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Beginn der Entscheidung

Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 10.12.2008
Aktenzeichen: 2 LB 23/08
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 7
AufenthG § 60 a Abs. 1
Zur Zuerkennung individuellen Abschiebungsschutzes für einen alleinstehenden männlichen Afghanen der Volksgruppe der Hazara, der bis zu seiner Einreise in Deutschland im Iran aufgewachsen ist und bei Rückkehr auf keine familiären Strukturen zurückgreifen könnte.
SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Az.: 2 LB 23/08

verkündet am 10.12.2008

In der Verwaltungsrechtssache

Streitgegenstand: Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG - Berufungsverfahren -

hat der 2. Senat des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 10. Dezember 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht ..., den Richter am Oberverwaltungsgericht ..., den Richter am Verwaltungsgericht ... sowie die ehrenamtlichen Richter Frau ... und Herr ... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 06. März 2008 geändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Dezember 2005 verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger hinsichtlich Afghanistan ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abzuwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 21. März 1970 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Nach eigenen Angaben lebte er nur 40 Tage in seinem Geburtsort Herat, bevor die Familie in den Iran ging. Den Iran verließ er am 28. Juni 2001 auf dem Luftweg und landete am selben Abend auf dem Flughafen in Hamburg.

Am 14. September 2005 stellte der Kläger einen Asylantrag. In seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 21. September 2005 gab er an, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könne er dort nicht überleben. Er kenne zum einen die afghanische Kultur nicht, weil er im Iran groß geworden sei und dort 30 Jahre lang gelebt habe. Zum anderen habe er keine Verwandten oder Freunde in Afghanistan. Zudem fürchte er, in Lebensgefahr zu sein. Es habe Erbstreitigkeiten gegeben, nachdem sein Großvater ein 4.000 qm großes Grundstück in Herat seinem, des Klägers, Vater und dessen Bruder vererbt habe. Sein Vater sei seinerzeit nach Afghanistan gereist, um die Erbschaft anzutreten, und habe mit seinem Bruder vereinbart, dessen Anteil abzukaufen, d. h. ihn anteilmäßig auszuzahlen. Dies sei auch geschehen, jedoch sei sein Vater nicht im Grundbuch als Alleineigentümer registriert worden. Nachdem der Bruder des Vaters verstorben sei, habe dessen Sohn das Erbe angetreten und seinen, des Klägers, Vater nicht als Alleineigentümer des Grundstücks anerkannt. In der Folgezeit sei es zum Streit zwischen seinem Vater und dessen Neffen gekommen. Als sein Vater im Jahre 2000 erneut nach Afghanistan gereist sei, um die Grundstücksangelegenheit zu klären, sei er bei seinem Aufenthalt dort verstorben. Als sein älterer Bruder einige Zeit später nach Afghanistan gereist sei, um die Besitzansprüche klarzustellen, sei dieser ebenfalls ums Leben gekommen (März 2001). Später habe sich erwiesen, dass er mit einigen Messerstichen getötet worden sei. Er, der Kläger, vermute, dass sowohl sein Vater als auch sein Bruder wegen der Erbstreitigkeit getötet worden seien.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. Dezember 2005, dem Kläger zugestellt am 11. Januar 2006, wurde der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt und festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG nicht vorlägen. Insbesondere lägen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. Eine derart extreme Gefahrenlage, die bei verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu einer Feststellung eines Abschiebungsverbots nach Satz 1 führte, sei derzeit in Afghanistan und insbesondere in Kabul nicht gegeben.

Am 20. Januar 2006 hat der Kläger Klage erhoben. In seinem Fall könne es als ausgeschlossen angesehen werden, in effektiver Weise staatlichen Schutz vor der Verfolgung durch Dritte erhalten zu können. Für ihn bestehe akute Gefahr für Leib und Leben aufgrund der erbrechtlichen Auseinandersetzungen um ein Grundstück in der Provinz Herat. Ihm drohe dasselbe Schicksal wie seinem Vater und seinem Bruder. Darüber hinaus verfüge er nicht über familiären Rückhalt und kenne auch die konkreten Gepflogenheiten und Sitten in Afghanistan nicht. Selbst bei einem Aufenthalt in Kabul befürchte er, von dem Familienteil, der im Besitz des fraglichen Grundstücks sei, ausfindig gemacht zu werden.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger die ursprünglich gestellten Anträge hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG und hinsichtlich der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen und weiterhin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Dezember 2005 zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 06. März 2008 abgewiesen. Es bestünden keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG). Dies ergebe sich weder aufgrund der schlechten Wirtschafts- und Versorgungssituation in Afghanistan noch unter Berücksichtigung der vom Kläger geltend gemachten Furcht, von seinem in Herat lebenden Cousin getötet zu werden.

Der Kläger hat am 25. April 2008 einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, dem der Senat durch Beschluss vom 13. Juni 2008 entsprochen hat.

Der Kläger trägt vor, dass auch nicht freiwillig zurückkehrende, alleinstehende junge Männer ohne Rückhalt durch einen bestehenden familiären Verband angesichts der Sicherheitslage, der Lebensmittel- und Wohnraumversorgung, der medizinischen Versorgung, der extremen Arbeitslosigkeit und mangels funktionierender öffentlicher Daseinsvorsorge und ausländischer Hilfsprogramme praktisch nicht existenzfähig und daher konkreten, lebensbedrohenden Gefahren ausgesetzt seien. Die allgemeine Sicherheitslage habe sich seit 2006 erheblich verschlechtert. Verfolgungsschutz sei dem Kläger aber auch zu gewähren, wenn man mit dem Verwaltungsgericht annähme, dass eine extreme Gefährdungssituation nur angenommen werden könne, wenn "besondere Zuspitzungen im Einzelfall" die Gefährdung steigerten. Derartige Umstände ergäben sich daraus,

- dass der Kläger praktisch nie in Afghanistan gelebt habe, sondern bereits im Säuglingsalter mit seiner Familie in den Iran ausgewandert und dort auch aufgewachsen sei.

- Er spreche nicht das in Teilen Afghanistans gesprochene Neupersisch in der Form des Dari, sondern in der Form des im Iran gesprochenen Farsi.

- Er habe in Afghanistan keine Verwandten mehr, die ihn unterstützen würden.

- Er sei vermögenslos und könne auf keinerlei Ersparnisse zurückgreifen, mit denen er sich in einer Anfangsphase in Afghanistan über Wasser halten könnte.

- Über seinen Vater gehöre er der Volksgruppe der Hazara an, die als Schiiten im überwiegend sunnitischen Afghanistan außerhalb ihres Hauptsiedlungsgebietes verfolgt werde.

- Auf Grund der seit Jahrzehnten bestehenden Familienfehde wegen des Grundstücksstreits, in dem bereits der Vater und der Bruder des Klägers ermordet worden wären, drohe ihm bei einer Rückkehr die Gefahr, auch ermordet zu werden, um die streitige Grundstücksfrage endgültig zu klären.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgericht zu ändern und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten haben dem Gericht bei der Beratung und Entscheidung vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf den Akteninhalt sowie die wechselseitigen Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen sowie die den Beteiligten mitgeteilten Erkenntnismittel ergänzend Bezug genommen.

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Die Ablehnung der begehrten Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG ist rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf die entsprechende Feststellung.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 60 Abs. 7 AufenthG in der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Fassung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) und damit in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970), in Kraft getreten am 28. August 2007. Mit diesem Gesetz wurde u.a. die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12, "Qualifikationsrichtlinie"), - RL - in nationales Recht umgesetzt. Soweit der in der Qualifikationsrichtlinie vorgesehene subsidiäre Schutz des Art. 15 RL in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG umgesetzt wird, sind zusätzlich Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und die Art. 6 bis 8 RL anzuwenden (§ 60 Abs. 11 AufenthG). Dies bedeutet u.a., dass es insoweit nicht mehr auf eine staatliche Zurechenbarkeit der jeweiligen Gefahren ankommt (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung - Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG - 2005, § 39 Rdnr. 140).

Nach § 60 Abs. 7 AufenthG in seiner seit dem 28. August 2007 geltenden Fassung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat ist abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Gefahren nach Satz 1 oder Satz 2, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

Hinsichtlich der allgemeinen Rückkehrsituation stellt sich die Auskunftslage wie folgt dar: Die allgemeine Sicherheitslage ist weiterhin prekär und verschlechtert sich stetig. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind mangels Kapazitäten, Ausrüstung, Ausbildung und Disziplin sowie auf Grund von Korruption und Missachtung der Menschenrechte nicht in der Lage, die Sicherheit der Zivilbevölkerung landesweit zu gewährleisten (Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH -, Afghanistan-Update v. 11.12.2006; amnesty international - ai -, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Auch in Kabul ist die Sicherheitslage weiter fragil, auch wenn sie auf Grund der ISAF-Präsenz im regionalen Bereich als zufriedenstellend eingeschätzt wird. Der UNHCR bezeichnet sie seit Mitte 2002 als "ausreichend sicher". Allerdings gibt es Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung. Angehörige der Sicherheitskräfte stellen sich gelegentlich als Täter von bewaffneten Raubüberfällen oder Diebstählen heraus (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008, Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Amnesty international weist darauf hin, dass es in einigen Gegenden in Kabul vor allem nachts, aber auch tagsüber immer öfter zu Schießereien und Überfällen kommt. Die Polizei ist in diesen Fällen nicht in der Lage oder willens, Schutz zu gebieten. Bewaffnete Raubüberfälle und Diebstähle werden nicht selten von Angehörigen der Sicherheitskräfte und der Polizei begangen. Ferner wird auch eine Zunahme von Kindesentführungen festgestellt (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Die schlechte Sicherheitslage sowie die verbreitete Korruption bremsen auch die wirtschaftliche Entwicklung. Die Arbeitslosenrate liegt bei rund 40 % (SFH, AfghanistanUpdate v. 11.12.2006). Sie stellt vor allem in Kabul ein weiteres erhebliches Problem dar, wo Rückkehrer mit der übrigen Bevölkerung um die wenigen Arbeitsplätze konkurrieren (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Innerhalb der Städte gibt es Unterschiede zwischen denen, die Englisch können und anderen Arbeitssuchenden (Panhölzl, "Humanitäre Lage in Kabul" in: Informationsverbund Asyl e.V. <Hrsg.>: Zur Lage in Afghanistan, Berichte, Analysen und Stellungnahmen, 2006). Arbeitskräfte ohne oder mit geringer Ausbildung finden vor allem im informellen Sektor Arbeit, der gekennzeichnet ist durch hohen Wettbewerb, Unzuverlässigkeit, Unregelmäßigkeit, niedriges Einkommen und stärkere saisonale Schwankungen (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006; Panhölzl, a.a.O.). Neben selbständigem Erwerb - Karrenzieher oder Straßenhändler, Heimproduktion von Gütern - und Gelegenheitsjobs stellt die Tageslohnarbeit für rund 30 % aller Familien die Haupteinnahmequelle dar (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006). Da der herkömmliche Arbeitsmarkt durch das Bevölkerungswachstum überfordert ist, wird die gelegentliche Lohnarbeit bevorzugt, die oft aus Tätigkeiten in der Öffentlichkeit besteht und deshalb noch stärker Männern vorbehalten ist als andere Arbeitsformen, deren Lohnniveau mit jenem der regelmäßigen Lohnarbeit aber vergleichbar ist (Panhölzl, a.a.O.). Der Bauboom in Kabul bietet zwar einige Arbeitsplätze. Allerdings sind auch diese Hilfsarbeitertätigkeiten rar und sehr stark am Wettbewerb und saisonalen Schwankungen ausgesetzt. Wer solche Hilfsarbeiten verrichtet, kann höchstens 2,-- Dollar am Tag verdienen (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007).

Seit Ende 2001 ist die Zahl der Einwohner Kabuls von 900.000 auf mehr als 4 Mio. angestiegen. Vielen Stadtgebieten droht der Kollaps. Der enorme Bevölkerungszuwachs hat zu einem akuten Mangel an Wohnraum und der Bildung großer Slum-Viertel geführt (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH; Panhölzl, a.a.O.; Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Trotz einer hohen Anzahl von Wohnprojekten ausländischer Hilfsorganisationen übertrifft der Bedarf an billigem Wohnraum das Angebot bei weitem (Panhölzl, a.a.O.). Wohnungen sind praktisch unerschwinglich; bereits einfache Zimmer mit Etagenbad übersteigen das Budget vieler Einwohner (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Ein einfaches Zimmer in den Außenbezirken kostet 15,-- bis 20,-- US-Dollar im Monat, eine primitive 1-Zimmer-Wohnung im Stadtgebiet von Kabul ohne Wasser, Heizung und Kanalisation mindestens 100,-- Dollar (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Etwa 70 % der Haushalte im Stadtgebiet bestehen aus informellen Siedlungen ohne rechtlichen Status. Vor allem alleinstehende Männer haben es schwer, in Kabul eine Wohnung zu finden, weil sie von Wohnungsvermietern als gefährlich erachtet werden (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006). Während die Caritas schätzt, dass etwa 1 Mio. Einwohner weder über einen ausreichenden und winterfesten Wohnraum noch über regelmäßiges Trinkwasser verfügen (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH), geht Dr. D davon aus, dass 80 % der Kabuler Einwohner in provisorischen Siedlungen leben, deren Lebensverhältnisse und hygienische Mängel zu Krankheit und Tod führen (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Nach Einschätzung des Ausw. Amtes hat sich die Versorgungslage in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten zwar grundsätzlich verbessert, jedoch profitieren längst nicht alle Bevölkerungsschichten von dieser verbesserten Lage. Insbesondere die Versorgung mit Wohnraum ist unzureichend, das Angebot knapp und eine Wohnung nur zu hohen Preisen erhältlich (Lagebericht v. 07.03.2008).

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln für die nicht wohlhabende Bevölkerung wird als unzureichend bezeichnet (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH); 8,9 % der Bevölkerung Kabuls sind unterernährt (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007).

Das RANA-Programm der Europäischen Union für freiwillige Rückkehrer ist Ende April 2007 ausgelaufen (Auskunft des Ausw. Amtes v. 29.05.2007 an HessVGH). Neben IOM sind Vertreter von UNHCR und dem Ministerium für Flüchtlinge und Wiedereingliederung am Flughafen Kabul vertreten. Letztere geben Informationen über Leistungen afghanischer Stellen und organisieren die Aufnahme in das Jangalak-Zentrum, welches freiwilligen Rückkehrern und Abgeschobenen in den ersten zwei Wochen gleichermaßen offen steht. Beide Gruppen können zudem auf die Fortbildungsveranstaltungen und Stellenangebote der NRO "Arbeitsgemeinschaft Entwicklung und Fachkräfte" zurückgreifen (Auskunft des Ausw. Amtes v. 31.01.2007 an VG Kassel). Vom UNHCR erhalten Rückkehrer zur Deckung unmittelbarer Bedürfnisse einmalig 12,-- Dollar pro Person, plus 4,-- bis 37,--Dollar pro Person für Transportkosten (Panhölzl, a.a.O.; Dr. D, ergänzendes Gutachten vom 24.08.2007). Die Hilfsorganisationen sind angesichts der enorm großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage im Land nicht in der Lage, Rückkehrer mit Nahrung oder Wohnraum zu versorgen (Dr. D, ergänzendes Gutachten vom 24.08.2007; ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Statt sozialer Sicherungssysteme sind weiterhin Familien und Gemeinschaftsstrukturen des Herkunftsortes für die Absicherung der Rückkehrer zuständig, da der Zugang zur Grundversorgung stark von funktionierenden Sozialnetzen abhängig ist (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008; Panhölzl, a.a.O.). Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen deshalb auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in größeren Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Eine Rückkehr in andere Gebiete als die der ursprünglichen Heimat kann Afghanen vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellen - sowohl wirtschaftlich als auch die Sicherheitslage betreffend (Panhölzl, a.a.O.). Andererseits bringen Afghanen, die im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes in der Mehrzahl einen besseren finanziellen Rückhalt, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mit, was ihnen bei der Reintegration einen deutlichen Vorteil verschaffe (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Die Probleme, mit denen sich die Rückkehrer konfrontiert sehen, sollen sich nach Einschätzung des UNHCR nicht von denen anderer Afghanen unterscheiden, aber viel prononcierter sein. Insbesondere die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Rechte wie Zugang zu Arbeit, Wasser, Gesundheit, Versorgung etc. ist mit Problemen behaftet. Die Regierung ist bemüht, den ankommenden Rückkehrern mit der Zuweisung von Land bzw. der Unterbringung in festen Häusern eine Startmöglichkeit zu bieten. Da es allerdings oftmals an einer Langzeitstrategie fehlt, müssen die in den Wintermonaten untergebrachten Rückkehrer zum Sommer wieder in Zeltlager zurückkehren, die nicht als echte Flüchtlingslager angesehen werden können, sondern vielmehr informelle Siedlungen darstellen (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008). Wichtigste Einnahmequelle für 45 % der Rückkehrer in Städten ist die Arbeit als Tagelöhner, während 12 % als "kleine" Selbständige tätig sind und 11 % über keine regelmäßige Einkommensquelle verfügen (Panhölzl, a.a.O.). Als Haupthindernis für eine langfristige Integration wird der Mangel an wirtschaftlichen und sozialen Rechten gesehen. Zusätzlich werden Rückkehrer häufiger Opfer von Menschenrechtsverletzungen, von Diebstahl, Raubüberfällen oder Entführungen (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006; ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Von der Rückkehr folgender Personengruppen wird abgeraten: Unbegleitete Frauen, ältere Menschen und Minderjährige, alleinerziehende Mütter ohne Ernährer, Gewaltopfer und traumatisierte Personen sowie Personen mit körperlichen/mentalen/chronischen, schwerwiegenden oder ansteckenden Krankheiten (UNHCR: Humanitäre Erwägungen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach Afghanistan, Mai 2006; SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006).

Die Auskunftslage belegt weiterhin, dass eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich problematisch ist und in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft werden muss. Sie mag für die oberste Landesbehörde auch ausreichend Anlass bieten, gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG aus humanitären Gründen einen Abschiebestopp anzuordnen (so schon OVG NRW, Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris).

In Kenntnis dieser Situation hat der Senat gleichwohl in früheren Entscheidungen (z.B. Urt. v. 21.11.2007 - 2 LB 38/07 -) - wie auch andere Obergerichte (OVG Brandenburg, Urt. v. 05.05.2006 - 12 B 11.05 - in juris; Sächs. OVG, Urt. v. 23.08.2006 - A 1 B 58/06 - AuAS 2007, 5; OVG Münster, Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris; a. A. OVG RP, Urteil v. 06.05.2008 - 6 A 10949/08.OVG -, AuAS 2008, 188) - die Auffassung vertreten, dass ein gesunder, junger, alleinstehender und männlicher Afghane im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland unter Berücksichtigung des hier einschlägigen Maßstabs keiner erheblichen konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt sein wird. Das vorliegende Verfahren gibt angesichts der besonderen Umstände dieses Einzelfalles keinen Anlass, die aktuelle Entwicklung in Afghanistan grundlegend neu zu bewerten und von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Beim Kläger liegen nämlich Umstände vor, die auf eine extreme Gefahrenlage schließen lassen, bei der nach der o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei Fehlen eines solchen Abschiebestopps im Einzelfall von einer Abschiebung abzusehen ist. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts ist eine in dieser Weise relevante Gefahrenlage auch beim Kläger gegeben, da er neben den Frauen, Minderjährigen, alten und kranken Menschen zu den sonstigen unfreiwilligen Rückkehrern zu zählen ist, die aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles angesichts der katastrophalen Versorgungsverhältnisse im Großraum Kabul nicht in der Lage sein werden, sich das für ein Überleben unabdingbar Notwendige zu beschaffen.

Der Kläger ist im Iran bei seiner iranischen Mutter im dortigen Kulturkreis aufgewachsen. Bis zu seiner Einreise in Deutschland wurde sein gesamtes Leben von den dortigen Verhältnissen geprägt. Im Falle seiner Einreise nach Afghanistan wird er sich nicht in die dortigen Gegebenheiten einfügen können und im Falle seines Aufenthalts in Afghanistan dort als Ausländer angesehen werden. Er wird wegen seiner Sprache und seiner Unkenntnis der heimischen Traditionen auffallen und dann wegen seines Herkommens aus Deutschland mit einem Europäer gleichgesetzt werden. Er wird dann einer vergleichbaren Gefährdung ausgesetzt sein.

Hinzu tritt, dass der Kläger im Falle seines Aufenthalts in Afghanistan auf keinerlei Rückhalt in familiären Strukturen zurückgreifen könnte. Die Familie aus mütterlicher Linie hält sich im Iran auf, die aus väterlicher Linie ist dem Kläger - wie aus dem Erbstreit und den damit verbundenen Auseinandersetzungen hierzu ersichtlich - feindlich gesonnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83 b AsylVfG, die Nebenentscheidungen beruhen auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da Gründe hierfür nicht vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).

Ende der Entscheidung

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