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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 24.01.2008
Aktenzeichen: 1 B 654/07
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 81 Abs. 1
VwGO § 101 Abs. 2
VwGO § 124 Abs. 1 Nr. 5
1. Das Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bedarf der Schriftform i. S. v. § 81 Abs. 1 VwGO.

2. Entscheidet ein Gericht ohne mündliche Verhandlung, obgleich die Voraussetzungen des § 101 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen, ist stets davon auszugehen, dass die Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO beruhen kann.


SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss

Az.: 1 B 654/07

In der Verwaltungsrechtssache

wegen baurechtlichen Nachbarschutzes

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 1. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch die Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Dahlke-Piel, den Richter am Oberverwaltungsgericht Kober und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Schmidt-Rottmann

am 24. Januar 2008

beschlossen:

Tenor:

Auf den Antrag der Kläger wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 9. Oktober 2007 - 3 K 1785/03 - zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe:

Die Berufung ist gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zuzulassen. Es liegt ein von den Klägern gerügter Verfahrensmangel vor, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann.

Das Verwaltungsgericht hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, obgleich die Kläger auf deren Durchführung nicht wirksam verzichtet haben. Zwar hat der damalige Prozessbevollmächtigte der Kläger ausweislich eines Aktenvermerks des Berichterstatters vom 24.9.2007 fernmündlich sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Ein telefonischer Verzicht ist indes im Rahmen von § 101 Abs. 2 VwGO nicht ausreichend. Vielmehr ist grundsätzlich eine schriftliche Erklärung zu fordern. Zwar enthält § 101 Abs. 2 VwGO ebenso wenig wie die entsprechenden Vorschriften der Zivilprozessordnung eine Regelung über die Form der Einverständniserklärung. Daraus wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BAG, Urt. v. 23.6.1993 - 5 AZR 248/92 -, juris Rn. 25 ff.; BGH, Urt. v. 20.3.2007, NJW 2007, 2122) ebenso wie in der Literatur (Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 101 Rn. 5; Dolderer in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 101 Rn. 22, wohl auch Ortloff in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand 2007, § 101 Rn. 9) teilweise geschlossen, einer besonderen Form bedürfe es nicht. Das Bundesverwaltungsgerichts hat diese Frage bisher im Ergebnis offen gelassen (BVerwG, Urt. v. 20.2.1981, NJW 1981, 1852; Urt. v. 22.6.1982, NJW 1983, 189; Urt. v. 24.5.1984, NJW 1984, 645).

Der Senat hält eine schriftliche Erklärung im Sinne von § 81 Abs. 1 VwGO für erforderlich (im Ergebnis ebenso Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, § 101 Rn. 3; Geiger in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 101 Rn. 6; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 66. Aufl. 2008, § 128 Rn. 20; Reichold in: Thomas/Putzo, ZPO, 28. Aufl. 2007, § 128 Rn. 24; Greger in: Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 128 Rn. 4).

Das ergibt sich im Einzelnen aus folgenden Erwägungen: Die Verwaltungsgerichtsordnung enthält für die Abgabe von Prozesserklärungen nur vereinzelt Formvorschriften, namentlich in § 81 über die Klageerhebung, in § 106 über den Vergleich, in § 147 für die Beschwerde und schließlich in den Regelungen über die Einlegung und Begründung von anderen Rechtsmitteln (§ 124 ff.). Dies erlaubt indes nicht den Umkehrschluss, dass alle anderen prozessualen Erklärungen keiner Form bedürften. Vielmehr besteht Einigkeit darüber, dass etwa die Klagerücknahme und die Erledigungserklärung nur schriftlich (oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle oder in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll) erklärt werden können. Eine analoge Anwendung von § 81 wird darüber hinaus - soweit ersichtlich ebenfalls unbestritten - für alle Anträge in selbständigen Verfahren (etwa nach §§ 47, 80 und 123 VwGO) sowie für sogenannte bestimmende Schriftsätze bejaht. Die für Prozesshandlungen erforderliche Rechtssicherheit verlangt nämlich, dass zweifellos feststeht, wer eine Prozesserklärung abgegeben hat und dass die Erklärung klar, eindeutig und vorbehaltslos erfolgt. Diesen Erfordernissen genügt ein telefonisches Einverständnis regelmäßig nicht, es kann vielmehr die Quelle für eine Vielzahl von Fehlern sein und birgt die Gefahr von Meinungsverschiedenheiten über den Erklärungsinhalt (BVerwG, Urt. v. 20.2.1981, NJW 1981, 1852).

Die Gründe, die dafür sprechen, bei bestimmenden Schriftsätzen eine Schriftform zu verlangen, treffen ohne weiteres auch auf den Verzicht auf mündliche Verhandlung zu. Dieser muss eindeutig und vorbehaltslos erfolgen; es bedarf der Sicherheit, dass er tatsächlich von dem Beteiligten selbst abgegeben wurde. Überdies ist der praktische Vorteil, auf eine telefonische Verzichtserklärung hin entscheiden zu können, im Ergebnis von geringem Wert. Dem durchaus geringfügigen Beschleunigungseffekt steht die Inkaufnahme beträchtlicher Rechtsunsicherheit gegenüber. Denn in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass jedenfalls bei jedweden Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln an dem Inhalt der Erklärung ein wirksamer Verzicht nicht vorliegt (BVerwG, Urt. v. 20.2.1981, NJW 1981, 1852; Urt. v. 22.6.1982, NJW 1983, 189; Urt. v. 24.5.1984, NJW 1984, 645). Schließlich sprechen auch Inhalt und Tragweite der Erklärung dafür, sie als wesentliche Prozesshandlung zu begreifen. Mit dem Verzicht auf mündliche Verhandlung begibt sich ein Beteiligter nämlich unwiderruflich eines elementaren prozessualen Rechts, durch das die Gewährung rechtlichen Gehörs umfassend sichergestellt werden soll.

Das angefochtene Urteil kann auch i. S. v. § 124 Abs. 1 Nr. 5 VwGO auf dem nach alledem vorliegenden Verfahrensmangel beruhen. Zwar haben die Kläger nicht dargelegt, was sie bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten und inwieweit dieser Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre, was regelmäßig für eine schlüssige Gehörsrüge erforderlich ist. Dieser Grundsatz erleidet jedoch dann eine Ausnahme, wenn einem Beteiligten die mündliche Verhandlung insgesamt vorenthalten worden ist. Die mündliche Verhandlung dient dazu, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, ihre Auffassung darzulegen und sich zudem auf Grund der Verhandlung gewonnenen Gesamtergebnis des Verfahrens zu äußern. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, den Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten, die Hinweise und Fragen des Gerichts bei der anschließenden Erörterung der Sache sowie die Ausführungen der Gegenseite zu hören und dazu Stellung zu nehmen. Dies gilt auch dann, wenn zuvor die Möglichkeit der schriftsätzlichen Vorbereitung genutzt worden ist. Was eine Partei vorbringen will, was sachdienlich oder gar notwendig ist, wird sich in der Regel erst auf Grund des Verlaufs und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung herausstellen. Unterbleibt eine mündliche Verhandlung rechtswidrig oder wird einem einzelnen Beteiligten - etwa infolge unterbliebener oder fehlerhafter Ladung - die Teilnahme vorenthalten, erfasst die Verletzung des rechtlichen Gehörs den gesamten Prozessstoff. Dies rechtfertigt es, ausnahmsweise keine Ausführungen darüber zu fordern, was ohne den Gehörsverstoß zusätzlich noch hätte vorgetragen werden sollen und dass dies zur Klärung des geltend gemachten Anspruch geeignet gewesen wäre. Den ungewissen Verlauf einer mündlichen Verhandlung vorzutragen, ist einem Beteiligten, der die Zulassung eines Rechtsmittels begehrt, objektiv unmöglich; dementsprechende Darlegungsanforderungen würden den Zugang zum Rechtsmittel in einer dem Art. 19 Abs. 4 GG nicht mehr entsprechenden Weise erschweren (vgl. zum Vorstehenden OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 7.3.2007 - 3 N 197.06 -, zitiert nach juris, m. w. N.).

Belehrung zum Berufungsverfahren

Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht, Ortenburg 9, 02625 Bautzen einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht gestellten Antrag verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).

Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

Für den Berufungskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Berufung. Der Berufungskläger muss sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen, soweit er einen Antrag stellt.

In den Angelegenheiten der Kriegsopferfürsorge und des Schwerbehindertenrechts sowie der damit im Zusammenhang stehenden Angelegenheiten des Sozialhilferechts sind vor dem Oberverwaltungsgericht als Prozessbevollmächtigte auch Mitglieder und Angestellte von Verbänden im Sinne des § 14 Abs. 3 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes und von Gewerkschaften zugelassen, sofern sie kraft Satzung oder Vollmacht zur Prozessvertretung befugt sind.

In Abgabenangelegenheiten sind vor dem Oberverwaltungsgericht als Prozessbevollmächtigte auch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zugelassen.

In Angelegenheiten, die Rechtsverhältnisse im Sinne des § 52 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung betreffen, in Personalvertretungsangelegenheiten und in Angelegenheiten, die in einem Zusammenhang mit einem gegenwärtigen oder früheren Arbeitsverhältnis von Arbeitnehmern im Sinne des § 5 des Arbeitsgerichtsgesetzes stehen einschließlich Prüfungsangelegenheiten, sind vor dem Oberverwaltungsgericht als Prozessbevollmächtigte auch Mitglieder und Angestellte von Gewerkschaften zugelassen, sofern sie kraft Satzung oder Vollmacht zur Prozessvertretung befugt sind.

Ende der Entscheidung

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