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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 29.07.2008
Aktenzeichen: A 5 B 340/07
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 101 Abs. 2
VwGO § 138 Abs. 3
VwGO § 78 Abs. 3 Nr. 3
1. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO ist dann verbraucht, wenn das Verwaltungsgericht eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts einholt und darüber hinaus erstmals überhaupt Erkenntnismittel in das Verfahren eingeführt hat (im Anschluss an OVG Münster, Beschl. v. 9.11.1998 - 1 A 2531/98.A, DVBl. 1999, 479).

2. Ein Urteil, das ohne gebotene mündliche Verhandlung ergeht, verletzt im Regelfall das Recht auf rechtliches Gehör (§ 138 Nr. 3 VwGO).

3. Ein Urteil, das ohne gebotene mündliche Verhandlung ergangen ist, beruht auf dem Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs, ohne dass dies einer näheren Begründung bedarf.


SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 5. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Raden, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dehoust und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Schmidt-Rottmann

am 29. Juli 2008

beschlossen:

Tenor:

Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 29. Mai 2007 - A 5 K 1396/01 - zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Der am 1966 geborene Beigeladene ist Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongo. Er reiste am 1997 über Luanda und Moskau kommend mit dem Flugzeug nach Frankfurt am Main in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 30.12.1997 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Mit Bescheid vom 21.10.1998 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab, stellte aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo vorliegen.

Am 9.11.1998 erhob der Kläger Klage mit dem Ziel, den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21.10.1998 aufzuheben, soweit mit ihm die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo festgestellt wurden.

Mit Beschluss vom 26.1.2000 übertrug die Kammer dem Berichterstatter das Verfahren. Dieser fragte unter dem 29.3.2000 bei den Beteiligten an, ob sie mit einer Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung einverstanden seien. Mit Schreiben vom 10.4.2000 erklärte der Kläger sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.

Mit Beschluss vom 15.11.2000 ordnete das Verwaltungsgericht das Ruhen des Verfahrens an. Dieses wurde am 22.11.2001 nach Wiederanruf durch den Vertreter des Beigeladenen fortgesetzt. Mit Beschluss vom 18.10.2004 lehnte das Verwaltungsgericht einen zuvor gestellten Antrag des Beigeladenen auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Am 30.3.2005 bestimmte das Verwaltungsgericht unter erstmaliger Einführung von Erkenntnismitteln Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12.5.2005, den es am 28.4.2005 mit dem Hinweis aufhob, dass das Gericht beabsichtige, eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zu der vom Beigeladenen übersandten Pressemitteilung vom 18.3.2005 (zur Situation der UDPS) einzuholen.

Mit Verfügung vom 26.7.2005 erbat das Gericht vom Auswärtigen Amt eine Auskunft darüber, welche Erkenntnisse zu bestimmten Vorgängen im Zusammenhang mit der Tätigkeit der UDPS vorlägen. Das Auswärtige Amt erteilte mit Schreiben vom 2.12.2005 die erbetene Auskunft. Daraufhin bestimmte das Gericht Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 27.11.2006. In diesem Termin erschien lediglich der Beigeladene mit seinem Prozessbevollmächtigten. Letzterer erklärte, dass er auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichte und mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden sei. Die Niederschrift über die Durchführung der mündlichen Verhandlung enthält nach der Aufnahme dieser Verzichtserklärung lediglich noch den Hinweis: "Ende der Verhandlung: 14.11 Uhr".

Am 29.5.2007 erging ohne mündliche Verhandlung das hier mit der Berufung angegriffene Urteil. In den Entscheidungsgründen ist u. a. ausgeführt, dass das Gericht ohne weitere münd-liche Verhandlung entscheiden konnte, da die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Mit seinem am 13.6.2007 beim Verwaltungsgericht Chemnitz eingegangenen Antrag auf Zulassung der Berufung macht der Kläger die Zulassungsgründe des Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 VwGO) sowie die Divergenzrüge i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 2 und die grundsätzliche Bedeutung i. S. v. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG geltend. Den Verfahrensmangel begründet der Kläger damit, dass das Verwaltungsgericht ohne sein Einverständnis ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Seine Verzichtserklärung vom 10.4.2000 sei spätestens mit der Entscheidung über die Aussetzung der für 12.5.2005 terminierten mündlichen Verhandlung wegen der beabsichtigten Einholung einer Auskunft bzw. durch diese Auskunftserteilung verbraucht. Nach dem 10.4.2000 habe er keine weitere wirksame Verzichtserklärung gegenüber dem Verwaltungsgericht abgegeben.

Der Beigeladene ist dem Antrag entgegengetreten. Er ist der Auffassung, dass es sich der Kläger zurechnen lassen müsse, in der mündlichen Verhandlung vom 27.11.2006 nicht erschienen zu sein, indem er den Verzicht auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung erklärt habe.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz ist zulässig und begründet. Der vom Kläger vorgetragene Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO liegt vor.

Nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG ist die Berufung zuzulassen, wenn ein in § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt. Der Kläger macht den Zulassungsgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs i. S. d. § 138 Nr. 3 VwGO geltend. Dieser Zulassungsgrund greift durch. Es stellt einen Verstoß gegen den dem Kläger zustehenden Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dar, dass das Verwaltungsgericht ohne wirksames Einverständnis des Klägers auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hat. Ein Urteil, das ohne gebotene mündliche Verhandlung ergeht, verletzt im Regelfall das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Eine derartige Verfahrensweise schneidet dem betroffenen Beteiligten die Möglichkeit weiteren Vorbringens ab (BVerwG, Beschl. v. 17.10.1997, NVwZ-RR 1998, 525, m. w. N.).

Vorliegend war nach § 101 Abs. 1 VwGO die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten, da es an einem Einverständnis des Klägers nach § 101 Abs. 2 VwGO fehlte.

Das insoweit nicht begründete Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz lässt nicht erkennen, aus welchem Grunde das Gericht von dem Einverständnis des Klägers ausgegangen ist. Das Urteil ist erkennbar nicht auf der Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 27.11.2006 ergangen. Diese mündliche Verhandlung ist ausweislich der über sie gefertigten Niederschrift weder geschlossen worden, noch ist auf ihrer Grundlage eine gerichtliche Entscheidung, etwa die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, beschlossen worden. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht am 29.5.2007 ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Sollte das Verwaltungsgericht davon ausgegangen sein, der Kläger habe mit Schreiben vom 10.4.2000 sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung erteilt, so ist dieser Rückgriff auf die frühere Verzichtserklärung unzulässig. Denn dieser Verzicht auf mündliche Verhandlung war im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 29.5.2007 - und damit sieben Jahre später - nicht mehr wirksam, weil er verbraucht gewesen ist.

Der Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO stellt zwar eine grundsätzlich unwiderrufliche Prozesshandlung dar (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.8.1995, DÖV 1996, 700, m. w. N.). In der Rechtsprechung ist auch geklärt, dass das Verfahren der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in § 101 Abs. 2 VwGO für den Verwaltungsprozess eine eigenständige Regelung erfahren hat und deshalb § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO, wonach das Gericht nur innerhalb dreier Monate nach Erklärung der Zustimmung der Parteien ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, im Verwaltungsstreitverfahren nicht gem. § 173 VwGO anwendbar ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.8.1995, a. a. O., m. w. N.).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 29.8.1995, a. a. O., m. w. N.) bezieht sich der Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO seinem Inhalt nach lediglich auf die nächste Entscheidung des Gerichts und wird - wenn diese kein abschließendes Urteil ist - dadurch verbraucht. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung ist deshalb nicht mehr als wirksam oder gegenstandslos anzusehen, wenn nach dem Verzicht ein Beweisbeschluss ergeht, den Beteiligten durch Auflagenbeschluss eine Stellungnahme abgefordert wird oder Akten zu Beweiszwecken beigezogen werden.

Ausgehend von diesen Grundsätzen war der frühere Verzicht auf mündliche Verhandlung im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts gegenstandslos. Nach Abgabe der Verzichtserklärung des Klägers im Jahre 2000 hat das Verwaltungsgericht nach Vorlage einer Pressemitteilung durch den Beigeladenen mit einer Anfrage eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zur näheren Aufklärung des Sachverhalts eingeholt. Darüber hinaus sind nach Abgabe der Verzichtserklärung erstmals überhaupt Erkenntnismittel in das Verfahren eingeführt worden. Im Zusammenwirken dieser Umstände ist der Verzicht auf mündliche Verhandlung als verbraucht anzusehen (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 9.11.1998, DVBl. 1999, 479).

Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler. Davon ist kraft Gesetzes auszugehen, ohne dass dies einer konkreten Prüfung bedarf. Es liegt nämlich nicht nur eine Verletzung des § 101 Abs. 1 VwGO vor. Gleichzeitig ist in Ermangelung einer mündlichen Verhandlung nämlich der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 VwGO erfüllt, auf den § 78 Nr. 3 AsylVfG Bezug nimmt. Bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes ist das angegriffene Urteil ohne weitere Prüfung als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen (BVerwG, Beschl. v. 17.10.1997, NVwZ-RR 1998, 525). Diese vom Bundesverwaltungsgericht für den absoluten Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 VwGO entwickelten Grundsätze sind auch für die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. der vorgenannten Vorschrift maßgeblich.

Im Hinblick auf die Zulassung der Berufung wegen des Vorliegens eines Verfahrensmangels i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO kann dahingestellt bleiben, ob die Berufung auch aus den weiteren vom Kläger vorgetragenen Zulassungsgründe des § 78 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 AsylVfG geboten wäre.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).

Belehrung zum Berufungsverfahren

Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht, Ortenburg 9, 02625 Bautzen, einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht gestellten Antrag verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).

Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

Für den Berufungskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Berufung. Der Berufungskläger muss sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen. Ein Beteiligter, der zur Vertretung berechtigt ist, kann sich selbst vertreten.



Ende der Entscheidung

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