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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 20.08.2009
Aktenzeichen: 1 B 432/09
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 35a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss

Az.: 1 B 432/09

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Förderung wegen Dyskalkulie (SGB VIII); Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz

hier: Beschwerde

hat der 1. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vizepräsidenten des Oberverwaltungsgerichts Dr. Grünberg, den Richter am Oberverwaltungsgericht Kober und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Schmidt-Rottmann

am 20. August 2009

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 10. Juli 2009 - 5 L 39/09 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers bleibt ohne Erfolg. Die vorgetragenen Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben keinen Anlass zur Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 10.7.2009. Nach der in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein durchzuführenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage steht dem Antragsteller kein Anordnungsanspruch für die begehrte Verpflichtung der Antragsgegnerin auf vorläufige Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII wegen seiner Dyskalkulie zu.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf die vorläufige Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine Dyskalkulietherapieunterrichts abgelehnt, da trotz der durch die Dyskalkulie bedingten seelischen Störung des Antragstellers dessen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht beeinträchtigt und derzeit auch nicht zu erwarten sei. Hierzu hat es im Einzelnen ausgeführt, dass auf der Grundlage der vorliegenden Stellungnahmen, Berichte und Angaben des Antragstellers, der Eltern des Antragstellers, der Grundschule, des Kinder- und Jugendpsychatrischen Dienstes, des Allgemeinen Sozialdienstes des Jugendamtes sowie der Erziehungs- und Familienberatungsstelle der Antragsgegnerin keine glaubhaft gemachte Beeinträchtigung der Teilhabe des Antragstellers am Leben in der Gesellschaft als Folge der Dyskalkulie oder die drohende Gefahr des Eintritts einer solchen Beeinträchtigung vorliege.

Die hiergegen mit der Beschwerde erhobenen Einwände des Antragstellers rechtfertigen keine Änderung der gerichtlichen Entscheidung. Er ist der Auffassung, dass bereits die schulischen Minderleistungen eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft darstellten. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, es lägen hier lediglich normale Schulängste vor, stehe in Widerspruch zu den gutachterlichen Stellungnahmen, nach denen eine manifeste Störung aufgrund der Dyskalkulie vorliege. Eine seelische Störung stelle stets eine Hinderung an der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dar.

Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass dem Antragsteller derzeit kein Anspruch auf die vorläufige Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII wegen seiner zu einer seelischen Behinderung führenden Dyskalkulie zur Seite steht. Dieser Anspruch besteht, wenn die seelische Gesundheit von Kindern oder Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Das bloße Vorliegen der Teilleistungsstörung Dyskalkulie erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII noch nicht. Dyskalkulie ist eine geistige Leistungsstörung. Es handelt sich um abgegrenzte Ausfälle von Hirnleistungen, die aus dem Rahmen der Gesamtintelligenz und der übrigen Leistungen herausfallen. In Kapitel V, Ziffer F 81.2 der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der deutschen Fassung von 2009 (www. dimdi.de/de/klassi/diagnosen/icd10/) wird Dyskalkulie als eine Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten in Form der "...Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist, [beschrieben]. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden." Ein Abweichen der seelischen Gesundheit i. S. v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII von dem für das Lebensalter typischen Zustand verlangt zusätzlich zu dieser geistigen Teilleistungsstörung die Feststellung hierin begründeter Sekundärfolgen im seelischen Bereich (SächsOVG, Beschl. v. 9.6.2009 - 1 B 288/09; OVG NRW, Beschl. v. 28.02.2007 - 12 A 1472/05 - zitiert nach juris; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 26.3.2007, NJW 2007, 1993; Stähr in Hauck/Haines, SGB VIII, Kommentar, Stand April 2009, K § 35a Rn. 26; jeweils mit weiteren Nachweisen).

Von einer seelischen Störung ist das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit dem Antragsteller ausgegangen, hat jedoch eine hierdurch bedingte oder drohende Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verneint. Diese Feststellung ist hingegen eine der anspruchsbegründeten Voraussetzungen gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII für den vom Antragsteller verfolgten Anspruch. Es ist deshalb unzutreffend, wenn er mit der Beschwerde behauptet, eine seelische Störung stelle stets eine Hinderung an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dar. Von einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist auszugehen, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt (BVerwG, Urt. v. 26.11.1998 - 5 C 38/97 - zitiert nach juris). Die Feststellungen hierzu sind von der Antragsgegnerin aus eigener Sachkunde zu treffen und unterliegen der vollen gerichtlichen Kontrolle. Infolge einer Teilleistungsstörung entwickelte sekundäre seelische Probleme führen, wenn sie denn das Maß der nachhaltigen Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit i. S. v. § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII erreicht haben, regelmäßig in der Folge auch zu einer Teilhabebeeinträchtigung i. S. v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII (SächsOVG, Beschl. v. 9.6.2009, a. a. O.; OVG NRW, Beschl. v. 28.2.2007, a. a. O.). Versagensängste, fehlendes Selbstwertgefühl, Anpassungsstörungen mit Zukunftsängsten führen häufig zu einer Gefährdung der sozialen Entwicklung.

Gegenüber den eingehenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts hat der Antragsteller hingegen mit seiner Beschwerde nicht dargelegt, sondern nur behauptet, dass er entgegen dessen Überzeugung in seiner Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Mit diesem unsubstanziierten Vortrag kann er seiner Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen, da sie dem ihn treffenden Darlegungsgebot aus § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht genügen. Das gilt auch, soweit der Antragsteller eine Teilhabebeeinträchtigung aufgrund schulischer Minderleistungen geltend macht. Nach der Rechtsprechung des Senats stellt die infolge einer Teilleistungsstörung und der hierdurch entwickelten seelischen Beeinträchtigungen konkret drohende Gefahr, die Schule ohne einen der Intelligenz entsprechenden Schulabschluss zu verlassen und deshalb einer Zukunft ohne eine angemessene Berufsausbildung entgegensehen zu müssen, eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne der Vorschrift dar (Beschl. v. 9.6.2009, a. a. O.). Der Antragsteller legt hingegen mit seiner Beschwerde keine Tatsachen dar, welche diese Annahme rechtfertigen könnten. Er begnügt sich mit der unzureichenden Behauptung, dass bei ihm schulische Minderleistungen vorliegen. Die Gefährdung eines angemessenen Schulabschlusses im vorgenannten Sinne wird hieraus nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 VwGO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.

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