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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 28.08.2009
Aktenzeichen: 3 B 40/06
Rechtsgebiete: VersammlG


Vorschriften:

VersammlG § 15 Abs. 1
VersammlG § 15 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Az.: 3 B 40/06

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Auflösung der Versammlung am 1.9.2001

hat der 3. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch die Richterin am Oberverwaltungsgericht Drehwald, den Richter am Verwaltungsgericht Jenkis und den Richter am Oberverwaltungsgericht Meng ohne mündliche Verhandlung

am 28. August 2009

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 24. November 2005 - 3 K 1735/01 - geändert. Es wird festgestellt, dass die Auflösung der Versammlung der Klägerin am 1.9.2001 rechtswidrig war.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Beklagte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Versammlungsauflösung.

Kurz nach Beginn des unter dem Motto "1. September - damals wie heute: Für Freiheit, Freiheit und Selbstbestimmung" angemeldeten Aufzugs der Klägerin am 1.9.2001 gegen 14.20 Uhr skandierten Versammlungsteilnehmer aus mehreren Reihen die Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS". Laut Verlaufs- und Erfahrungsbericht des Polizeipräsidiums Leipzig vom 19.10.2001 ließ der Polizeiführer den Aufzug aufgrund einer Weisung der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 31.8.2001, wonach die Parole den Anfangsverdacht einer Straftat nach § 86a StGB begründen soll, anhalten, um die Personalien der Teilnehmer festzustellen, die die Parole skandiert hatten. Der Versammlungsleiter sei aufgefordert worden, die betreffenden Teilnehmer von der Versammlung auszuschließen, was dieser abgelehnt habe. In der Folgezeit habe sich der Redner ............... über den Lautsprecherwagen an die Teilnehmer gewandt, mit überschlagender Stimme die Parole skandiert und die Teilnehmer zum Einstimmen animiert, woran sich die überwiegende Anzahl beteiligt habe. Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang sei dem Versammlungsleiter mitgeteilt worden, dass der Anfangsverdacht einer Straftat sich nun gegen alle Teilnehmer richte, und sei die Versammlung deshalb aufgelöst worden.

Die Klägerin hat am 11.10.2001 Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben, die das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 24.11.2005 abgewiesen hat. Der Beklagte sei passivlegitmiert, da die Auflösung der Versammlung durch den zuständigen Polizeivollzugsdienst, den Leiter des Einsatzabschnittes 2, verfügt worden sei. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Auflösung nach § 15 Abs. 3 Alt. 3 (richtig: Abs. 2 Alt. 4) i. V. m. Abs. 1 VersammlG in der zum Zeitpunkt der Auflösung geltenden Fassung sei ausschließlich auf die bei dem Erlass der Verfügung erkennbaren Umstände abzustellen. Ein günstigerer Geschehensablauf sei grundsätzlich nicht geeignet, eine aus früherer Sicht nicht zu beanstandende Prognose zu entkräften. Deshalb sei für die Beurteilung der Auflösung irrelevant, dass es nunmehr in der Rechtsprechung geklärt sei, dass die Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" nicht strafbar sei. Im maßgeblichen Auflösungszeitpunkt sei die Prognose einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt gewesen, da eine für den Polizeivollzugsdienst verbindliche Weisung der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 31.8.2001 hinsichtlich des Anfangsverdachts wegen Verstoßes nach § 86a StGB vorgelegen habe. Danach hätten die zuständigen Stellen davon ausgehen müssen, dass das Skandieren der Parole durch die Versammlungsteilnehmer einen Straftatbestand verwirkliche und damit eine Störung der öffentlichen Sicherheit gegeben sei. Die Weisung der Staatsanwaltschaft sei auch nicht rechtswidrig gewesen, da zum Zeitpunkt ihres Erlasses die Frage der Strafbarkeit der Parole noch umstritten gewesen und erst durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28.7.2005 (3 StR 60/05) geklärt worden sei. Andere, weniger einschneidende Maßnahmen als eine Auflösung der Versammlung seien nicht in Betracht gekommen. Eine entsprechende Auflage sei nicht sinnvoll gewesen, da nach den Einsatzberichten davon auszugehen sei, dass auf Seiten des Veranstalters keine Bereitschaft zur Beachtung bestanden habe.

Gegen das Urteil hat die Klägerin die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Berufung eingelegt und wie folgt begründet: Es habe sich nicht im Nachhinein ein für die Rechtmäßigkeit der Prognose unbeachtlicher günstigerer Geschehensablauf ergeben. Vielmehr sei die Frage der Strafbarkeit der Parole als Kennzeichen im Sinne von § 86a StGB eine objektiv und allgemein zu beantwortende. Im Übrigen wäre selbst ein günstigerer Geschehensablauf zu berücksichtigen, da maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung sei. Ferner sei die Weisung der Staatsanwaltschaft objektiv falsch gewesen. Die Fehleinschätzung, die einer irrigen Mindermeinung entsprochen habe, könne den Beklagten nicht entlasten. Bloße Verstöße gegen die öffentliche Ordnung rechtfertigten keine Versammlungsauflösung. Selbst wenn die Parole nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet hätte, wäre nur der Erlass einer Auflage und erst bei einem Verstoß gegen dieselbe eine Auflösung in Frage gekommen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 24.11.2005 abzuändern und festzustellen, dass die Auflösung ihrer Versammlung am 1.9.2001 rechtswidrig war.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt er vor, es habe eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorgelegen, denn das Skandieren der Parole habe im Zeitpunkt der Auflösung der Versammlung als nach § 86a StGB strafbar gegolten. Die objektive Festlegung der Strafbarkeit sei "kein starres Gebilde, sondern ein dehnbares Geflecht [...], welches Veränderungen unterfällt und unterschiedlichen Interpretationen zugänglich ist". Bis zur ablehnenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs seien beide Ansichten vertreten worden, wobei selbst das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4.1.2002 (NVwZ 2002, 714) die Strafbewehrtheit angenommen habe. Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gemäß § 359 Nr. 5 StPO könne grundsätzlich nur auf neue Tatsachen und Beweismittel, nicht aber auf einen Wandel der Rechtsprechung gestützt werden. Strafrechtliche Gesetzesnormen seien unter Beachtung des Bestimmtheitsgebots verfassungskonformen Auslegungen und Interpretationen unter Berücksichtigung des objektivierten Willens des Gesetzgebers zugänglich. Im Gegensatz dazu sei durch ständige Auslegung der Strafrechtsnormen Gewohnheitsrecht entwickelt worden, welches teilweise sogar zu Ungunsten des Täters eingesetzt werde (z. B. actio libera in causa, Fortsetzungszusammenhang). Keine der beispielhaft aufgezählten Veränderungsmöglichkeiten innerhalb feststehender unveränderter Strafrechtsnormen hätte jedoch zur Folge, dass vorher vertretene abweichende Meinungen als objektiv falsch bewertet würden. Die Objektivierung des Strafrechts unterliege eben Veränderungen, die hier zu einem im Nachhinein günstigeren Geschehensablauf geführt hätten. Zutreffend sei das Verwaltungsgericht auch von den im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen ausgegangen. Dies entspreche schon dem eindeutigen Wortlaut des § 15 Abs. 1 VersammlG und ergebe sich auch aus einer Übertragung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs. Hier habe eine sog. Anscheinsgefahr vorgelegen. Im Zeitpunkt der Prognoseentscheidung habe die Polizei aufgrund verständiger Würdigung des Sachverhalts, insbesondere aufgrund der rechtmäßigen und keine Mindermeinung darstellenden Weisung der Staatsanwaltschaft, nach der das Skandieren der Parole einen Anfangsverdacht auf einen Verstoß gegen § 86a StGB dargestellt habe, eine Gefahrenlage angenommen, die sie zum Einschreiten berechtigt habe. Das polizeiliche Vorgehen sei auch verhältnismäßig gewesen. Die Polizei habe sich zuerst an den Versammlungsleiter gewandt. Erst als dieser sich geweigert habe, seine Pflicht aus § 8 VersammlG wahrzunehmen und zwischenzeitlich der gesamte Aufzug die besagte Parole unter Anweisung des stellvertretenden Versammlungsleiters (gemeint wohl: des Redners .....) skandiert habe, sei die Auflösung angedroht und, nachdem diese milderen Maßnahmen nicht zum erwünschten Unterlassen des Skandierens der Parole geführt hätten, die Versammlung aufgelöst worden. Dies sei zu diesem Zeitpunkt aus ex ante-Sicht das einzig mögliche Mittel gewesen, um zum Erfolg zu kommen. Bei der Abwägung der Interessen der Demonstrationsteilnehmer und der gefährdeten Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit sei auch richtigerweise berücksichtigt worden, dass keinerlei Kooperationsverhalten auf Seiten des Leiters der Versammlung oder durch die Versammlungsteilnehmer bestanden habe, da die Separierung und der Ausschluss der ersten Parolenführer abgelehnt worden sei und keinerlei Maßnahme zum Unterlassen des Skandierens vorgenommen worden sei. Fehlende Kooperationsfähigkeit oder mangelnde Kooperationsbereitschaft des Veranstalters gingen zu dessen Lasten und führten zu einem Absinken der Eingriffs- und Reaktionsschwelle.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verfahrensakten des Senats und des Verwaltungsgerichts, die Verwaltungsakte des Beklagten (1 Heftung), die Kopie der Akte der Staatsanwaltschaft Leipzig (302 Js 59610/01) und die Verwaltungsakte der Stadt Leipzig Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten über die Berufung ohne mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat das für die Zulässigkeit der Klage erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse mit zutreffender Begründung bejaht, weil das Grundrecht der Versammlungsfreiheit stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes gebietet, wenn seine Ausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder - wie hier - die Versammlung aufgelöst worden ist (BVerfG, Urt. v. 3.3.2004, NJW 2004, 2510). Es hat die Klage aber zu Unrecht abgewiesen. Denn die Auflösung der Versammlung war rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 4 i. V. m. Satz 1 VwGO).

Die streitige Auflösungsverfügung war von § 15 Abs. 2 Alt. 4 i. V. m. Abs. 1 VersammlG in der am 1.9.2001 gültigen Fassung als einzig in Betracht kommender Rechtsgrundlage nicht gedeckt. Danach kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot gegeben sind; das ist der Fall, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Diese Auflösungsvoraussetzungen lagen nicht vor.

1. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wird in der Regel angenommen, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht (BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985, BVerfGE 69, 315). Der Beklagte hat die Versammlungsauflösung maßgeblich darauf gestützt, dass bei Fortführung die unmittelbare Gefahr der weiteren Verwirklichung von Straftaten nach § 86a StGB bestehe, weil diese bereits durch das wiederholte Skandieren der Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" seitens der Mehrheit der Versammlungteilnehmer begangen worden seien. Diese Einschätzung des Beklagten und ihm folgend des Verwaltungsgerichts ist fehlerhaft. Das Skandieren der in Rede stehenden Parole war unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs (Urt. v. 28.7.2005, NJW 2005, 3223) und des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. 7.11.2008, EuGRZ 2008, 769 und Beschl. v. 1.6.2006, NJW 2006, 3050), der sich der Senat mit Urteil vom 13.7.2009 (3 B 137/06) angeschlossen hat, nicht nach § 86a StGB strafbar. Es handelte sich weder um die Originalparole einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation, so dass ein tatbestandsmäßiges Handeln im Sinne von § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB ausscheidet, noch war die Parole derjenigen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation zum Verwechseln ähnlich im Sinne von § 86 a Abs. 2 Satz 2 StGB. Ob das Rufen der Parole den mit Art. 2 des Gesetzes vom 24.3.2005 (BGBl. I S. 969) neu geschaffenen Straftatbestand des § 130 Abs. 4 StGB verwirklicht, bedarf keiner Feststellung, da diese Strafnorm seinerzeit noch nicht in Kraft war.

Die Beurteilung, ob das Skandieren der Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" den Straftatbestand des § 86a Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 Satz 2 StGB verwirklicht oder - nach zutreffender Ansicht - nicht, ist eine Frage der Rechtsauslegung, die entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts nicht den Grundsätzen unterliegt, die für die Prognose einer objektiven Gefahr oder einer Anscheinsgefahr gelten. Die in § 15 Abs. 1 VersammlG angesprochenen im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umstände beziehen sich auf Tatsachen, Sachverhalte und Kausalverläufe, die die Annahme einer Gefahr rechtfertigen. Dabei beruht das Urteil, ob tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme einer polizeilichen Gefahr begründen, auf einer Prognose, die auf der Grundlage der im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten zu treffen ist. Bei zutreffender oder nicht pflichtwidrig irriger ex ante-Einschätzung berührt ein späterer günstigerer Geschehensablauf die Rechtsmäßigkeit der ergriffenen Maßnahme nicht. Rechtsfragen wie die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten einen Straftatbestand erfüllt, sind dagegen nicht prognostisch zu bewerten, sondern mittels der Methoden der Rechtsauslegung zu beantworten. Im Ansatz verfehlt ist es daher, die angegriffene Auflösung mit der Begründung zu rechtfertigen, die Polizei habe sich dem von einigen Gerichten vor der höchstrichterlichen Klärung vertretenen Rechtsstandpunkt zur Strafbarkeit anschließen dürfen. Bei der späteren Klärung der Streitfrage durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28.7.2005 handelt es sich nicht - wie das Verwaltungsgericht meint - um einen nachträglichen günstigeren Geschehensablauf, der für die Beurteilung einer tatsächlichen Prognose unbeachtlich wäre. Vielmehr liegt dem Urteil die den Senat überzeugende und von ihm geteilte Rechtserkenntnis zugrunde, dass die umstrittene Parole den Straftatbestand des § 86a Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 Satz 2 StGB nicht verwirklichte. Es fehlte mithin aus Rechtsgründen und nicht - wie bei der Anscheinsgefahr - wegen eines nicht pflichtwidrig irrig prognostizierten tatsächlichen Geschehensablaufs - am Vorliegen einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.

Dem von dem Beklagten zitierten und im Verfahren der einstweiligen Anordnung ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4.1.2002 (NVwZ 2002, 714) wäre selbst dann nichts anderes zu entnehmen, wenn sich die dortige Einschätzung, wonach die strafrechtliche Würdigung in der Verbotsverfügung und den gerichtlichen Entscheidungen nicht offensichtlich fehlsam seien, auf das Skandieren der hier streitigen Parole bezogen hätte. Abgesehen davon, dass das nicht der Fall war, weil das Oberverwaltungsgericht im Ausgangsverfahren eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wegen drohender Verbreitung von Propagandamitteln nach § 86a Abs. 1 Nr. 4 StGB angenommen hatte, unterliegen Rechtsfragen jedenfalls im Hauptsacheverfahren nicht bloß summarischer Prüfung.

Zu keiner anderen Bewertung führt ferner die von dem Beklagten und dem Verwaltungsgericht herangezogene Weisung der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 31.8.2001, wonach die Parole den Anfangsverdacht einer Straftat nach § 86a StGB begründen sollte. Das folgt bereits daraus, dass der bloße Verdacht einer Straftat, der die Staatsanwaltschaft nach § 160 Abs. 1 StPO zur Erforschung des Sachverhalts verpflichtet, nicht ausreicht, um den von § 15 Abs. 1 VersammlG vorausgesetzten Wahrscheinlichkeitsgrad einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu begründen. Denn der Begriff der unmittelbaren Gefährdung in § 15 Abs. 1 VersG stellt besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts und damit auch strengere Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad in dem Sinne, dass ein zum Eingriff berechtigender Sachverhalt (erst) vorliegt, wenn der Eintritt eines Schadens, hier die Verwirklichung des Straftatbestandes nach § 86a StGB, mit hoher Wahrscheinlichkeit, d.h. "fast mit Gewissheit" zu erwarten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.6.2008, BVerwGE 131, 216 unter Bezug auf BVerwG, Beschl. v. 21.8.1985, Buchholz 402.44 Nr. 6 S. 12 m. w. N.).

2. Auch wegen einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung war die Auflösungsverfügung nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 15 Abs. 2 Alt. 4 i. V. m. Abs. 1 VersammlG gedeckt. Zwar hat der Senat in dem Rufen der Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung erblickt, da die Idealisierung und Verherrlichung einer Organisation des nationalsozialistischen Regimes in dieser Form auf allgemeine Empörung stößt, die Angehörigen von Opfern in ihren Gefühlen verletzt und durch das hiermit verbundene Wachrufen der Schrecken des vergangenen totalitären und unmenschlichen Regimes andere Bürger einschüchtert (vgl. Senatsurt. v. 13.7.2009, 3 B 137/06). Gleichwohl war die Auflösung der Versammlung nicht gerechtfertigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf ein Versammlungsverbot nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter, die der Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG zumindest gleichwertig sind, und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen. Eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung, d.h. von ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird, rechtfertigt demgegenüber im allgemeinen ein Versammlungsverbot nicht (BVerfG vom 26.1.2001 NJW 2001, 1409/1410; BVerfG vom 14.5.1985, a. a. O.). Wegen der gleichen Eingriffsintensität gilt Entsprechendes für die hier streitige Versammlungsauflösung.

Vorliegend ist auch nicht deshalb ausnahmsweise eine andere Beurteilung geboten, weil das Verwaltungsgericht - wenn auch in anderem Zusammenhang - angenommen hat, dass andere, weniger einschneidende Maßnahmen als eine Auflösung nicht in Betracht gekommen seien. Soweit das Gericht unter Bezug auf die polizeilichen Einsatzberichte davon ausgeht, dass auf Seiten des Veranstalters keine Bereitschaft zur Beachtung einer (das Skandieren der Parole untersagenden) Auflage bestanden hätte, so dass eine derartige Auflage nicht sinnvoll gewesen wäre, ist diese Einschätzung den Berichten schon nicht hinreichend klar zu entnehmen. Die Polizei hatte danach bereits zu dem Zeitpunkt, als die Parole lediglich aus einzelnen Reihen zu vernehmen war, sich nicht auf ein Verbot des Skandierens beschränkt, sondern von dem Versammlungsleiter den Ausschluss der betreffenden Teilnehmer verlangt, um wegen des bejahten Anfangsverdachts einer Straftat nach § 86a StGB Maßnahmen der Identitätsfeststellung einleiten zu können. Nachdem die überwiegende Mehrheit der Versammlungsteilnehmer, aufgestachelt durch den Redner ....., die Parole skandiert hatte, wurde den Berichten zufolge ebenfalls nicht ein Parolenverbot in Erwägung gezogen, sondern die Auflösung gegenüber dem Versammlungsleiter angekündigt und in der Folge über Lautsprecher bekanntgegeben. Maßgeblich dafür war offenbar die Erwägung, "dass der Anfangsverdacht einer Straftat (vorbehaltlich der Auswertung der Beweismittel) sich nun gegen alle Teilnehmer des Aufzuges richte" (vgl. Bericht des Polizeipräsidiums Leipzig vom 19.10.2001, S. 7 und Bericht der Polizeidirektion Leipzig vom 30.11.2001, S. 1). Auch wenn das Verhalten insbesondere des Redners ..... und des Versammlungsleiters, der diesen gewähren ließ, deutlich provokativ war, ließ es dennoch nicht von vorneherein den Schluss auf eine mangelnde Bereitschaft zu, einem ausdrücklich für sofort vollziehbar erklärten Parolenverbot Folge zu leisten. Wegen der im allgemeinen höheren Eingriffsschwelle für Versammlungsverbote und -auflösungen beim Verstoß gegen die öffentliche Ordnung hätte zunächst diese Auflage als das gegenüber der Auflösung mildere Mittel unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewählt werden müssen. Etwas anderes ergibt sich schließlich nicht unter dem von dem Beklagten angeführten Gesichtspunkt mangelnder Kooperation. Insbesondere machte die Weigerung des Versammlungsleiters, die ersten Parolenführer auszuschließen, sowie das Verhalten des Redners ....., mit dem er gegen keine Auflage verstieß, die Verhängung eines Parolenverbots nicht entbehrlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da ein Revisionsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegt.

Beschluss vom 26. August 2009

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt (§ 52 Abs. 2, § 47 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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