zur Ladung des Sachverständigen gegeben hätte, da die vorgesehenen Vorhalte sich nur auf die Klinik- Aufenthalte in der R. Klinik W. bezögen, die - entweder weil nur unfallunabhängige, degenerative Erkrankungen oder aber nur psychosomatische und daher gem. § 2 Abs. 4 AUB vom Versicherungsschutz ausgeschlossene Beschwerden behandelt worden seien - ohnehin nicht erstattungsfähig seien.

3. Das Landgericht hat hiermit seine oben genannten Pflichten zur Gewährung rechtlichen Gehörs auf eine geänderte Rechtsauffassung und fairen Verfahrens nicht erfüllt. Der Kläger durfte seinem Verhalten zugrunde legen, dass das Landgericht nach Eingang des Gutachtens selbst davon ausging, dass dieses der Erläuterung bedarf und dass es die Einwendungen des Beklagten als hinreichend relevant ansah, um den Sachverständigen - auch - hierzu zu befragen. Der Grund dafür, dass das Landgericht von letztgenannter Auffassung abgerückt ist, wird erst in den Urteilsgründen dargelegt. Auch soweit das Landgericht den Bedarf, von Amts wegen das Gutachten erläutern zu lassen, in der mündlichen Verhandlung nicht mehr gesehen hat, fehlt es an einer tragfähigen Begründung. Der in der mündlichen Verhandlung erteilte Hinweis auf den letzten Schriftsatz der Beklagtenseite trägt schon deshalb nicht, weil die Frage des Ausschlusses von Ansprüchen nach § 2 Abs. IV AUB 88 bereits zuvor angesprochen worden war (vgl. S. 3 des Schriftsatzes der Beklagten vom 02. 04. 2001, GA Bl. 241), dieser Gesichtspunkt also keinesfalls erstmals vor der mündlichen Verhandlung in den Raum gestellt wurde. Im Rahmen der Terminsvorbereitung durfte der Kläger daher davon ausgehen, dass dieser Gesichtspunkt bedacht worden, durch den gegnerischen Schriftsatz daher kein neuer Gesichtspunkt aufgezeigt worden war. Das Gericht hätte daher hinreichend Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen, notfalls durch Vertagung (vgl. Thomas/Putzo, 24. Aufl., § 139 Rn. 33).

B. Das Urteil des Landgerichts beruht auf diesem Verfahrensfehler. Es ist davon auszugehen, dass bei einem rechtzeitigen Hinweis darauf, dass eine Erläuterung des Gutachtens weder von Amts wegen noch auf den diesbezüglichen Antrag des Beklagten geplant ist, der Beklagte seinen Erläuterungsantrag mit den Argumenten begründet hätte, die er auch in der Berufung vorgebracht hat, oder jedenfalls sein einer Begründung nicht bedürftiges Fragerecht ausgeübt hätte; in diesem Fall wäre dem Antrag zwingend nachzukommen gewesen.

1. Der Beklagte wäre mit einer erweiterten Begründung des Erläuterungsantrags nicht auszuschließen gewesen. Zwar kann das Gericht - mit der Möglichkeit der Präklusion nach § 296 Abs. 1 ZPO - gem. § 411 Abs. 4 S. 2 ZPO den Parteien eine Frist zur Stellungnahme zu dem Gutachten setzen, innerhalb derer auch Anträge und Ergänzungsfragen zu stellen bzw. mitzuteilen sind. Hiervon hat das Landgericht ausweislich der Verfügung vom 28. 10. 2002 (GA Bl. 362 R) jedoch keinen Gebrauch gemacht. Soweit der Klägervertreter im Schriftsatz vom 11. 11. 2002 Fristverlängerung beantragt (und erhalten, GA Bl. 375) hat und die Beklagte in der Berufung die Möglichkeit der Präklusion anspricht (GA Bl. 498), korrespondiert dem ausweislich des Akteninhaltes keine richterliche (!) Fristsetzung. Ungeachtet dessen wurde die Ladung des Gutachters bereits am 21. 11. 2002 verfügt (Bl. 381); wäre stattdessen darauf hingewiesen worden, dass der Erläuterungsantrag unzureichend begründet ist, hätte der Kläger noch innerhalb der bis zum 10. 12. 2002 "verlängerten" Frist hierauf reagieren können.

2. Selbst wenn man nicht davon ausgeht, dass das Gutachten ohnehin - von Amts wegen - der Erläuterung bedurft hätte, wäre jedenfalls im Hinblick auf die nunmehr vorgebrachten Einwendungen die Erläuterung unabdingbar gewesen. Die Voraussetzungen, unter denen von einer beantragten Erläuterung abgesehen werden kann (Antragsmissbrauch, keine bestehenden Zweifel, Unerheblichkeit der beabsichtigten Fragen, vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 61. Aufl., § 411 Rn. 14) liegen nach dem jetzigen Sach- und Streitstand, d.h. unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Berufungsbegründung, unzweifelhaft nicht vor.

a) Es ist nicht auszuschließen, dass das Gutachten auf unzureichender tatsächlicher Grundlage erstattet wurde. Der Kläger rügt, nicht durch den Gutachter, sondern durch den Assistenzarzt Dr. N. untersucht worden zu sein. Zwar begegnet es grundsätzlich keinen Bedenken, wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige - entsprechend der allgemeinen Übung - Hilfskräfte wie beispielsweise Assistenzärzte zu einzelnen Mitwirkungshandlungen heranzieht, soweit er die Verantwortung für das Gutachten mit dem Zusatz "einverstanden auf Grund eigener Untersuchung und Urteilsfindung" übernimmt (vgl. BVerwGE 69, 70 ff). Die diesbezüglichen Beanstandungen im Schriftsatz vom 19. 11. 2002 (Bl. 376) gehen daher ins Leere. Allerdings wurde in der Berufungsbegründung ergänzend ausgeführt, dass (überhaupt) keine Untersuchung durch den Gutachter stattgefunden hätte, sondern lediglich eine - nichtssagende - kurze Unterhaltung mit dem Gutachter in 5 Minuten. Dem wäre nachzugehen, da als Grundlage des Gutachtens die (eigene?) Untersuchung ausdrücklich angegeben wurde.

b) Die Berufung rügt weiterhin, dass Widersprüche zu den vorgerichtlichen Gutachten bestünden, die nicht ausgeräumt worden seien. Dem folgt der Senat. Aufgrund des Inhaltes des Gutachtens Dr. V. einerseits und der weiteren in dem Verfahren vorgelegten Gutachten wäre das Gericht selbst ohne Rüge von Seiten der Parteien nicht umhin gekommen, weiteren Beweis zu erheben, wobei die beantragte mündliche Erläuterung des vorliegenden gerichtlichen Gutachtens lediglich einen ersten Schritt dargestellt hätte. Darin, dass das Landgericht dem nicht nachgekommen ist, liegt daher auch ein Verstoß gegen § 286 ZPO, welcher ebenfalls die Aufhebung und Zurückverweisung rechtfertigt (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 62. Auflage, § 538 Rn. 6; Zöller-Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 538 Rn. 28 m.w.N.). Im Einzelnen:

Das Landgericht fasst die Begutachtung des Sachverständigen Dr. V. dahingehend zusammen, dass - soweit Beschwerden überhaupt nachweisbar waren - diese auf eine posttraumatische und psychische Anpassungsstörung zurückzuführen sind (Urteil S. 9, GA Bl. 400). Das Gutachten selbst ist allerdings differenzierter. So sind die Kopfschmerzen nach den Ausführungen des Gutachters "am ehesten" im Sinne einer fehlerhaften Kranheitsverarbeitung zu werten. In der Kernspintomographie zeigten sich kleinfleckige Herde, wobei es sich "am ehesten" um vaskuläre Herde gehandelt habe (GA Bl. 334). Hinsichtlich der Schwindelattacken sei "spekulativ" ob es sich um eine Chronifizierung initial organisch bedingter Schwindelbeschwerden im Rahmen einer Contusio labyrinthi handelte (d. h.: ausgeschlossen ist es nicht!); die geschilderten Beschwerden seien "nicht typisch" für einen Schaden des Vestibularorgans nach Contusio labyrinthi, weshalb diese als Ursache "fragwürdig" sei (GA Bl. 335, 336) . Auch wenn eine Schädigung vorgelegen habe, sei im übrigen zwischenzeitlich von einer zentralen Kompensation auszugehen (eine solche trete binnen eines halben Jahres ein, GA Blatt 339). Den Gesichtsfeldausfall und die Doppelbilder hält der Gutachter für "wenig glaubhaft und nicht nachvollziehbar" (GA Bl. 340), wobei "gegebenenfalls ein endgültiges augenärztliches Gutachten mit einer orthopistischen Beurteilung und quantitativen Messung des Motilitätsstatus notwendig" sei (Gutachten S. 35, GA Bl. 355). Die Schwerhörigkeit wird von dem Gutachter - einem Neurologen - als geringgradig eingestuft; dabei geht er allerdings davon aus, dass der Kläger unter einem funktionellen sensorischen Tinnitus litt, der im Rahmen eines "Innenohrschadens im Rahmen eines sogenannten stumpfen Schädeltraumas ohne ohrnahe Fraktur" - zweifelsfrei also organische Defekte, die nicht dem Anwendungsbereich des § 2 Abs. 4 AUB 88 unterfallen - entstanden sein könne (GA Bl. 345). In der zusammenfassenden Wertung wird noch einmal ausgeführt, es finde sich "kein sicherer" Hinweis für eine Allgemeinveränderung, kein "sicherer" Herdbefund, kein Hinweis auf "größere" Kontusionsherde (GA Bl. 346).

Bereits die vorgehend kursiv dargestellten Einschränkungen der gutachterlichen Wertung geben hinreichend Anlass, die Schlussfolgerung des Sachverständigen, es handele sich - was die Beklagte zu beweisen hätte - alleine um psychische Beschwerden, zu verifizieren.

Zieht man die weiteren Gutachten heran, trifft dies um so mehr zu. Der Neurologe Prof. Dr. G. stellt degenerative (unfallunabhängige) Veränderungen der Bandscheiben fest, hält vor einer abschließenden Beurteilung allerdings noch die Einholung von HNO- bzw. augenärztlichen Gutachten für erforderlich (GA Bl. 135). Der Neurologe Prof. Dr. E. sieht die Kopfschmerzen als Folge chronisch degenerativer Veränderungen, die auch die übrigen Beschwerden erklären könnten (Schwindel, Konzentrationsstörungen etc.). Er führt jedoch die Hörminderung ursächlich auf das Unfallgeschehen zurück und zwar als "Folge des Unfalles im Sinne einer Kontusion" (GA Bl. 157). Der Neurologe Dr. J. sieht die Beeinträchtigungen als "durch die Diagnose Schädel-Hirn- Trauma 1. Grades und Zustand nach contusio labyrinthi" erklärbar an (GA Bl. 39). Dies muss kein Widerspruch zu dem Gutachten V. sein, da hierdurch somato - psychische Beschwerde auch umfasst sein können. Bei unbefangener Lesart kann das Gutachten J. aber auch so verstanden werden, dass eine organische Beeinträchtigung die Beschwerden verursacht hat. Entsprechendes gilt für das Gutachten Ju, wobei dieser - insoweit dezidiert abweichend von dem Gerichtsgutachten - bei der neurologischen Untersuchung des Klägers einen "Gesichtsfeldausfall nach links" festgestellt hat (GA Bl. 17R, 18). Die Bemerkungen auf S. 3 des Zusatzgutachtens vom 20. 03. 2000 (GA Bl. 432) sprechen ebenfalls für eine organische Ursache der Beschwerden.

Auch hinsichtlich der HNO- Gutachten ergibt sich kein eindeutiges Bild. Der Sachverständige Jo geht in seinem für das Sozialgericht erstatteten Gutachten von einer Schädigung des vestibulären Systems aus, welche die Gleichgewichtsstörung ausgelöst habe. Dabei führt er - insoweit ebenfalls widersprüchlich zu dem Gutachten Dr. V. - aus, dass die Kompensation in vorliegendem Fall aufgrund des Gesichtsfeldausfalls und der Verletzung im Bereich der oberen Kopfgelenke nur mangelhaft erfolgt sei (GA Bl. 179). Weiterhin geht er von einer traumatischen Verursachung der Hörstörung, die zu einer geringgradigen Schwerhörigkeit links führe und des Tinnitus aus (GA Bl. 178). Auch der HNO Arzt Brill geht von traumabedingten Beeinträchtigungen aus (GA Bl. 214R). Demgegenüber geht das Gutachten Prof. Dr. M. davon aus, dass aus HNO- Sicht "kein Korrelat für die angegebenen Schwindelbeschwerden" bestehe (GA Bl. 174).

C. Die Sache ist nicht aus einem anderen Gesichtspunkt entscheidungsreif.

1. Die Ansprüche des Klägers scheitern nicht von vornherein an § 2 Abs. 4 AUB 88. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht bei der Auslegung dieser Klausel darauf abstellt, ob und inwieweit die vorhandenen Beschwerden unfallbedingt hervorgerufen und nicht ausschließlich aufgrund psychogener Folgewirkungen bestehen. Der Senat versteht die Klausel ebenfalls in diesem Sinne und hat sie in diesem Verständnis auch als wirksam erachtet (vgl. zu der gleich lautenden Klausel in § 2 Abs. IV AUB 94: Senat, Urteil vom 16. 04. 2003, 5 U 49/01 - 5 - ; zu § 2 Abs. IV AUB 95: Senat, Urteil vom 25. 01. 2003, 5 U 358/02-42 und zu § 2 IV AUB 88 schließlich Senat, Urteil vom 04. 06. 2003, 5 U 123/02-13), ohne dass diese Frage allerdings bislang höchstrichterlich geklärt wäre.

2. Der Anspruch auf Invaliditätsentschädigung scheitert auch nicht daran, dass entgegen § 7 AUB 88 die Invalidität nicht fristgerecht ärztlich festgestellt wurde. Dies ist zwar grundsätzlich richtig. Die schriftliche Mitteilung des Arztes B. vom 08. 01. 1998 enthält gerade nicht die erforderliche (vgl. Grimm AUB, 3. Aufl., § 7 Rn. 11) Feststellung, dass aufgrund einer unfallbedingten Gesundheitsschädigung die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit auf Dauer gemindert ist, sondern enthält bei den entsprechenden Fragen den Hinweis, dass die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit bzw. das Verbleiben von Dauerfolgen noch nicht zu beurteilen sei (vgl. GA Bl. 160). Auch aus dem Arztbrief des Krankenhauses P. vom 19. 11. 1997 (GA Bl. 79 f) geht keine Invalidität hervor. Schließlich gilt das Gleiche auch für das Gutachten A. vom 20. 02. 1998, in dem unfallbedingte Dauerfolgen aus orthopädischer Sicht verneint wurden (GA Bl. 100f).

Allerdings ist die Berufung auf § 7 AUB vorliegend treuwidrig. Dies ist der Fall, wenn der Versicherer durch sein Verhalten Vertrauenstatbestände schafft und der Versicherte deshalb den Eindruck gewinnen muss, der Versicherer werde den Fristablauf nicht geltend machen (BGH VersR 1978, 1036 <1037>, Senat VersR 1997, 956 <958>, Grimm a.a.O. Rn. 12). Hiervon ist auszugehen. Zwar hat der Versicherer in dem Schreiben vom 21. 10. 1997 (GA Bl. 162) auf die 15-Monatsfrist und ihren Ablauf am 10. 12. 1998 hingewiesen. Mit Schreiben vom 02. 07. 1998 teilte er jedoch mit, dass er selbst ein weiteres Gutachten in der neurologischen Klinik der Winterbergkliniken in Auftrag gegeben habe (GA Bl. 224); entsprechend wurde am 14. 09. 1998 den Prozessbevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, dass vor der Vorlage des Gutachtens "noch keine Entscheidung über weitere Krankentagegeldleistungen" getroffen werden könnten. Hiermit gab die Beklagte zu verstehen, dass die weitere Sachbearbeitung - und zwar nicht etwa nur im Hinblick auf die Krankentagegeldleistungen - von der Erstellung des Gutachtens abhängig gemacht werden soll. Da die diesbezügliche Untersuchung des Klägers erst am 15. 12. 1998, also nach Fristablauf, erfolgte, durfte der Kläger daher ohne weiteres damit rechnen, dass sich die Versicherung nicht mehr auf die Frist berufen wird.

3. Der Rechtsstreit ist auch nicht deshalb entscheidungsreif, weil sich die Beklagte darauf beruft, dass der Kläger seine Obliegenheit aus §§ 9, 10 AUB 88 verletzt habe. Nach §§ 9, 10 AUB 88 wird der Versicherer von der Leistungspflicht frei, wenn der Versicherte der Pflicht, den Versicherer unverzüglich von dem Unfall zu unterrichten, nicht nachkommt. Eine entsprechende Obliegenheitsverletzung liegt objektiv zwar vor. Ausweislich der Schadensanzeige vom 10. 10. 1997 (GA Bl. 252) wurde lediglich der Unfall vom 10. 09. 1997 angegeben, nicht dagegen der Unfall vom 15. 09. 1997. Da unzweifelhaft die Unfallereignisse vom 10. und 15. 09. 1997 zwei voneinander unabhängige Geschehnisse darstellen, sind sie auch jeweils unabhängig anzuzeigen. Die fehlende Anzeige des zweiten Unfalles kann gegebenenfalls zum vollständigen Entfallen der Leistungspflicht des Versicherers führen. Der Vortrag des Klägers ist nämlich bislang - wohl - so zu verstehen, dass er gerade aus dem kumulativen Zusammenwirken beider Unfallereignisse die behauptete Invalidität herleitet; dass Unfallfolgen alleine aus dem Ereignis vom 10. 09. 1997 resultieren, legt er bislang nicht dar und ist auch nicht unter Beweis gestellt.

Der Aufklärung bedarf jedoch, ob die Obliegenheitsverletzung vorsätzlich oder (grob?) fahrlässig erfolgt ist, was gemäß § 6 Abs. 3 VVG zu unterschiedlichen Auswirkungen auf die Leistungspflicht des Versicherers führt. Zwar wird nach § 6 Abs. 3 S. 1 VVG Vorsatz des Versicherungsnehmers vermutet, d.h. dieser muss beweisen, dass die Verletzung weder auf Vorsatz noch auf grober Fahrlässigkeit beruht (BGH, NversZ 2002, 122 ff); soweit der Kläger in dem Schriftsatz vom 23. 01. 2001 hierzu vorträgt, er habe als Selbständiger zunächst versucht, von alleine wieder auf die Beine zu kommen, ist dies nichtssagend und geht an dem Problem vorbei. Immerhin ist jedoch der - unstreitige - Umstand, dass die Anzeige des ersten Unfalles zeitlich nach dem zweiten Unfall erfolgte und der - ebenfalls unstreitige - Umstand, dass der Kläger anlässlich der Anamnese durch die ihn untersuchenden Ärzte auch den zweiten Unfall einbezogen hat, jeweils ein starkes Indiz dafür, dass zumindest eine grobe Fahrlässigkeit übersteigende Schuld nicht vorgelegen hat.

D. Aufgrund des Verfahrensfehlers ist eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich (§ 538 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO). Es ist zu erwarten, dass die Erläuterung des Gutachtens, zur Herbeiführung der Entscheidungsreife nicht ausreichen wird. Sollte die Behauptung des Klägers, der gerichtlich bestellte Sachverständig habe ihn überhaupt nicht körperlich untersucht, nicht zutreffend sein, so wäre allerdings eine erneute Begutachtung unumgänglich, es sei denn, der Sachverständige würde nachvollziehbar und stimmig erläutern, dass der körperlichen Untersuchung für die zu treffenden gutachterlichen Feststellungen keine tragende Bedeutung zukommt. Selbst wenn das Gutachten vor diesem Hintergrund verwertbar bliebe sind weiterhin die aufgezeigten Divergenzen und Unklarheiten auf neurologischem Gebiet aufzuarbeiten und - soweit die sachverständig zu beantwortenden Fragen auf andere Fachgebiete, namentlich in den Bereich der Hals- Nasen- und Ohrenheilkunde oder der Augenheilkunde entfallen - durch entsprechende Fachärzte weitere Feststellungen zu treffen und in die neurologische Bewertung einzuarbeiten.

E. Der Kläger hat die Zurückverweisung jedenfalls hilfsweise beantragt; dies reicht im Lichte des § 538 Abs. 2 ZPO aus (vgl. Saarl. OLG OLG Report 2003, 142; SaarlOLG, Urteil vom 30. 04. 2003, 1 U 682/02- 161), da auf den Hauptantrag (Verurteilung der Beklagten in vollem Umfange) mangels Entscheidungsreife nicht erkannt werden kann.

F. Die Aufhebung erstreckt sich auch auf den mit der Anschlussberufung angefochtenen Teil der Entscheidung.

Dass die Beklagte selbst nicht die Zurückverweisung beantragt hatte, steht dem nicht entgegen, da es nach dem eindeutigen Wortlaut des § 538 Abs. 2 ZPO ausreicht, wenn "eine Partei" die Zurückverweisung beantragt.

Zwar beruht das Urteil des Landgerichts nicht bereits insoweit auf einem weiteren Verfahrensfehler, als die Beklagte beanstandet, das Landgericht habe keine Beweiswürdigung zu der Frage, ob tatsächlich die Unfälle so wie behauptet stattgefunden haben, vorgenommen. Dies ist zwar formal zutreffend; im Hinblick auf das eindeutige Ergebnis der Beweisaufnahme (vgl. GA Bl. 289 ff) vermag der Senat indes nicht zu erkennen, welche Zweifel an dem behaupteten Unfallhergang bestehen sollten, zumal Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der vernommenen Zeugen weder geltend gemacht wurden, noch ersichtlich sind.

Allerdings beruht auch die Verurteilung der Beklagten ebenso wie die Klageabweisung im Übrigen auf den gutachterlichen Wertungen des Sachverständigen Dr. V., die insgesamt einer erneuten Würdigung zu unterziehen sind.

G. Die Revision war nicht zuzulassen, da die hierfür erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Ende der Entscheidung

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