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Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 07.10.2004
Aktenzeichen: 1 LA 79/04
Rechtsgebiete: AsylVfG, AuslG


Vorschriften:

AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1
AuslG § 51 Abs. 1
1. Die Zulassung der Berufung wegen grundsatzbedeutsamer Tatsachenfragen kann auch auf neue, nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung entstandene tatsächliche Verhältnisse gestützt werden, soweit diese in einem Berufungsverfahren der Klärung zugänglich und bedürftig sind.

2. Die Anschläge tschetschenischer Terroristen haben nicht zu "neuen" (geänderten) tatsächlichen Verhältnissen für tschetschenische Volkszugehörige in der Russischen Föderation geführt (vgl. Urt. des Senats vom 24.04.2003 - 1 L 212/01 und 1 L 213/01). Die Terrorattacken im August 2004 (u. a. in Beslan), die eine "Kette" vergleichbarer Verbrechen fortsetzen, vermitteln keinen Ansatzpunkt dafür, dass damit eine entscheidende Trendwende zu Lasten aller friedlichen tschetschenischen Volkszugehörigen in der Russischen Föderation verbunden ist. Die Rückkehrgefährdung unverfolgt ausgereister tschetschenischer Volkszugehöriger ist nach diesen Terroranschlägen nicht anders zu beurteilen als vorher.

3. Personen tschetschenischer Volkszugehörigkeit steht "innerhalb des größten Landes der Welt", der Russischen Föderation, eine zumutbare, insbesondere verfolgungssichere inländische Fluchtalternative (außerhalb Tschetscheniens) zur Verfügung.

4. Das skrupellose Vorgehen der tschetschenischen Terroristen mag in manchen Teilen der russischen Bevölkerung zu Hass und zu spontanen Übergriffen gegen Tschetschenen führen, daraus ist aber noch nicht abzuleiten, dass für tschetschenische Rückkehrer eine - landesweite - beachtlich wahrscheinliche und nicht durch russische Ordnungskräfte abgewehrte Gefährdung besteht.


SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

Az.: 1 LA 79/04

In der Verwaltungsrechtssache

Streitgegenstand: Anerkennung als Asylberechtigte(r), Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 1. Senat des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts in Schleswig am 7. Oktober 2004 beschlossen:

Tenor:

Die Anträge des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - Einzelrichterin der 12. Kammer - vom 15. Juli 2004 werden abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert für das Antragsverfahren wird auf 1.500,-- Euro festgesetzt.

Gründe:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Sein Prozesskostenhilfeantrag ist deshalb abzulehnen (§§ 166 VwGO, 114 ZPO).

Der Kläger stützt sich allein auf den Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG, den er für gegeben ansieht, weil - nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils - drei Ereignisse geschehen seien (Absturz von zwei Passagierflugzeugen im August 2004, Bombenanschlag im Zentrum Moskaus, Geiselnahme in Beslan), deren Auswirkungen auf die Rückkehrsituation obergerichtlich zu klären und zu bewerten seien. Dabei verweist der Kläger auf frühere Ereignisse (Geiselnahme im Theater, Okt. 2002, Anschläge auf Rockkonzert in Moskau, Juli 2003, auf ein Militärhospital in Nordossetien, Aug. 2003, auf einen Zug, Dez. 2003, Selbstmordattentat vor der Staatsduma, Febr. 2004 u. a.), die zu einer Zunahme eines "Generalverdachts" und von "Repressalien gegen Tschetschenen" - nicht nur in Großstädten - geführt hätten.

Mit diesen Darlegungen kann der Kläger die Berufungszulassung nicht erreichen.

Grundsätzlich kann ein Zulassungsantrag gem. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG auch auf neue, nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung entstandene tatsächliche Verhältnisse gestützt werden, soweit diese in einem Berufungsverfahren der Klärung zugänglich und bedürftig sind (VGH Mannheim, Urt. v. 31.03.1993, A 13 S 3048/92, EzAR 633 Nr. 21; VGH Kassel, Beschl. v 21.11.2003, 10 ZU 984/03.A, juris).

Dem Zulassungsantrag ist nicht zu entnehmen, dass die darin genannten drei Terroranschläge zu "neuen" (geänderten) tatsächlichen Verhältnissen in der Russischen Föderation, die grundsätzlich bedeutsam und für die Entscheidung des den Kläger betreffenden Schutzbegehrens entscheidungsrelevant sein könnten, geführt haben.

Der Kläger ist nach den - im Zulassungsantrag nicht angegriffenen - Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils (S. 6 d. Abdr.) unverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist. Er hat sich nach den - ebenfalls nicht angegriffenen - Feststellungen im angegriffenen Urteil (S. 9 d. Abdr.) in der Tschetschenienfrage nicht besonders engagiert. Seine in eine andere Richtung gehenden Angaben hat das Verwaltungsgericht mit nachvollziehbaren Gründen für unglaubwürdig gehalten. Ein Schutzanspruch kann sich danach nur ergeben, wenn die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer landesweiten Gefährdung des Klägers bzgl. der nach §§ 51, 53 AuslG relevanten Schutzgüter angenommen werden kann.

Die im Zulassungsantrag dargelegten (neuen) Umstände vermitteln keine ausreichenden Ansatzpunkte dafür, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Rückkehrgefährdung einer unverfolgt ausgereisten und nicht engagierten Person anders als bisher angenommen zu beurteilen sein könnte.

Soweit vor dem Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) liegende Ereignisse betroffen sind, hat der Senat die Verfolgungsgefährdung tschetschenischer Volkszugehöriger in seinen Urteilen vom 24. April 2003 - 1 L 212/01 und 1 L 213/01 - ausführlich behandelt. Damit ist grundsätzlich geklärt, dass Personen tschetschenischer Volkszugehörigkeit "innerhalb des größten Landes der Welt", der Russischen Föderation, eine zumutbare, insbesondere verfolgungssichere inländische Fluchtalternative (außerhalb Tschetscheniens) zur Verfügung steht. Der Senat hat seine diesbezügliche Beurteilung unter Berücksichtigung der mehr oder weniger häufigen und massiven Anschläge von Terroristen tschetschenischer Herkunft auf russische Menschen und Einrichtungen vorgenommen.

Die im Zulassungsantrag genannten drei - weiteren - Terrorattacken im August 2004 vermitteln keinen Ansatzpunkt dafür, dass damit eine entscheidende Trendwende zu Lasten aller friedlichen tschetschenischen Volkszugehörigen in der Russischen Föderation verbunden ist. Diese Terroranschläge setzen die "Kette" vergleichbarer Verbrechen fort. Es mag sein, dass das skrupellose Vorgehen der tschetschenischen Terroristen in manchen Teilen der russischen Bevölkerung zu Hass und zu spontanen Übergriffen gegen Tschetschenen führt, daraus ist aber noch nicht abzuleiten, dass für tschetschenische Rückkehrer eine - landesweite - beachtlich wahrscheinliche und nicht durch russische Ordnungskräfte abgewehrte Gefährdung bestehen kann.

Für den - in der Tschetschenienfrage nicht engagierten - Kläger sind damit aus dem Zulassungsantrag keine Ansatzpunkte für eine beachtliche individuelle Rückkehrgefährdung zu gewinnen.

Weitere Zulassungsgründe sind nicht dargelegt worden. Der Zulassungsantrag ist daher mit der Kostenfolge aus § 83 b Abs. 1 AsylVfG, § 154 Abs. 1VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 83 b Abs. 2 AsylVfG.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).

Ende der Entscheidung

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