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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 26.05.2005
Aktenzeichen: 3 B 16/02.A
Rechtsgebiete: VwGO, AsylVfG


Vorschriften:

VwGO § 86 Abs. 2
VwGO § 138 Nr. 3
AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3
Mit einem in der mündlichen Verhandlung bloß hilfsweise gestellten Beweisantrag begibt sich der Betroffene nicht des Rechts, wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs zu rügen, dass der Antrag im Urteil aus Gründen abgelehnt wird, die im Prozessrecht keine Stütze finden (Änderung der bisherigen Senatsrechtsprechung).
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss

Az.: A 3 B 16/02

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Anerkennung als Asylberechtigte und Abschiebungsschutz

hier: Anträge auf Zulassung der Berufung

hat der 3. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Ullrich, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Drehwald und den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Pastor

am 26. Mai 2005

beschlossen:

Tenor:

Auf die Anträge der Kläger wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 12.11.2001 - A 2 K 31643/96 - zugelassen.

Den Klägern wird für das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt S. , Hamburg, zu den Bedingungen eines in Sachsen ansässigen Anwalts beigeordnet.

Gründe:

1. Die Anträge der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 12.11.2001 sind begründet. Der von den Klägern geltend gemachte Zulassungsgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO liegt vor.

Die Kläger rügen zu Recht, dass das Verwaltungsgericht ihren in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag, es möge durch Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amtes Beweis erhoben werden dazu, dass gegen den in der Bundesrepublik Deutschland seinerseits asylsuchenden Bruder der Klägerin zu 1) - Herrn K. E. - bei den Staatsschutzgerichten in Antalya, Malatya und Istanbul Strafverfahren anhängig seien und diesbezüglich auch ein Haftbefehl bestünde wegen Mitgliedschaft in der TIKKO, in dem angefochtenen Urteil als unzulässigen Ausforschungsantrag angesehen und abgelehnt hat.

a.) Von der Gehörsrüge sind die Kläger nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie den Beweisantrag nur hilfsweise gestellt haben. An seiner entgegengesetzten Rechtsprechung, die der Senat mit dem Beschluss vom 25.9.2002 - A 3 B 46/02 - begründet hatte, hält er nicht mehr fest.

Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Berufung auf die Gehörsrüge voraussetzt, dass der Betroffene zuvor alle prozessualen und faktischen Möglichkeiten wahrgenommen hat, um sich Gehör zu verschaffen (BVerfG, Beschl. v. 10.2.1987, BVerfGE 74, 220 [225]; BVerwG, Urt. v. 3.7.1992, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 148, S. 96 [99]), hat der Senat die Auffassung vertreten, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt, wer sich durch die bloß hilfsweise Stellung von Beweisanträgen der durch § 86 Abs. 2 VwGO eröffneten Möglichkeit begibt, die Gründe, die das Gericht zur Ablehnung eines Beweisantrags veranlassen, noch in der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis und dazu Stellung zu nehmen (vgl. auch Hessischer VGH, Beschl. v. 7.2.2001, ESVGH 51, 138 f und Beschl. v. 17.1.2003, AuAS 2003, 69 [71]; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 3.9.2003, AuAS 2004, 9).

Diese Anforderung ist im Hinblick auf den in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs überspannt und trägt auch den praktischen Gegebenheiten in der mündlichen Verhandlung nicht hinreichend Rechnung. Mit einem Beweisantrag nach § 86 Abs. 2 VwGO eröffnet sich für den Betroffenen die Möglichkeit, auf die Ablehnung des Antrags zu reagieren und ihn z. B. in nachgebesserter Form neu zu stellen, um so den berechtigten Beanstandungen des Gerichts zu begegnen. Wenn und soweit durch die Stellung eines Hilfsbeweisantrags von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht wird, kann dies aber nicht bedeuten, dass damit zugleich auf das Recht verzichtet wird zu rügen, dass dieser - erst im Urteil zu bescheidende - Antrag aus Gründen abgelehnt wird, die im Prozessrecht keine Stütze finden. Mit der Stellung eines Hilfsbeweisantrags möchte der Betroffene sicherstellen, dass das Gericht, wenn es im Ergebnis der Beratung den Klaganspruch etwa aus dem in erster Linie geltend gemachten und von ihm als erfolgversprechend angesehenen Grunde verneint, bei der Prüfung eines weiteren Grundes, der zum Erfolg der Klage führen könnte, auf die hierfür angebotenen Beweismittel sodann zurückgreifen kann. Unterstellte man, dass der Betroffene bei dieser Vorgehensweise zugleich auf das Rügerecht im Falle prozessrechtswidriger Ablehnung des Antrags verzichtet, bedeutete dies, dass er in jedem Falle sicherheitshalber Beweisanträge im Sinne des § 86 Abs. 2 VwGO stellen müsste, um sich das Rügerecht zu wahren. Dies aber wäre schon aus Gründen der Prozessökonomie schwerlich vertretbar. So wird denn auch in der verwaltungsgerichtlichen Praxis von Seiten des Gerichts den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung nicht selten die Anregung gegeben, Beweisanträge bezogen auf weitere Gründe lediglich hilfsweise zu stellen, da die Frage ihrer Erheblichkeit davon abhängt, dass der in erster Linie herangezogene Grund für den geltend gemachten Anspruch nicht durchgreift, was aber vielfach letztlich erst in der Schlussberatung sicher festgestellt werden kann (vgl. hierzu auch Marx, AsylVfG, Kommentar, 5. Auflage, § 78 RdNr. 559). Verbunden ist für den Betroffenen mit der bloß hilfsweisen Stellung eines Beweisantrags freilich der Nachteil, dass er auf die - nicht anfechtbare - Ablehnung des Antrags in der mündlichen Verhandlung nicht mehr reagieren kann. Er verzichtet hiermit aber allein auf die prozessualen Vorteile, die § 86 Abs. 2 VwGO ihm bietet, um einen unzulänglichen Beweisantrag nachzubessern, nicht aber zugleich auf das Recht, die im Urteil erfolgte Ablehnung des Antrags mit der Begründung zu rügen, dass sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Es kommt hinzu, dass der Betroffene im Falle eines unbedingt gestellten Beweisantrags zur Wahrung der Gehörsrüge nicht verpflichtet ist, die Ablehnung des Antrags noch in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich als prozessrechtswidrig zu beanstanden, geschweige denn wäre er gehalten, den solchermaßen fehlerhaft abgelehnten Antrag nachzubessern, da es ja für ihn nichts nachzubessern gäbe. Auch diese Überlegung zeigt, dass der Betroffene mit der Stellung bloß eines Hilfbeweisantrags sich lediglich der Vorteile des § 86 Abs. 2 VwGO, nicht aber seines Rügerechts bei Verletzung rechtlichen Gehörs begibt. Davon, dass der Betroffene sich mit einem bloß hilfsweise gestellten Beweisantrag nicht des Rechts begibt zu rügen, dass der Antrag im Urteil mit Gründen abgelehnt wird, die im Prozessrecht keine Stütze finden, geht auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 27.3.2000 (InfAuslR 2000, 412) aus (vgl. ebenso VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.12.1993, VBlBW 1994, 190 f und Beschl. v. 14.1.1997, NVwZ-Beilage Nr. 9/1997, 67 f; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.1.2005, AuAS 2005, 93; offen gelassen in BVerfG, Beschl. v. 20.2.1992, NVwZ 1992, 569 f).

b.) Die Begründung, mit der das Verwaltungsgericht den in der mündlichen Verhandlung am 12.11.2001 gestellten Hilfsbeweisantrag der Kläger abgelehnt hat, dass es sich nämlich um einen unzulässigen Ausforschungsantrag handele, findet im Prozessrecht keine Stütze. Ein Ausforschungsantrag liegt in Bezug auf solche Tatsachenbehauptungen vor, für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, die mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich "aus der Luft gegriffen", "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufgestellt werden, für die tatsächliche Grundlagen jedoch fehlen (BVerwG, Beschl. v. 27.3.2000, aaO). Hiervon kann bei dem Antrag auf Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amts dazu, dass gegen den Bruder der Klägerin zu 1) bei den bezeichneten türkischen Gerichten Strafverfahren anhängig seien und diesbezüglich auch ein Haftbefehl bestünde, nicht gesprochen werden. Die Klägerin zu 1) hat in ihrem Asylvorbringen unter Angabe von Einzelheiten geltend gemacht, dass sich ihr Bruder der TIKKO angeschlossen habe und deshalb mit Haftbefehl gesucht werde, weshalb ihr zusätzlich zu ihrem persönlichen Verfolgungsschicksal die Gefahr drohe, in Sippenhaft genommen zu werden. Auch den beim Verwaltungsgericht Greifswald geführten Akten zum dortigen Asylverfahren des Bruders, die das Verwaltungsgericht beigezogen hatte, war bereits zum damaligen Zeitpunkt zu entnehmen, dass der Bruder, der am 10.3.1999 Asyl beantragt hatte, mit eben diesem Vorbringen sein Asylbegehren begründet hat. Wenn er in diesem Zusammenhang selber nicht ausdrücklich von einem Haftbefehl gesprochen hat, so kann dies entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zu der Einschätzung führen, dass deswegen für den Hilfsbeweisantrag die tatsächlichen Grundlagen fehlten. Dies gilt auch deshalb, weil die Suche mit Haftbefehl eine spezifische Voraussetzung für die Sippenhaftgefährdung ist, die aber im Verfahren des Bruders keine Rolle spielte. - Dass es sich nicht um einen Ausforschungsantrag gehandelt hat, ist im Nachhinein auch bestätigt worden durch die im Verfahren des Bruders eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.11.2003, in der es heißt, dass nach ihm in der Türkei gefahndet wird, weshalb er dann auch mit Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 10.2.2004 als Asylberechtigter anerkannt worden ist.

c.) Der Zulassungsantrag scheitert schließlich nicht daran, dass der Bruder der Klägerin zu 1) sich wegen seiner Anerkennung als Asylberechtigter mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhält. Die Beklagte ist der Auffassung, dass eine Sippenhaftgefährdung entfalle, wenn der in der Türkei gesuchte Sippenhaftvermittler sich dauerhaft mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus im Ausland aufhält, und beruft sich hierzu auf Entscheidungen des VGH Baden-Württemberg aus den Jahren 2000 und 2001 (vgl. Schriftsatz vom 22.12.2003). Die Kläger verweisen auf anderslautende Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte aus den Jahren 1998 bis 2003, so des OVG Nordrhein-Westfalen, des OVG Mecklenburg-Vorpommern, des OVG Schleswig-Holstein, des Niedersächsischen OVG und des OVG Rheinland-Pfalz (vgl. Schriftsatz vom 5.10.2004). Der Senat hat sich mit dieser Frage noch nicht befasst. Im Zulassungsverfahren ist sie nicht zu klären; dies muss dem Berufungsverfahren vorbehalten bleiben.

2. Den Klägern war gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen können. Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO war den Klägern ihr Prozessbevollmächtigter beizuordnen, wobei die Beiordnung zu den Bedingungen eines im Bezirk des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts ansässigen Rechtsanwalts erfolgt, da eine Notwendigkeit für die höhere Kosten verursachende Beauftragung eines Rechtsanwalts mit Kanzlei außerhalb Sachsens nicht zu erkennen ist (vgl. § 121 Abs. 3 VwGO).

Belehrung zum Berufungsverfahren

Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht, Ortenburg 9, 02625 Bautzen einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht gestellten Antrag verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).

Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

Für den Berufungskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Berufung. Der Berufungskläger muss sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtiger vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen, soweit er einen Antrag stellt.

Ende der Entscheidung

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