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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 26.10.2005
Aktenzeichen: 1 KO 1180/03
Rechtsgebiete: ThürBO


Vorschriften:

ThürBO § 6 Abs. 1 S. 2 idFv 25.03.2004
ThürBO § 6 Abs. 2 S. 2 idFv 03.06.1994
ThürBO § 6 Abs. 2 S. 2 idFv 25.03.2004
ThürBO § 6 Abs. 6 idFv 25.03.2004
ThürBO § 6 Abs. 7 idFv 03.06.1994
ThürBO § 6 Abs. 10 idFv 03.06.1994
ThürBO § 6 Abs. 12 idFv 03.06.1994
Von einer großflächigen Werbeanlage (3,90 x 2,89 m bei einer Tiefe von 0,64 m) auf einem 2,50 m hohen Standfuß gehen auch dann Wirkungen wie von einem Gebäude im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 2 ThürBO n. F. (§ 6 Abs. 10 ThürBO a. F.) aus, wenn sie nicht parallel, sondern quer zur Nachbargrenze errichtet wird. Sie muss daher zu Nachbargrenzen Abstandsflächen einhalten.
THÜRINGER OBERVERWALTUNGSGERICHT - 1. Senat - Im Namen des Volkes Urteil

1 KO 1180/03 Verkündet am 26.10.2005

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Baurechts (hier: Berufung)

hat der 1. Senat des Thüringer Oberverwaltungsgerichts durch den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Dr. Schwan, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Hüsch und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Preetz aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. Oktober 2005 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 7. August 2003 - 4 K 786/02 GE - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung nach Maßgabe der Kostenfestsetzung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte wendet sich gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil, durch das eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung auf die Nachbarklage der Klägerin aufgehoben worden ist. Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks L in G (Flurstück Nr. a der Flur 4 der Gemarkung Gera); sie betreibt dort ein Autohaus. Für das Gebiet wurde eine Satzung über einen Vorhaben- und Erschließungsplan verabschiedet, die jedoch nicht ausgefertigt worden ist.

Die Beigeladene beantragte am 01.06.1997 die Erteilung einer Baugenehmigung für die Aufstellung einer großformatigen Werbe- und Informationsanlage "Typ Senior" auf einem östlich an das Grundstück der Klägerin grenzenden und entlang der L - verlaufenden Geh- und Radweg. Mit Bescheid vom 07.10.1997 erteilte die Beklagte die Baugenehmigung. Die inzwischen errichtete Werbeanlage besteht aus einem 2,50 m hohen Standfuß und dem darauf angebrachten eigentlichen Werbeträger mit einer Höhe von 2,89 m und einer Breite von 3,90 m, der für doppelseitige Wechselwerbung geeignet ist. Die Werbeanlage steht quer zur Grenze des Grundstücks der Klägerin und hält mit dem eigentlichen Werbeträger zu dieser nur einen Abstand von wenigen Zentimetern ein.

Nachdem die Klägerin unter dem 12.11.1997 über die Erteilung der Baugenehmigung informiert worden war, erhob sie am 09.12.1997 Widerspruch, mit dem sie u. a. die fehlende Einhaltung von Abstandsflächen rügte. Das Thüringer Landesverwaltungsamt wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.05.2002 zurück. Bei der Werbeanlage handele es sich nicht um ein Gebäude im Sinne von § 2 Abs. 3 ThürBO. Von ihr gingen auch keine gebäudeähnlichen Wirkungen im Sinne des § 6 Abs. 10 ThürBO aus, da sie lediglich mit der 0,76 m breiten Schmalseite an der Grenze zum Grundstück der Klägerin stehe. Sie beeinflusse die Belichtung, Besonnung und Belüftung des Nachbargebäudes nicht nachteilig und sei auch brandschutzrechtlich unproblematisch.

Hiergegen hat die Klägerin am 24.06.2002 beim Verwaltungsgericht Gera Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass entgegen den Ausführungen im Widerspruchsbescheid die Regelung des § 6 Abs. 10 ThürBO Anwendung finde. Es handele sich um eine 5,39 m hohe Werbeanlage mit einer großflächigen Werbetafel.

Die Klägerin hat beantragt,

die Baugenehmigung der Beklagten vom 07.10.1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.05.2002 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, dass der Werbeanlage nicht die Wirkung eines Gebäudes zukomme. Neben dem Ort des Aufstellens und der Größe der Anlage müsse auch die Stellung zum Nachbargrundstück beachtet werden. Die Werbeanlage stehe nicht längs, sondern quer zum Autohaus W . Eine Beeinträchtigung der durch die Abstandsvorschriften geschützten Belange könne daher nicht angenommen werden.

Das Verwaltungsgericht Gera hat der Klage durch Urteil vom 07.08.2003 stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung hat es darauf verwiesen, dass die Baugenehmigung gegen die nachbarschützende Bestimmung des § 6 ThürBO verstoße, da sie den nach § 6 Abs. 5 ThürBO erforderlichen Mindestabstand von 3 m zur Grenze des Grundstücks der Klägerin nicht einhalte. Von der Werbeanlage der Beigeladenen gingen entgegen der Auffassung der Beklagten und den Ausführungen im Widerspruchsbescheid Wirkungen wie von Gebäuden im Sinne des § 6 Abs. 10 ThürBO aus. Ob dies der Fall sei, beurteile sich danach, ob von der baulichen Anlage vergleichbare Wirkungen ausgingen, die bei Gebäuden die Einhaltung von Abstandsflächen erforderlich machten. Es sei maßgeblich darauf abzustellen, ob die durch die Abstandsflächenvorschriften der Thüringer Bauordnung geschützten Belange durch diese baulichen Anlagen ebenso beeinträchtigt würden, wie dies bei Gebäuden der Fall sei. Die Regelungen über die Abstandsflächen dienten dem Brandschutz, der Sicherstellung von Belichtung, Belüftung und Besonnung des Nachbargrundstücks sowie der Schaffung eines gewissen Mindestabstandes und Freiraumes zwischen Gebäuden (so genannter Sozialabstand). Abgesehen von Belangen des Brandschutzes, der bei Werbetafeln aufgrund deren Ausgestaltung in der Regel kaum eine Rolle spiele, gingen von großflächigen Werbeanlagen unter den sonstigen genannten Gesichtspunkten ähnliche Wirkungen wie von massiven Gebäuden aus. Dies müsse nicht nur gelten, wenn die Anlagen parallel zur Grundstücksgrenze errichtet würden, sondern auch dann, wenn sie wie hier mit ihrer ca. 0,72 m breiten Schmalseite an der Grenze zum Grundstück der Klägerin errichtet werden. Die Belichtung, Belüftung und Besonnung des Grundstücks der Klägerin würden durch die Werbeanlage der Beigeladenen beeinträchtigt. Diese Beeinträchtigung sei zwar geringer, als wenn ein Gebäude mit einer Außenwand vorhanden wäre, sie sei jedoch vorhanden. Hinzu komme die erhebliche Größe der Werbeanlage. Das Gericht habe sich im Ortstermin davon überzeugen können, dass auch die direkt auf das Grundstück der Klägerin einwirkende Schmalseite noch erhebliche Auswirkungen - insbesondere eine erhebliche optische Wirkung - auf das Grundstück der Klägerin habe. Dieses Ergebnis werde auch durch die Regelung des § 6 Abs. 12 Satz 1 ThürBO bestätigt, die bestimmte bauliche Anlagen wie Masten und Pergolen in den Abstandsflächen sowie ohne eigene Abstandsflächen zulasse. Dies zeige, dass der Gesetzgeber grundsätzlich davon ausgehe, dass z. B. Masten und Pergolen eine gebäudegleiche Wirkung zukomme, denn ansonsten wäre die Freistellung von der Pflicht zur Einhaltung von Abstandsflächen überflüssig. Wenn aber der Gesetzgeber davon ausgehe, dass ein Mast gebäudegleiche Wirkung im Sinne von § 6 Abs. 10 ThürBO habe, so müsse dies erst Recht für eine Werbeanlage der hier in Rede stehenden Art gelten.

Die Erteilung einer Abweichung nach § 6 Abs. 15 Satz 1 ThürBO komme nicht in Betracht. Es fehle hier am Vorliegen einer unbilligen Härte. Eine unbillige Härte liege vor, wenn die objektiven Verhältnisse des Grundstücks, seine Lage, Größe, Zuschnitt und die Bebauung grundstücksbezogen eine Abweichung auch unter Berücksichtigung der Belange des Nachbarn rechtfertigten. Das scheide hier bereits deshalb aus, weil es sich bei dem Flurstück um ein Straßengrundstück handele. Dessen Funktion bestehe darin, die Straße bzw. den Bürgersteig und Randstreifen zu bilden. Eine Bebauung als solche sei von der Funktion her weder vorgesehen noch generell zwingend erforderlich. Auch eine Abweichung nach § 68 Abs. 1 ThürBO sei daher nicht gerechtfertigt.

Ob die Werbeanlage zu konkreten Beeinträchtigungen für die Klägerin führe, sei unerheblich.

Das Urteil ist der Beklagten am 04.11.2003 zugestellt worden. Die Beklagte hat am 14.11.2003 die vom Verwaltungsgericht gegen das Urteil zugelassene Berufung eingelegt und führt zur Begründung im Wesentlichen aus:

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts komme der Werbeanlage keine gebäudegleiche Wirkung zu, da sie die abstandsrelevanten Belange der Besonnung, Belichtung und Belüftung nicht beeinträchtige. Die mit der Schmalseite zum Grundstück der Klägerin hin aufgestellte Werbeanlage rufe nicht den optischen Eindruck einer Gebäudeaußenwand hervor. Gerade die Errichtung auf einem 2,50 m hohen Fuß führe dazu, dass die Zufuhr von Sonne, Licht und Luft in einem Bereich bis zu 2,50 m nicht beeinträchtigt und im speziellen Einzelfall den durch die Abstandsvorschriften geschützten Belangen Rechnung getragen werde. Soweit das Verwaltungsgericht auf die in § 6 Abs. 12 ThürBO aufgeführten Masten verweise, sei dem entgegenzuhalten, dass diese gerade in Höhe und Breite bzw. Ansichtsfläche der streitgegenständlichen Werbeanlage gleichkommen könnten, auch wenn es sich bei ihnen um Nebenanlagen handele. Für Masten sei die gebäudegleiche Wirkung nur bei einer erheblichen, mit der vorliegenden Anlage nicht vergleichbaren Breite von 2 m bejaht worden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 07.08.2003 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung und weist darauf hin, dass bei einer Breite der Werbeanlage von 0,72 m nicht mehr von einer "Schmalseite" gesprochen werden könne und es sich hier nicht um eine "Werbetafel" im klassischen Sinn handele. Die Beklagte könne auch nicht darauf verweisen, dass die Werbeanlage auf einem 2,50 m hohen Fuß stehe, denn die Belüftung und Belichtung des Nachbargrundstücks sei nicht nur im ebenerdigen Bereich geschützt.

Die Beigeladene und der Vertreter des öffentlichen Interesses haben sich im Berufungsverfahren nicht schriftsätzlich geäußert und stellen keinen Antrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung sowie die darin aufgeführten Unterlagen verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die vom Verwaltungsgericht zugelassene und rechtzeitig eingelegte und begründete Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung in der Gestalt des Widerspruchsbescheides zu Recht aufgehoben, denn sie ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die noch auf der Grundlage der bis zum 30.5.2004 geltenden alten Fassung der Thüringer Bauordnung vom 3.6.1994 (GVBl. S. 553 - im Folgenden: ThürBO a. F.) erteilte Baugenehmigung, die auch die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den bauordnungsrechtlichen Vorschriften festgestellt hat (vgl. demgegenüber für das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren nach neuem Recht § 63b Abs. 1 ThürBO n. F.), ist rechtswidrig, da sie nicht mit den im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung geltenden Abstandsflächenregelungen in § 6 ThürBO a. F. in Einklang steht. Das seit dem 1.5.2004 geltende Abstandsflächenrecht der Thüringer Bauordnung in der Fassung der Neubekanntmachung vom 25.3.2004 (GVBl. S. 349 - im Folgenden: ThürBO n. F.) enthält keine der Beigeladenen günstigeren Regelungen, die der Aufhebung der Baugenehmigung nunmehr entgegenstehen würden (vgl. zum maßgeblichen Prüfungszeitpunkt bei der Nachbarklage nur Senatsurteil vom 17.6.1998 - 1 KO 1040/97 -, BRS 60 Nr. 200 = LKV 1999, 194 = ThürVBl. 1998, 280 = ThürVGRspr. 1998, 153 m. w. N.).

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 ThürBO a. F. (und n. F.) sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten, die nach Absatz 2 Satz 1 grundsätzlich auf dem Baugrundstück liegen müssen. Nicht erforderlich ist eine Abstandsfläche nach § 6 Abs. 1 Satz 2 ThürBO a. F. (und § 6 Abs. 1 Satz 3 n. F.) nur dann, wenn an die Grenze gebaut werden muss oder darf, wobei nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ThürBO a. F. im letzteren Falle gesichert sein musste, dass angebaut wird. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass hier kein (wirksamer) Bebauungsplan existiert, aus dem sich eine Pflicht zur Grenzbebauung herleiten ließe. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Errichtung von Gebäuden oder gebäudeähnlichen baulichen Anlagen unmittelbar an der Grundstücksgrenze sich nach der Bauweise oder der überbaubaren Grundstücksfläche im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen würde und deshalb bauordnungsrechtlich keine Abstandsflächen einzuhalten wären.

Die Mindesttiefe der somit einzuhaltenden Abstandsflächen beträgt nach § 6 Abs. 5 Satz 1 ThürBO (a. F. und n. F.) in allen Baugebieten 3 m. Für bauliche Anlagen, von denen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen, gelten diese Regelungen nach § 6 Abs. 10 ThürBO a. F. bzw. § 6 Abs. 1 Satz 2 ThürBO n. F. gegenüber Gebäuden und Nachbargrenzen entsprechend. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass von der streitgegenständlichen Werbeanlage derartige Wirkungen ausgehen, und hierbei auf das Senatsurteil vom 26.02.2002 - 1 KO 305/99 - (BRS 65 Nr. 130 = LKV 2003, 35 = ThürVBl. 2002, 256 = ThürVGRspr. 2004, 17) verwiesen, in dem es zu dieser Frage heißt:

"Ob dies der Fall ist, beurteilt sich - ausgehend vom Regelungszusammenhang des § 6 Abs. 10 BauO mit den Absätzen 1 bis 9 der Vorschrift - danach, ob von der Anlage vergleichbare Wirkungen ausgehen, die bei Gebäuden die Einhaltung von Abstandsflächen erforderlich machen (vgl. OVG Berlin, Urteil vom 31. Juli 1992 - 2 B 3.91 - BRS 54 Nr. 91). Diese Wirkungen können, da die Abstandsvorschriften der BauO - ebenso wie die der ThürBO - die nachfolgend genannten Belange schützen, den Brandschutz, die Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie den nachbarlichen Wohnfrieden betreffen. Dass auch der Wohnfriede Schutzgut der genannten Vorschriften ist, lässt sich § 6 Abs. 7 BauO entnehmen; danach müssen auch bestimmte Vorbauten - wie etwa Erker und Balkone -, die die Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung regelmäßig nicht beeinträchtigen, einen bestimmten (Sozial-)Abstand zur Nachbargrenze einhalten. Auch § 6 Abs. 5 Satz 2 BauO spricht dafür, dass durch die Abstandsflächenvorschriften auch der nachbarliche Wohnfriede geschützt werden soll, denn danach werden in Gewerbe- und Industriegebieten deutlich geringere Abstandsflächen zugelassen als in Wohngebieten (vgl. Senatsbeschluss vom 25. Juni 1999 - 1 EO 197/99 - ThürVGRspr. 1999, 197 = ThürVBl. 1999, 257 = BRS 62 Nr. 141)."

Allerdings ist zweifelhaft, ob diese Überlegungen auch für das neue Abstandsflächenrecht uneingeschränkt zu gelten haben. Der Gesetzgeber hat die Neuregelung des Abstandsflächenrechts damit begründet, dass die darin enthaltene Verringerung der Abstandsflächentiefe von 1 auf 0,4 H ausschließlich auf einen bauordnungsrechtlich zu sichernden Mindestabstand ziele und keine städtebaulichen Nebenzwecke mehr verfolge. Ziel der Regelung der Abstandsflächentiefe sei (nur) die Ausleuchtung der Aufenthaltsräume mit Tageslicht im fensternahen Bereich (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung, Landtags-Drucksache 3/3287, S. 58). Andererseits enthält auch die geänderte Thüringer Bauordnung in § 6 Abs. 6 eine dem früheren § 6 Abs. 7 ThürBO vergleichbare Sonderregelung über den durch bestimmte Vorbauten einzuhaltenden Mindestabstand zur Nachbargrenze; § 6 Abs. 5 Satz 2 ThürBO n. F. sieht zudem weiterhin für Gewerbe- und Industriegebiete deutlich geringere Abstandsflächen vor. Ob diese Regelungen die Annahme zulassen, das Abstandsflächenrecht der geänderten Bauordnung verfolge trotz wohl gegenteiliger Regelungsabsichten des Gesetzgebers nach wie vor (auch) den Zweck, im Interesse des Wohnfriedens die Einhaltung eines bestimmten Mindestabstandes und Freiraums zwischen Gebäuden (sog. Sozialabstand) zu gewährleisten, bedarf hier aber keiner Entscheidung. Denn eine gebäudeähnliche Wirkung kommt der streitgegenständlichen Werbeanlage nicht nur dann zu, wenn man den nachbarlichen Wohnfrieden als Schutzgut der Abstandsflächenvorschriften ansieht und dementsprechend mit dem Verwaltungsgericht darauf abstellt, dass die Werbeanlage eine erhebliche optische Wirkung auf das Grundstück der Klägerin ausübt.

Die streitgegenständliche Werbeanlage ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat - aufgrund ihrer Höhe und ihrer Ausmaße geeignet, die Belichtung auf dem Grundstück der Klägerin in einer Weise zu beeinträchtigen, die durchaus mit der durch ein Gebäude bewirkten Beeinträchtigung vergleichbar ist. Insoweit lässt sich die Anlage mit einer großflächigen Werbetafel im sog. Euro-Format vergleichen, der in der Rechtsprechung jedenfalls dann durchweg eine gebäudegleiche Wirkung beigemessen wird, wenn sie parallel zur Grundstücksgrenze steht (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 18.2.1999 - 1 L 4263/96 -, BRS 62 Nr. 158 = NVwZ-RR 1999, 560; SächsOVG, Urteil vom 16.4.1999 - 1 S 39/99 -, BRS 62 Nr. 159 = NVwZ-RR 1999, 560; BayVGH, Urteil vom 28.6.2005 - 15 BV 04.2876 - juris; VG Meiningen, Gerichtsbescheid vom 6.10.1994 - 5 K 206/93.Me - juris). Dem steht nicht entgegen, dass die eigentliche Werbeanlage hier - anders als eine herkömmliche Werbetafel -auf einem 2,50 m hohen Fuß angebracht ist, dem für sich betrachtet keine gebäudeähnliche Wirkung zukommen mag, weil er nur mit unerheblichen Beeinträchtigungen der Belichtung verbunden ist. Die Klägerin verweist zu Recht darauf, dass die Beeinträchtigung der Belichtung nicht deshalb zu vernachlässigen ist, weil sie im konkreten Fall erst ab einer bestimmten Höhe einsetzt, denn die insgesamt 5,39 m hohe Werbeanlage wäre etwa für ein benachbartes Wohnhaus mit einer spürbaren Beeinträchtigung der Belichtung vor allem in Höhe des ersten Obergeschosses verbunden.

Etwas anderes gilt hier auch nicht deshalb, weil die Werbeanlage nicht parallel, sondern quer zur Grenze des Grundstücks der Klägerin errichtet worden ist und nur mit ihrer nach den vorliegenden Plänen im Bereich des Standfußes 0,76 m und im oberen Bereich 0,64 m breiten "Schmalseite" zum Grundstück weist. Soweit in der Rechtsprechung für quer zur Grundstücksgrenze errichtete herkömmliche Plakatanschlagtafel eine gebäudegleiche Wirkung verneint wird (so etwa BayVGH, Urteil vom 13.8.1997 - 2 B 93.4024 -, BRS 59 Nr. 136 = NVwZ-RR 1998, 620), vermag der Senat dem jedenfalls für Anlagen der hier in Rede stehenden Art nicht zu folgen. Die streitgegenständliche Werbeanlage hat angesichts der Größe des eigentlichen Werbeträgers (3,90 m x 2,89 m bei einer Tiefe von 0,64 m) und ihrer Gesamthöhe (5,39 m) trotz des gewählten Aufstellungsortes je nach Sonneneinfall auch eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Belichtung des Grundstücks der Klägerin zur Folge, die sich für ein dort stehendes benachbartes Wohnhauses noch spürbar nachteilig auswirken würde. Die Beeinträchtigung wird hier zwar in der Regel geringer sein als die durch ein Gebäude verursachte Beeinträchtigung der Belichtung; sie ist aber damit noch vergleichbar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Gebäude nicht nur dann Abstandsflächen zu Nachbargrundstücken einhalten müssen, wenn ihre Außenwände mehr oder weniger parallel zur Grundstücksgrenze errichtet werden, sondern auch dann, wenn etwa zwei Gebäudeaußenwände in Richtung des Nachbargrundstücks in spitzem Winkel aufeinander zulaufen und lediglich die äußerste Gebäudeecke direkt zum Nachbargrundstück hinweist. Selbst bestimmte vor die Außenwand vortretende Bauteile und Vorbauten, die nach der bereits erwähnten Regelung des § 6 Abs. 7 ThürBO a. F. bzw. § 6 Abs. 6 ThürBO n. F. bei der Bemessung der Abstandsflächen "an sich" außer Betracht bleiben, müssen von (gegenüberliegenden) Nachbargrenzen einen Mindestabstand von 2 m einhalten. Die streitgegenständliche Werbeanlage ist auch nicht mit den baulichen Anlagen vergleichbar, die wie etwa Masten nach der (entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts im Wesentlichen nur klarstellenden und in der ThürBO n. F. nicht mehr enthaltenen) Regelung des § 6 Abs. 12 ThürBO a. F. keine Abstandsflächen einhalten müssen, weil ihnen nach Auffassung des Gesetzgebers keine gebäudegleiche Wirkung zukommt. Die Anlage weist zwar zum Grundstück der Klägerin hin eine Breite auf, in der ein Mast wohl noch ohne Einhaltung einer Abstandsfläche zulässig wäre (vgl. dazu etwa OVG NW , Beschluss vom 28.2.2001 - 7 B 214/01 -, BRS 64 Nr. 124); ihr kommt jedoch insbesondere wegen der Ausmaße des eigentlichen Werbeträgers eine flächige, gebäudegleiche Wirkung zu, die mit der eines relativ schlanken Masts nicht vergleichbar ist.

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nach den §§ 6 Abs. 15 Satz 1, 68 ThürBO Abs. 1 a. F. oder nach § 63e ThürBO n. F. liegen ersichtlich nicht vor. Hierzu verweist der Senat gemäß § 130b Satz 2 VwGO auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung.

Die Klägerin wird durch die der Beigeladenen unter Verstoß gegen die nachbarschützende Bestimmung des § 6 ThürBO erteilte Baugenehmigung auch in ihren Rechten verletzt. Ihr steht hiergegen ein Abwehrrecht zu, ohne dass es darauf ankommt, ob die Werbeanlage mit spürbaren tatsächlichen Beeinträchtigungen, insbesondere der von ihr vor allem geltend gemachten Behinderung der Sicht auf das Autohaus verbunden ist (vgl. hierzu schon den Senatsbeschluss vom 25.6.1999 - 1 EO 197/99 -, BRS 62 Nr. 141 = LKV 2000, 119 = ThürVBl. 1999, 257 = ThürVGRspr. 1999, 197).

Der Klägerin ist schließlich eine Berufung auf die Verletzung des § 6 ThürBO auch nicht deshalb verwehrt, weil sich - wie die Ortsbesichtigung des Senats ergeben hat - im nördlichen Teil ihres Grundstücks eine der streitgegenständlichen Anlage vergleichbare Werbeanlage befindet, die zu dem sich östlich anschließenden Flurstück ebenfalls keinen oder nur einen sehr geringen Grenzabstand einhält. Allerdings kann derjenige, der selbst mit seinem Gebäude (oder einer gebäudeähnlichen baulichen Anlage) den erforderlichen Grenzabstand nicht eingehalten hat, billigerweise nicht verlangen, dass der Nachbar die Abstandsfläche freihält (vergleiche hierzu etwa: OVG Lüneburg, Urteil vom 12.9.1984 - 6 A 49/83 -, BRS 42 Nr. 196; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 24.1.1983 - 2 W 2/83 -, BRS 40 Nr. 218; OVG Berlin, Beschluss vom 6.9.1994 - 2 S 14.94 -, BRS 56 Nr. 173; Senatsbeschluss vom 5.10.1999 - 1 EO 698/99 -, BRS 62 Nr. 136 = NVwZ-RR 2000, 350 = ThürVBl. 2000, 132 = ThürVGRspr. 2000, 84; Senatsurteil vom 11.5.2005 - 1 KO 290/05 - n. v.). So verhält es sich hier jedoch nicht. Bei dem östlich an das Grundstück der Kläger angrenzenden Flurstück handelt es sich um eine öffentliche Verkehrsfläche (Geh- und Radweg sowie Fahrbahn der L ); derartige Flächen dürfen aber nach § 6 Abs. 2 Satz 2 ThürBO (a. F. und n. F.) bis zur Mitte für Abstandsflächen in Anspruch genommen werden, so dass die auf dem Grundstück der Klägerin errichtete Werbeanlage - anders als die auf der öffentlichen Verkehrsfläche errichtete Anlage der Beigeladenen - die erforderlichen Abstandsflächen einhalten kann. Angesichts der im Gesetz angelegten unterschiedlichen Behandlung von öffentlichen Verkehrsflächen einerseits und sonstigen Grundstücksflächen andererseits fehlt es mithin an einer Vergleichbarkeit der wechselseitigen Inanspruchnahme der jeweiligen Grundstücke durch die vor den Werbeanlagen einzuhaltenden Abstandsflächen.

Die Kostenentscheidung folgt aus den § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht nicht der Billigkeit, der Beklagten nach § 162 Abs. 3 VwGO auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, denn diese hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt und sich damit auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (vgl. § 132 VwGO).

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren gemäß § 25 Abs. 2 GKG i. V. m. den §§ 14, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG in der bis zum 30.06.2004 geltenden und hier noch anwendbaren Fassung (GKG a. F.) auf 4.000 Euro festgesetzt.

Hinweis: Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG n. F.)

Ende der Entscheidung

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