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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 05.12.2002
Aktenzeichen: 3 Sa 151/02
Rechtsgebiete: BetrVG, InsO


Vorschriften:

BetrVG § 111 ff
BetrVG § 113
InsO § 38
InsO § 123 Abs. 2
Die Vorschriften des BetrVG über Interessenausgleich, Sozialplan und Nachteilsausgleich haben auch in der Insolvenz Geltung ohne Rücksicht darauf, ob schon bei Insolvenzeröffnung ein Betriebsrat bestand oder ob er erst danach gewählt wurde.
Tenor:

1) Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Jena - 3/4/3 Ca 259/01 - vom 21.12.2001 wird zurückgewiesen.

2) Der Beklagte trägt die Kosten der Berufung

3) Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin macht mit ihrer Klage, soweit in der Berufungsinstanz noch anhängig, die Verpflichtung des Beklagten geltend, an die Klägerin einen Nachteilsausgleich gem. § 113 BetrVG zu zahlen.

Die Klägerin war bis zu ihrer Kündigung am 30.06.2001 bei der Gemeinschuldnerin tätig. Über deren Vermögen wurde mit Beschluss vom 01.11.1999 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Verwalter bestimmt. Vor Insolvenzeröffnung bestand im Betrieb der Gemeinschuldnerin noch kein Betriebsrat. Dieser wurde im Jahre 2000 gewählt und konstituierte sich ebenfalls in diesem Jahr. Nach eigenem Vortrag kam der Beklagte Anfang März 2001 zu dem Ergebnis, dass der in J. befindliche Betrieb der Gemeinschuldnerin, in welchem die Klägerin beschäftigt war, geschlossen werden müsse. Der Schließungsplan zum 31.05.2001 sei am 19.03.2001 aufgestellt worden.

Ein schriftlicher Interessenausgleich wurde zwischen dem Beklagten und dem Betriebsrat nicht abgeschlossen.

Wegen des erstinstanzlichen Parteivortrages, wegen der gestellten Anträge und wegen der richterlichen Feststellungen wird gem. § 69 Abs. 3 ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die erstinstanzlich zu den Akten gereichten Schriftsätze und Schriftstücke Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Jena hat mit Urteil vom 21.12.2001 die Kündigungsschutzklage der Klägerin abgewiesen und dem Antrag der Klägerin auf Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet sei, an die Klägerin eine angemessene Abfindung zu zahlen mit einem Betrag in Höhe von 5.000,00 DM stattgegeben.

Gegen dieses ihm am 18.02.2002 zugestellte Urteil legte der Beklagte am 18.03.2002 Berufung ein und begründete diese Berufung nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 21.05.2002 am 21.05.2002.

Der Beklagte wiederholt und vertieft im wesentlichen seinen Vortrag erster Instanz und weist insbesondere darauf hin, dass nur diejenigen Ansprüche gemeinschaftlich gem. § 38 InsO befriedigt werden sollten, die schon vor der Insolvenzeröffnung bestanden hätten. Zudem bestehe ein Anspruch auf Nachteilsausgleichung gem. § 113 BetrVG deswegen nicht, weil der Betriebsrat erst nach Insolvenzeröffnung gebildet worden sei. Es widerspreche aber dem Grundgedanken der Insolvenzordnung, dass es die Arbeitnehmer in der Hand hätten, mit der Bildung eines Betriebsrates noch nach Insolvenzeröffnung eine Vorrangbefriedigung vor den normalen Insolvenzgläubigern zu erlangen. Schließlich sei der Insolvenzverwalter in bis dahin betriebsratslosen Betrieben praktisch gezwungen, den insolventen Betrieb zu zerschlagen, um eine Schmälerung der Masse durch Abfindungsansprüche zu vermeiden, die wegen der Existenz eines nach Insolvenzeröffnung gewählten und gebildeten Betriebsrats in Form von Abfindungsansprüchen der Arbeitnehmer entstehen könnten.

Der Beklagte (Berufungskläger) beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Jena vom 21.12.2001 - 3/4/3 Ca 259/01 - abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin (Berufungsbeklagte) beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin bezieht sich zur Begründung auf die rechtlichen Ausführungen des Arbeitsgerichts Jena im angefochtenen Urteil.

Wegen des übrigen Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der in der Berufungsinstanz zu den Akten gereichten Schriftsätzen und Schriftstücke und auf den Inhalt der Protokolle der mündlichen Verhandlungen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 64 Abs. 2 b ArbGG statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete und insgesamt zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Gericht bezieht sich vollinhaltlich gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand und die äußerst sorgfältig und zutreffend dargestellten Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils vom 21.12.2001.

Die Ausführungen des Beklagten in der Berufungsbegründung geben lediglich Anlass für ergänzende Hinweise.

Zutreffend hat das Arbeitsgericht den Feststellungsantrag für die zulässige Klageform gehalten. Bei Gefahr der Masseunzulänglichkeit, die im vorliegenden Falle vom Beklagten angezeigt worden ist, dürfen einzelne Massegläubiger nicht ohne Rücksicht auf andere ranggleiche Gläubiger in die Masse vollstrecken. Ein Leistungsurteil darf daher nicht ergehen. Stattdessen ist ein Feststellungsurteil sachgerecht, da davon auszugehen ist, dass der Insolvenzverwalter - der Beklagte - aufgrund des Feststellungsurteils unter Beachtung des § 209 InsO den festgestellten Betrag zahlen wird. Durch das Urteil ist die Forderung lediglich festzustellen (vgl. BAG, Urteil vom 31.01.1979 - 5 AZR 749/77 -; AP Nr. 1 zu § 60 KO mit immer noch zutreffender Begründung zur insoweit nur geringfügig modifizierten Insolvenzordnung).

Der Beklagte wendet sich nicht gegen die zutreffende Ansicht des Arbeitsgerichts, dass die Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes über Interessenausgleich, Sozialplan und Nachteilsausgleich bei Betriebsänderungen auch in der Insolvenz Geltung haben. Der Beklagte ist allerdings der Auffassung, die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen setze einen bereits bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehenden Betriebsrat voraus. Zu dieser Auffassung des Beklagten hat das Arbeitsgericht in den Gründen des angefochtenen Urteils (Bl. 15 f d. U.) ausführlich und zutreffend Stellung genommen. Zur Ansicht des Beklagten, nur diejenigen Ansprüche sollten gemeinschaftlich befriedigt werden, die schon vor der Insolvenzeröffnung bestanden hätten (§ 38 InsO), ist auszuführen, dass dieses für die Ansprüche aus § 111 ff BetrVG nicht gilt, denn auch dann, wenn der Betriebsrat schon vor der Insolvenzeröffnung bestanden hatte, wird bei einem Interessenausgleich/Sozialplan unter Umständen erst nach der Insolvenzeröffnung klar, ob überhaupt und wenn ja, welche Ansprüche aus diesem Grunde auf die Masse zukommen. Dieses gilt immer dann, wenn die entsprechenden Verhandlungen erst nach der Insolvenzeröffnung abgeschlossen oder sogar erst nach der Eröffnung aufgenommen werden. Die zur Verteilung stehende Masse ist immer bedroht von neuen bislang unbekannten Forderungen und von potentiellen Forderungen aus einem während des Insolvenzverfahrens erst abgeschlossenen Sozialplan. In diesem Falle ist sie ohnehin zugunsten anderer Gläubiger gemäß § 123 Abs. 2 InsO begrenzt auf maximal 1/3 der Masse.

Ein besonderes schutzwürdiges Vertrauen der Insolvenzgläubiger gibt es in diesem Falle nicht. Außerhalb des Insolvenzverfahrens kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Beschluss vom 28.10.1992 - 10 ABR 75/91 - EzA § 112 BetrVG 72 Nr. 60) für die Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei einer Betriebsänderung darauf an, dass der Betriebsrat schon zum Zeitpunkt der unternehmerischen Entscheidung existierte. Die unternehmerische Entscheidung war der Beschluss zur Stilllegung des Betriebs J.. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist eine solche unternehmerische Entscheidung nicht, da das Insolvenzgericht keine unternehmerische, sondern lediglich eine vom Gesetz vorgegebene Entscheidung trifft. Welche unternehmerischen Entscheidungen anschließend vom Insolvenzverwalter getroffen werden, bleibt offen. Um einen Vertrauensschutz der Insolvenzgläubiger kann es nicht gehen. Der Arbeitgeber, der eine Betriebsänderung beschließt - z. B. eine Betriebseinschränkung - hat deren Kosten zu kalkulieren. Besteht noch kein Betriebsrat, so entfallen die Kosten für einen dann unter Umständen notwendigen Sozialplan. Die Kalkulationsgrundlage der Entscheidung verändert sich unter Umständen wesentlich, wenn ein erst nach der Entscheidung und dem Beginn der Durchführung gewählter Betriebsrat die Aufstellung eines Sozialplans verlangen könnte. Um diesen Vertrauensschutz als berechtigtes und schützenswertes Interesse des Unternehmers geht es. Es fehlt aber im Falle der Insolvenzgläubiger. Sie haben die Geschäftsbeziehungen, die zu ihrer Gläubigerstellung geführt haben, nicht vom Fehlen eines Betriebsrates bei dem späteren Gemeinschuldner abhängig gemacht. Es fehlt daher an einem Grund für ein schützenswertes Interesse der Gläubiger am ungeschmälerten Bestand der Masse so wie sie zum Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses bestand. Wird der Insolvenzverwalter werbend tätig, führt er also das insolvente Unternehmen weiter, so ist hiermit ohnehin das Risiko verbunden, dass die Masse weiter geschmälert wird. Dieses Risiko der wirtschaftlichen Betätigung tragen die Insolvenzgläubiger ebenso wie das normale unternehmerische Risiko, dass im Betrieb ein Betriebsrat gebildet und eine Betriebsänderung eventuell erschwert und durch einen Sozialplan verteuert wird.

Der Hinweis des Beklagten darauf, der Insolvenzverwalter müsse entgegen der Intention der Insolvenzordnung das insolvente Unternehmen möglichst schnell liquidieren, um der Wahl und der Konstituierung eines bei Insolvenzeröffnung noch nicht bestehenden Betriebsrats zuvorzukommen und auf diese Weise den Insolvenzgläubigern die um Abfindungsforderungen nicht geschmälerte Masse zu sichern, mag im Einzelfalle zutreffen. Indessen sind die Sozialplanansprüche zwar kraft Gesetzes Masseverbindlichkeiten, § 123 Abs. 2 S. 1 InsO, für ihre Berichtigung darf jedoch nicht mehr als 1/3 der Masse verwendet werden, die ohne einen Sozialplan zur Verfügung stünde, § 123 Abs. 2 S. 2 InsO. Angesichts dieser Regelung kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber noch einen weiteren Spielraum zur Abwehr von Abfindungsansprüchen im Insolvenzverfahren geben wollte.

Nicht zu beanstanden ist die Höhe des im angefochtenen Urteil auf 5.000,00 DM (2.556,46 €) festgesetzten Nachteilsausgleichs gem. § 113 Abs. 3 BetrVG. Bei einer ca. siebenjährigen Betriebszugehörigkeit der Klägerin erscheint ein Betrag von zwei Monatsgehältern als Abfindung auch unter Berücksichtigung der schlechten wirtschaftlichen Lage des Beklagten angemessen.

Der Beklagte trägt gem. § 97 ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens, während es im übrigen bei dem Kostenausspruch erster Instanz verbleibt.

Die Revision wurde gem. § 72 Abs. 1 ArbGG zugelassen, da die Rechtssache gem. § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG grundsätzliche Bedeutung hat. Das Bundesarbeitsgericht hat bisher nicht entschieden, welche Auswirkungen auf die Beteiligungsrechte nach Betriebsverfassungsgesetz der Umstand hat, dass der Betriebsrat erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gebildet wurde.

Ende der Entscheidung

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