Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 10.10.2005
Aktenzeichen: 7/4/7 Sa 196/04
Rechtsgebiete: ArbGG


Vorschriften:

ArbGG § 9 Abs. 5 Satz 4, 1. Halbsatz
ArbGG § 66 Abs. 1 Satz 1
ArbGG § 66 Abs. 1 Satz 2
Seit Inkrafttreten der Neufassung von § 66 Abs. 1 ArbGG im ZPO-ReformG vom 17.05.2001 findet § 9 Abs. 5 Satz 4 1. Halbsatz ArbGG auf Urteile in Verfahren nach § 3 ArbGG keine Anwendung mehr.

Die Neuregelung stellt eine abschließende Regelung für die Ermittlung des Zeitpunktes dar, mit dem die Berufungsfrist beginnt.


Tenor:

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen vom 17.10.2003 - Az.: 4 Ca 18/01 - wird auf seine Kosten als unzulässig verworfen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten mit der am 19.05.2004 beim Thüringer Landesarbeitsgericht eingegangenen Berufung des Beklagten gegen ein am 17.10.2003 verkündetes und ihm am 29.04.2004 zugestelltes klagestattgebendes Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen auch weiterhin um die soziale Rechtfertigung der unter Vorbehalt von der Klägerin angenommenen Änderung von Vertragsbedingungen aufgrund einer Änderungskündigung des Beklagten vom 18.12.2000.

Der Beklagte hält seine Entscheidung, sämtliche bei ihm beschäftigten Erzieherinnen in allen von ihm betriebenen Kindertagesstätten nur noch in einem Umfang von 25 Stunden pro Woche zu beschäftigen, für rechtlich nicht zu beanstanden und meint, sein Rechtsmittel sei rechtzeitig eingelegt weil mit Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung des angegriffenen Urteils eine mit gesetzlich vorgeschriebener Rechtsmittelbelehrung versehene Entscheidung nicht vorgelegen und sich deshalb die Berufungsfrist um ein Jahr verlängert habe.

Er beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen vom 17.10.2003 - Az.: 4 Ca 18/01 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt nach Hinweis des Gerichts auf seine Zulässigkeitsbedenken,

die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vortrages und mit Hinweis auf 7 zwischenzeitlich von 6 Kammern des Thüringer Landesarbeitsgerichts zugunsten der jeweiligen Klägerinnen entschiedene Rechtsstreite gegen den Beklagten mit vergleichbaren Streitgegenständen.

Hinsichtlich der Berufungsformalien wird auf den Inhalt der mündlichen Verhandlung vom 10.10.2005 (Bl. 316 und 317 d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist statthaft, weil gegen Urteile der Arbeitsgerichte die Berufung an die Landesarbeitsgerichte stattfindet (§ 64 Abs. 1 ArbGG) und der Wert des Beschwerdegegenstandes mit 1.474,57 € den Rechtsmittelwert von § 64 Abs. 2 lit b ArbGG übersteigt.

Die Berufung ist jedoch unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlichen Notfrist von einem Monat (§ 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG) eingelegt ist. Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG in der Fassung des ZPO-ReformG vom 17.05.2001 beginnt die Berufungsfrist mit Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Durch diese mit Wirkung zum 01.01.2002 in kraft getretene Änderung hat das Gesetz für das arbeitsgerichtliche Verfahren den gleichen Anknüpfungspunkt an den Beginn der Berufungsfrist geknüpft wie in § 517 ZPO für den allgemeinen Zivilprozess. Hinsichtlich der Fristberechnung wird somit der Tag des Ablaufs der 5-Monatsfrist wie der Zustellungstag eines vollständig abgefassten Urteils behandelt.

Die am 19.05.2004 eingegangene Berufung (Bl. 251 d. A.) des Beklagten hat diese Frist nicht gewahrt, weil das angegriffene Urteil am 17.10.2003 verkündet worden ist (Bl. 233 d. A.) und damit die Berufungsfrist des § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG am 17.03.2004 begann und am 17.04.2004 endete. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils bei dem Berufungsführer erst am 29.04.2004 erfolgte. Insoweit hat er zwar angenommen, die fehlende Zustellung bei Beginn der Berufungsfrist stehe der Zustellung eines Urteils ohne Rechtsmittelbelehrung gleich, was gem. § 9 Abs. 5 ArbGG dem Berufungsführer eine 12-monatige Rechtsmittelfrist einräume und hat dies damit begründet, dass die Begründung zum ZPO-ReformG nicht erkennen lasse, dass die von der Rechtsprechung nach altem Prozessrecht angenommene Berufungsfrist von 17 Monaten bei unterbliebener Urteilszustellung habe geändert werden sollen. Im Übrigen sei es widersprüchlich, dass die Berufungsfrist bei nicht zugestellten Urteilen kürzer sein soll als bei zugestellten Urteilen mit fehlender Rechtsmittelbelehrung.

Daran trifft aber nur zu, dass gem. § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG gegen ein arbeitsgerichtliches Urteil ohne oder mit fehlerhafter Rechtsmittelbelehrung innerhalb einer Frist von einem Jahr Berufung eingelegt werden kann und das Bundesarbeitsgericht in früher ständiger Rechtsprechung angenommen hat, bei unterbliebener Urteilszustellung folge der sich aus § 516 ZPO a. F. ergebenden 5-monatigen Berufungsfrist die Jahresfrist von § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG (etwa: BAG Urteil vom 08.06.2000 - 2 AZR 584/99 - = EzA ArbGG 1979 § 9 Nr. 15). Auch hat sich an der nach altem Prozessrecht bestehenden Ausgangslage durch das ZPO-ReformG insoweit nichts geändert, als nach wie vor durch Ablauf von 5 Monaten der Zustellungszeitpunkt für das in vollständiger Form abgefasste Urteil ersetzt wird, ohne dass dem Berufungsführer zu diesem Zeitpunkt eine Rechtsmittelbelehrung vorliegt.

Allerdings kann die vormalige Auffassung des Bundesarbeitsgerichts seit Inkrafttreten von § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG n. F. keine Geltung mehr beanspruchen, weil hierdurch die ausdrückliche Regelung dieser Vorschrift missachtet wird, die Berufungsfrist beginne spätestens 5 Monate nach Urteilsverkündung zu laufen. Das Rangverhältnis der kollidierenden Vorschriften in § 66 Abs. 1 Satz 2 und § 9 Abs. 5 ArbGG wird auch in der Literatur nicht einheitlich gesehen, wobei die Mehrheit sich gegen eine Aufrechterhaltung der vormaligen Rechtsprechung ausspricht (Ostrowicz/Künzl/Schäfer, Der Arbeitsgerichtsprozess, 2. Aufl., Rz 189 a; Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 4. Aufl., § 66 Rz. 15 a; Hauck/Helml, ArbGG, 2. Aufl. § 66 Rz. 10 GK-ArbGG/Bader, § 9 Rz. 111 a; Schmidt/Schwab/Wildschütz, "Die Auswirkungen der Reform des Zivilprozesses auf das arbeitsgerichtliche Verfahren" NZA 2002 1161 und 1217; Schwab, "Die 5-Monatsfrist im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren" FA 2003, 258; a.A. Holthaus/Koch, "Auswirkungen der Reform des Zivilprozessrechts auf das arbeitsgerichtliche Verfahren" RdA 2002, 140; Diederich/Hanau/Schaub Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 4. Aufl., § 66 ArbGG Rz. 12 [Koch]). Die Entwicklung dieses Meinungsstreits spiegelt sich auch in der Rechtsprechung wider. Während die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Köln (Urteil vom 20.02.2003 - 10 Sa 801/02, NJW-RR 2003, 602) noch annimmt, die innerhalb von 5 Monaten nicht zugestellte Entscheidung setze auch nach neuem Recht eine Rechtsmittelfrist von 17 Monaten in Gang, räumen die 3. Kammer des LAG Köln (Urteil vom 24.09.2003 - 3 Sa 232/03 = ArbRB 2003, 367) und das LAG Nürnberg (Beschluss vom 28.10.2002 - 2 SHa 5/02 - = LAGR 2003, 86) dem Wortlaut von § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG den Vorrang ein.

Diese divergierenden Auffassungen in der Rechtsprechung sind zwischenzeitlich durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aufgelöst worden. Sowohl im Urteil des 4. Senats vom 03.11.2004 (4 AZR 531/03) wie auch im Urteil des 2. Senats vom 02.06.2005 (2 AZR 177/04) wird darauf abgestellt, dass eine Gegenüberstellung der beiden Normen schon deshalb dazu führen muss, der längstens 5-monatigen Berufungsfrist den Vorrang einzuräumen, weil anderenfalls die Berufungsfrist noch laufen kann, während die Berufungsbegründungsfrist bereits abgelaufen ist. Dies folgt aus dem Umstand, dass der in § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG vorgeschriebene Fristenbeginn nicht nur für die Einlegung der Berufung sondern auch für deren Begründung maßgeblich ist, während der in § 9 Abs. 5 ArbGG enthaltene Begründungszwang sich lediglich auf die Rechtsmittelfrist, nicht jedoch auf die Frist zur Begründung des Rechtsmittels bezieht (so schon BAG vom 05.02.2004 - 8 AZR 112/03 - = EzA BGB 2002, § 611 a Nr. 3). Bei Erweiterung der Neuregelung durch § 9 bs. 5 Satz 4 ArbGG würde aber der Gleichklang beider Fristen, welche das Gesetz mit seiner Fassung ab 01.01.2002 herbeiführen wollte, wieder beseitigt. Überdies würde eine Auflösung des durch § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG geschaffenen Gleichklangs auch der Absicht des Gesetzgebers widersprechen, das Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen beschleunigt durchzuführen (§ 9 Abs. 1 ArbGG).

Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an. Insbesondere teilt das Gericht nicht die Auffassung des Beklagten, die Gesetzesbegründung enthalte für eine mit der ZPO-Reform beabsichtigte Änderung der Rechtslage keine Anhaltspunkte.

Immerhin muss dem Reformgesetzgeber zugute gehalten werden, dass ihm die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur verlängerten Rechtsmittelfrist bei Verstößen gegen die Belehrungsfrist bekannt war. Wenn trotzdem in § 66 Abs. 1 S. 2 ArbGG ausdrücklich der Beginn der Berufungsfrist an den Ablauf einer Zeitspanne von 5 und nicht von 12 oder 17 Monaten geknüpft worden ist, liegt eine von den Gerichten hinzunehmende Wertentscheidung des Gesetzgebers im Gesetzeswortlauf selbst vor.

Dieses Ergebnis folgt im Übrigen auch aus allgemeinen Auslegungsgrundsätzen. Wenn nämlich angenommen wird, dass sich die Rechtsfolgen von § 9 Abs. 5 ArbGG einerseits und § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG andererseits ausschließen, führt das Verhältnis der Spezialität immer zur Verdrängung der allgemeinen Norm, weil sonst für die spezielle Norm kein Anwendungsfeld mehr bliebe (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S 268). Auch die Auflösung einer Normenkollission zwischen einer älteren und einer jüngeren Vorschrift auf gleicher Rangstufe führt dazu, dass das später erlassene Gesetz dem älteren vorgeht (Larenz, a. a. O. S. 266). Dies bedeutet, dass die später in kraft getretene und speziellere Vorschrift von § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG der älteren Norm des § 9 Abs. 5 ArbGG vorgeht. Schließlich lässt sich die Auffassung des Beklagten auch nicht mit den Ausführungen des gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes im Beschluss vom 27.04.1993 (GmS-OGB 1/92 = NZA 1993, 1147) und mit der des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 26.03.2001 (1 BvR 383/00 = NZA 2001, 982) in Einklang bringen, wonach ein absoluter Revisionsgrund vorliegt, wenn ein Landesarbeitsgericht gegen die 5-Monatsfrist (des vormaligen § 516 ZPO a. F.) verstoße, weil das bei Überschreiten dieser Frist denkbare Auseinanderfallen von Beratungsergebnis und Entscheidungsgründen eine rechtsstaatlichen Anforderungen nicht mehr genügende Urteilsbegründung nicht ausschließen könne (so auch Schwab, "Die Berufung im arbeitsgerichtlichen Verfahren" Seite 182). Damit besteht für § 9 Abs. 5 Satz 4, 1. Halbsatz ArbGG seit Inkrafttreten des ZPO-ReformG am 01.01.2002 nur noch ein eingeschränkter Anwendungsbereich, weil Urteile in Verfahren nach § 2 ArbGG durch die speziellere Neuregelung einem abschließenden Fristenberechnungsprogramm unterstellt werden. Dies schließt bei fehlender oder unvollständiger Rechtsmittelbelehrung in einem Urteil im Zustellzeitpunkt die Verlängerung der Berufungsfrist um ein Jahr aus.

Nach all diesem steht fest, dass die gesetzliche Notfrist zur Einlegung der Berufung gegen das am 17.10.2003 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen am 17.04.2004 abgelaufen ist. Die am 19.05.2004 beim Thüringer Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung konnte diese Frist nicht mehr wahren und ist damit unzulässig. Nachdem der Beklagte trotz entsprechenden Hinweises des Gerichts vom 14.09.2005 auf diese Rechtsfolge das Rechtsmittel aufrechterhalten hat, war es nach mündlicher Verhandlung durch die Kammer mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen (§ 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

Für eine Revisionszulassung war kein Raum, weil die Voraussetzungen von § 72 Abs. 2 ArbGG nicht vorliegen, denn die von Berufungsführer aufgeworfene Rechtsfrage ist zwischenzeitlich durch das Bundesarbeitsgericht abschließend entschieden ohne dass die Kammer Anlass gesehen hat, hiervon abzuweichen. Gemäß § 72 Abs. 1 Satz 2 i. V. mit § 64 Abs. 3 a ArbGG war diese Folge in den Urteilsausspruch aufzunehmen.

Ende der Entscheidung

Zurück