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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 10.06.2009
Aktenzeichen: 3 EO 136/09
Rechtsgebiete: SGB VIII, VwGO


Vorschriften:

SGB VIII § 35a
SGB VIII § 41
VwGO § 123
Zur (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung als Voraussetzung des Anspruchs auf Gewährung von Leistungen jugendhilferechtlicher Eingliederungshilfe.
THÜRINGER OBERVERWALTUNGSGERICHT - 3. Senat - Beschluss

3 EO 136/09

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Kinder- und Jugendhilfe sowie Jugendförderungsrechts, hier: Beschwerde nach § 123 VwGO

hat der 3. Senat des Thüringer Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Hüsch, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schwachheim und den Richter am Oberverwaltungsgericht Best am 10. Juni 2009 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Weimar vom 9. Februar 2009 abgeändert. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Der Antragsteller hat die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde (§ 146 VwGO), mit der sich der Antragsgegner gegen seine im Wege einstweiliger Anordnung (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO) erfolgte Verpflichtung wendet, dem Antragsteller weiterhin - über den 9. Juli 2008 hinaus - Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) durch Übernahme der Kosten für eine "integrative Lerntherapie" bei dem Fachpsychologen für Pädagogische Psychologie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten N (Erfurt) sowie eine "Englisch- Legasthenie-Therapie" im "DUDEN PAETEC Institut für Lerntherapie E " zu gewähren, ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat dem Eilantrag zu Unrecht entsprochen. Der Antragsteller hat den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Zutreffend ist die Vorinstanz bei der Prüfung des vorliegenden Antrags auf einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Eingliederungshilfe (§§ 35a, 41 SGB VIII) davon ausgegangen, dass eine antragsgemäße Entscheidung letztlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache hinausliefe. In Fällen dieser Art liegt ein Regelungsanspruch nur dann vor, wenn der Rechtsschutzsuchende in der Hauptsache eindeutig überwiegende Erfolgsaussichten hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Dezember 1989 - 2 ER 301/89 - Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15; ferner Senatsbeschluss vom 30. Januar 2001 - 3 EO 862/00 - ThürVGRspr. 2001, 138 = ThürVBl. 2002, 10 = FEVS 52, 329) und die sie begründenden tatsächlichen Umstände glaubhaft macht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Daran fehlt es hier. Auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstands sind eindeutig überwiegende Erfolgsaussichten für den vom Antragsteller eingelegten Widerspruch gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9. Juli 2008 oder - im Falle dessen Zurückweisung - die noch zu erhebende verwaltungsgerichtliche Verpflichtungsklage in der Hauptsache nicht feststellbar. Vielmehr bestehen insoweit gewichtige Bedenken, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch des Antragstellers auf eine weitere Übernahme der Kosten für die von ihm in Anspruch genommenen Therapien im als Maßnahmen der Eingliederungshilfe (§§ 35a, 41 SGB VIII) erfüllt sind. Der Antragsteller hat nicht einmal glaubhaft gemacht, dass die für die Gewährung jugendhilferechtlicher Eingliederungshilfe erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach auch für die Zeit ab 10. Juli 2008 vorliegen.

Ein solcher Anspruch setzt neben einer seelischen Störung des betroffenen Kindes, Jugendlichen oder jungen Volljährigen (§ 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII) voraus, dass infolge dieser seelischen Störung die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung droht (vgl. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII). Dementsprechend genügt nicht etwa allein das Bestehen einer seelischen Störung z. B. infolge einer Legasthenie. Erforderlich ist vielmehr darüber hinaus eine bereits bestehende oder zu erwartende Teilhabebeeinträchtigung. Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 35a Abs. 1 SGB VIII), an die angeknüpft wird, beinhaltet die Ausübung sozialer Funktionen und Rollen, d. h. die aktive und selbstbestimmte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in den einzelnen Lebensbereichen Familie, Schule/Ausbildung und Freizeit (Freundes- bzw. Bekanntenkreis). Die Schwelle der erheblichen Teilhabebeeinträchtigung ist erst erreicht, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt. Dies kommt in Betracht etwa bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, bei einem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder einer Vereinzelung in der Schule, nicht hingegen schon bei bloßen Schulproblemen und Ängsten, die auch andere Kinder bzw. Jugendliche teilen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 - NDV-RD 1999, 71 = FEVS 49, 487 zur Vorschrift des § 35a SGB VIII in der früheren Fassung des Gesetzes vom 23. Juli 1996 [BGBl. I S. 1088]; ferner Vondung in LPK-SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 35a Rn. 7, und Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Auflage 2007, § 35a Rn. 11 m. w. N.).

Für den hier entscheidungsrelevanten Zeitraum ab 10. Juli 2008 kann ungeachtet der insoweit übereinstimmenden - den Senat bei der rechtlichen Beurteilung nicht bindenden - Einschätzung der Verfahrensbeteiligten offen bleiben, ob beim Antragsteller überhaupt noch eine seelische Störung i. S. v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII aufgrund seiner Legasthenie besteht. Jedenfalls sind ausgehend von den genannten Grundsätzen zum Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII nicht glaubhaft gemacht.

Nach den Ausführungen des Antragsgegners zum Entwicklungsstand des Antragstellers und dessen sozialen Bezügen kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei ihm eine Teilhabebeeinträchtigung derzeit noch besteht.

Die auf Seiten des Antragsgegners fallzuständige Sozialpädagogin (Frau H____) hat in ihrem Schreiben vom 8. September 2008 an die Bevollmächtigte des Antragstellers u. a. mitgeteilt: Dieser sei in seiner Familie fest integriert, ohne dass familiäre Belastungsfaktoren erkennbar seien. In seiner Freizeit betätige er sich ferner - zumal nach Erwerb eines Angel- und Jugendjagdscheins (vgl. die Ausführungen im Bescheid des Antragsgegners vom 9. Juli 2008) - in einem (Jagd- und Hundesport-)Verein. Er sei "in der Lage, sich in der Öffentlichkeit angemessen zu bewegen und aufzutreten". Soziale Rückzugstendenzen oder gravierende Probleme bei der Alltagsbewältigung gebe es nicht. Im Laufe der Jahre sei es dem Antragsteller gelungen, angemessene Bewältigungsstrategien im Umgang mit seiner Legasthenie zu entwickeln. Dies zeige sich auch im Schulalltag. Er besuche die Schule regelmäßig und arbeite fleißig und zielstrebig.

Im Protokoll über die Beratung zum Zwecke der Hilfeplanfortschreibung vom 2. Juli 2008 heißt es ferner:

"[zum sozialen/persönlichen Bereich:] strebt nunmehr das Abitur an, um sein Berufsziel Forstamtsleiter noch erreichen zu können ... berufliche Alternativen gibt es für nicht, er möchte in jedem Fall sein angestrebtes Ziel erreichen ... ist sich bewusst, dass dies nur mit weiteren Einschnitten in seiner Freizeit verbunden ist ... ist ____ in der Freizeit fest im Jagd- und Hundesportverein integriert ... aufgrund seiner Erfolge mit seinem selbst abgerichteten Jagdhund erhält er Anerkennung durch die überwiegend älteren Vereinsmitglieder ... nach eigenen Angaben setzt sich ____' Freundeskreis aufgrund seines intensiv betriebenen Hobbies überwiegend aus Älteren zusammen ... [zum schulisch-beruflichen Bereich:] ____ ist nach Aussage seiner Klassenlehrerin fest in den Klassenverband integriert ... [zum gesundheitlichen Bereich:] vom Kinderarzt erhielt er Medikamente, kann selbst einschätzen, wann er diese einnehmen muss ...".

Soweit die Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers die Feststellungen des Antragsgegners zur sozialen Integration des Antragstellers in den einzelnen Lebensbereichen Schule und Freizeit in Zweifel zieht, indem sie ihn insoweit als Einzelgänger darzustellen versucht, ergeben sich auch aus diesem Vortrag keine Hinweise auf eine rechtlich relevante Teilhabebeeinträchtigung. Zwar ist es für eine Teilhabebeeinträchtigung ausreichend, dass nur in einem einzigen der Lebensbereiche Familie, Schule/Ausbildung und Freizeit eine Beeinträchtigung vorliegt (vgl. hierzu Kunkel in JAmt 2007, 17). Doch selbst auf der Grundlage des eigenen Vortrags des Antragstellers ist vorliegend die erforderliche Beeinträchtigungsschwelle nicht erreicht. Seine Bevollmächtigte hat bereits im erstinstanzlichen Verfahren (mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2008) ausgeführt: In der neuen Schule (Integrative Gesamtschule in E ), in die der Antragsteller - nach Erreichen des Realschulabschlusses (an der Kooperativen Gesamtschule in E ) im Sommer 2008 - zu Beginn des neuen Schuljahres 2008/2009 gewechselt ist, habe er zu keinem Schüler Kontakt außerhalb der Schule, da er wegen der Legasthenie und seiner damit erforderlichen erhöhten Leistungsbereitschaft nicht ernst genommen bzw. gehänselt werde. Die zeitintensive Nachbereitung der Unterrichtseinheiten lasse Raum für nur geringe Freizeit, weshalb er nur in eingeschränktem Maße soziale Kontakte pflegen könne. Im Beschwerdeverfahren hat er durch seine Bevollmächtigte (mit Schriftsatz vom 31. März 2009) darüber hinaus vortragen lassen: Er habe keine gleichaltrigen Freunde. Seine Tätigkeit im Hundesportverein erschöpfe sich in sporadischen Kontakten mit Männern im Alter von 50 bis 70 Jahren. Als absoluter "Einzelkämpfer" pflege er so gut wie keine sozialen Kontakte zu Personen außerhalb der Familie. Nicht zuletzt wegen seiner Legasthenie sei er daran gehindert, sich an schulischen Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts - wie etwa in einer Theatergruppe - zu beteiligen.

Diese Ausführungen vermögen die Fähigkeit des Antragstellers zur Eingliederung in die Gesellschaft noch nicht in Frage zu stellen. Hiernach ergeben sich zwar aus der Teilleistungsschwäche für den Antragsteller direkte und indirekte Barrieren im sozialen Umgang mit anderen Schülern. Der Vortrag des Antragstellers bietet jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass bei ihm infolge der Legasthenie seelische Störungen eingetreten sind, aufgrund deren Breite, Tiefe und Dauer er jegliche sozialen Kontakte aufgegeben hätte. Eine - mit einer Teilhabebeeinträchtigung typischerweise verbundene - soziale Verweigerungs- oder Rückzugshaltung ist beim Antragsteller auch für den Bereich der Schule gerade nicht erkennbar.

Die Feststellungen des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Prof. Dr. B (Universitätsklinikum Jena) in dessen Gutachten vom 25. Oktober 2005 rechtfertigen - entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des Antragstellers - keine andere Beurteilung. Abgesehen davon, dass die dort enthaltenen gutachtlichen Aussagen sich nicht auf den aktuellen Entwicklungsstand des Antragstellers, sondern vielmehr auf den früheren im Herbst 2005 beziehen, betreffen sie überwiegend die schulischen Leistungen und Fähigkeiten in einzelnen Fächern des Antragstellers. Soweit Art und Ausmaß der psychischen Belastung für den Antragsteller aufgrund von Misserfolgserlebnissen und damit im Zusammenhang stehende "Hänseleien" durch Mitschüler durch den Gutachter beschrieben werden (vgl. Gutachten S. 4 bis S. 6, 1. Absatz, und S. 6, letzter Absatz, bis S. 7, 1. Absatz), geht aus dessen weiteren Ausführungen nicht hervor, inwiefern damit etwa soziale Rückzugs- oder Verweigerungstendenzen im Verhalten des Antragstellers in der Schule verbunden sind. Vor dem Hintergrund der tragenden näheren Ausführungen kann der im Gutachten als Ergebnis getroffenen Feststellung, die beim Antragsteller "vorliegende seelische Behinderung, die eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt," weiche "weiterhin länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter des Jungen typischen Zustand ab" (vgl. S. 9 zur Gutachtenfrage 1), nur ein Aussagegehalt in Bezug auf das Ausmaß der beim Antragsteller diagnostizierten seelischen Störung i. S. v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII beigemessen werden.

Entsprechendes gilt für die Einschätzung des Gutachters, es bestünden "nicht unerhebliche Beeinträchtigungen der Selbstwertentwicklung", zumal diese "auch durch aversive Reaktionen im sozialen Umfeld, bspw. In der Schule, ungünstig beeinflusst" würden (vgl. S. 9 zur Gutachtenfrage 2).

Ferner fehlt es an der Glaubhaftmachung einer drohenden, d. h. nach fachlicher Kenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden (vgl. § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) Teilhabebeeinträchtigung des Antragstellers.

Zur Feststellung einer diesbezüglichen Gefahr bedarf es einer prognostischen Beurteilung, ob und gegebenenfalls wann bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Teilhabebeeinträchtigung zu erwarten ist. Die nach § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit setzt einen Wahrscheinlichkeitsgrad jedenfalls von mehr als 50 % voraus (vgl. Vondung in LPK-SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 35a Rn. 8 m. w. N.; Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Auflage 2007, § 35a Rn. 12 m. w. N.; Kunkel in JAmt 2007, 17). Die anzustellende Prognose muss sich auf einen überschaubaren Zeitraum beziehen, dessen Dauer nach Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) zu bemessen ist (vgl. Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Auflage 2007, § 35a Rn. 12 m. w. N.; Kunkel in JAmt 2007, 17). Da es deren Ziel ist, für von einer seelischen Behinderung bedrohte junge Menschen den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhindern (§ 35a Abs. 3 SGB VIII i. V. m. § 53 Abs. 3 SGB XII), ist der Beginn der Bedrohung so früh, aber auch nicht früher anzusetzen, dass noch Erfolg versprechende Eingliederungshilfemaßnahmen gegen den Eintritt der Behinderung eingesetzt werden können (vgl. Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Auflage 2007, § 35a Rn. 12 m. w. N.). Inhaltlich sind in die Prognose sowohl Schutz- als auch Risikofaktoren einzustellen (Kunkel in JAmt 2007, 17).

Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen nicht eindeutig eine mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende - auf eine seelische Störung zurückzuführende - Beeinträchtigung der Teilhabe des Antragstellers am Leben in der Gesellschaft feststellen. Der Antragsgegner selbst hat von vornherein davon abgesehen, in eine Prüfung der Frage einzutreten, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit beim Antragsteller in einem überschaubaren Zeitraum der erneute Eintritt einer Teilhabebeeinträchtigung zu befürchten ist. Keine seiner Stellungnahmen enthält eine diesbezügliche Gefahrenprognose. Auch den gutachtlichen Stellungnahmen anderer Stellen sind keine Einschätzungen oder Feststellungen zum Entwicklungsstand des Antragstellers und dessen sozialen Bezügen zu entnehmen, die die Annahme rechtfertigen, dass infolge der auf der Legasthenie beruhenden seelischen Störungen erhebliche soziale Verweigerungs- oder Rückzugstendenzen im Verhalten des Antragstellers in einem der maßgeblichen Lebensbereiche (Familie, Schule/Ausbildung und Freundes- bzw. Bekanntenkreis) in absehbarer Zeit zu befürchten sind. Das gilt auch für die vom Antragsteller in Bezug genommene Stellungnahme des Fachpsychologen für Pädagogische Psychologie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten N (Erfurt) vom 23. Juli 2008 zu den - nach dessen Auffassung - gegen einen Abbruch der integrativen Legasthenietherapie sprechenden Gründe.

Dort ist u. a. ausgeführt: Das beim Antragsteller bestehende Krankheitsbild sei "zusammen mit der Lese- und Rechtschreibstörung für die psychosoziale Entwicklung insbesondere auch im außerschulischen Bereich von enormer Bedeutung". "Am Abbau dieser Störungen" müsse "im Interesse der weiter zu sichernden harmonischen Persönlichkeitsentwicklung dringend fortgewirkt werden". "Jede Störung dieser [gemeint: der durch die integrative Lerntherapie beeinflussten] Entwicklung" bedeute "eine ernstzunehmende Störung im Kern der Persönlichkeit". "Ein jäher Therapieabbruch zum jetzigen Zeitpunkt würde ... eine grundlegende Störung seines Sicherheitsgefühls bewirken". Auch der mit dem Therapieabbruch verbundene "Beziehungsabbruch zur therapeutischen Einrichtung ... müsste eher als Beanstatt Entlastung empfinden".

Diese Aussagen können nicht als hinreichende Grundlage für die im vorliegenden Eilverfahren erforderlichen tatsächlichen Feststellungen für eine drohende Teilhabebeeinträchtigung dienen. Für den Senat ist schon nicht ohne weiteres ersichtlich, dass Herr N , dessen therapeutische Leistungen der Antragsteller bislang in Anspruch genommen hat, über die erforderliche Objektivität verfügt. Überdies betreffen die Ausführungen zwar Art und Ausmaß der psychischen Störungen des Antragstellers und (drohende weitere) Beeinträchtigungen seiner Persönlichkeitsentwicklung. Sie werden jedoch in keinen Zusammenhang gestellt mit (drohenden) Beeinträchtigungen der sozialen Integration des Antragstellers in bestimmten Lebensbereichen. Die Stellungnahme lässt insbesondere jegliche Ausführungen zu (drohenden) sozialen Rückzugs- oder Verweigerungstendenzen im Verhalten des Antragstellers vermissen. Ihr Aussagegehalt erschöpft sich deshalb in einer Einschätzung hinsichtlich der Art und des Ausmaßes einer seelischen Störung i. S. v. § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII.

Verlässliche tatsächliche Feststellungen oder Einschätzungen dazu, inwieweit, mit welcher Wahrscheinlichkeit und innerhalb welchen Zeitraumes eine Teilhabebeeinträchtigung des Antragstellers - insbesondere ohne Fortführung der bisherigen Lerntherapien - zu befürchten ist, sind - zumal angesichts der fehlenden Aktualität - ebenso wenig dem Gutachten des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Prof. Dr. B (Universitätsklinikum Jena) vom 25. Oktober 2005 zu entnehmen. Das gilt auch im Hinblick auf die Einschätzung des Gutachters, es seien "aufgrund der festgestellten Störungen (Lese-Rechtschreibstörung, Gemischte Angst- und depressive Störung) ... weiterhin die schulischen und Ausbildungsperspektiven ... erheblich beeinträchtigt bzw. gefährdet" (vgl. S. 9 zur Gutachtenfrage 2). Denn das Nichterreichen eines schulischen oder Berufsabschlusses kann für den einen Menschen zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen, für den anderen hingegen nicht, weil in die Prognose auch die konkreten persönlichen Ressourcen des Betroffenen sowie weitere soziale Schutz- und Risikofaktoren eingestellt werden müssen (vgl. Kunkel in JAmt 2007, 17). Dementsprechend können schlechte schulische Leistungen aufgrund einer Legasthenie für sich betrachtet kein Teilhabedefizit i. S. v. § 35a SGB VIII begründen (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 25. Januar 2005 - 4 K 2105/03 - JAmt 2005, 246). Der Umstand, dass dem Antragsteller aufgrund eines Beschlusses der Klassenkonferenz an der Staatlichen Kooperativen Gesamtschule "A " (E ) vom 11. Februar 2008 die Empfehlung für den Bildungsweg des Gymnasiums ausgesprochen und ihm damit die grundsätzliche intellektuelle Eignung für einen Abiturabschluss attestiert worden ist (vgl. das Schreiben seines Klassenlehrers vom selben Datum), rechtfertigt im Ergebnis keine andere Beurteilung. Selbst wenn infolge der Legasthenie die begabungsadäquaten schulischen und beruflichen Ziele verfehlt würden, wäre damit für sich allein noch nicht die Teilhabe des Antragstellers am Leben in der Gesellschaft in Frage gestellt. Wird das Begabungspotential eines jungen Menschen mit einem bestimmten Schulabschluss nicht ausgeschöpft, stellt dies die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft noch nicht in Frage (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 2. November 2004 - 13 B 3835/04 - Juris, Rn. 17). Maßgeblich ist vielmehr, ob ein etwaiges Scheitern des Betroffenen in seinen Ausbildungsbemühungen - in der weiteren Konsequenz - zu Selbstwert- und sonstigen seelischen Störungen dergestalt führen würde, die ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit daran hindern würden, seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen.

Diese Frage lässt sich indessen auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstands nicht beantworten. Denn zur Glaubhaftmachung insbesondere der vorgenannten tatsächlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) bedarf es einer entsprechenden Stellungnahme gegebenenfalls auch vorläufiger Art einer sachverständigen Stelle oder Person, wie etwa einer pädagogischen Fachkraft des Jugendamts. An einer solchen Entscheidungsgrundlage fehlt es bislang nicht zuletzt deshalb, weil das Jugendamt des Antragsgegners eine Prognose hinsichtlich der weiteren Persönlichkeitsentwicklung des Antragstellers sowie dessen sozialen Kompetenzen und Anknüpfungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Lebensbereichen nicht erstellt hat. Entsprechende Feststellungen fallen typischerweise in den Aufgabenbereich der pädagogischen Fachkräfte des Jugendamts, weshalb es jedenfalls in erster Linie dem Antragsgegner obliegt, den Sachverhalt auch insoweit aufzuklären (vgl. Vondung in LPK-SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 35a Rn. 7; Kunkel in JAmt 2007, 17). Dieser Verpflichtung ist der Antragsgegner vorliegend schon deshalb nicht nachgekommen, weil er von vornherein nur die Frage einer noch fortbestehenden Teilhabebeeinträchtigung (§ 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 1. Alt. SGB VIII) in den Blick genommen hat, indessen gänzlich davon abgesehen hat auch zu prüfen, ob in einem überschaubaren Zeitraum der erneute Eintritt einer Teilhabebeeinträchtigung droht (§ 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 2. Alt. SGB VIII). Entsprechende Einschätzungen sachverständiger Stellen sind indessen mangels eigener Sachkunde des Gerichts regelmäßig unverzichtbar, um die - wie hier - vorläufigen tatsächlichen Feststellungen treffen zu können (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 - NDV-RD 1999, 71 = FEVS 49, 487; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4. November 1997 - 9 S 1462/96 - zitiert nach Juris). Der Antragsteller, dem selbst die Glaubhaftmachung der den Anordnungsanspruch begründenden tatsächlichen Umstände obliegt, kann im vorliegenden Verfahren nichts daraus herleiten, dass bislang weder durch den Antragsgegner noch die Widerspruchsbehörde der Sachverhalt hinsichtlich einer in absehbarer Zukunft erneut zu erwartenden Teilhabebeeinträchtigung weiter aufgeklärt worden ist.

Der Senat hält es für angezeigt darauf hinzuweisen, dass der Antragsgegner und die Widerspruchsbehörde insbesondere vor dem Hintergrund der aufgezeigten behördlichen Ermittlungsdefizite und der Gefahr des Verlustes von Aufklärungsmöglichkeiten durch Zeitablauf die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen so schnell wie möglich nachzuholen haben. In diesem Zusammenhang sei ferner angemerkt, dass - auf unzureichende zeitnahe behördliche Ermittlungen zurückzuführende - etwaige spätere Schwierigkeiten bei der Sachaufklärung sich im Rahmen eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens durchaus auch zu Lasten des Antragsgegners auswirken können.

Dem Antragsteller bleibt es unbenommen, erneut um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachzusuchen, falls die vom Antragsgegner und der Widerspruchsbehörde noch zu treffenden tatsächlichen Feststellungen hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen einer drohenden Teilhabebeeinträchtigung i. S. v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ergeben.

Hat mithin die Beschwerde des Antragsgegners Erfolg, so hat der Antragsteller als unterlegener Verfahrensbeteiligter die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).

Da Gerichtskosten in Verfahren, die jugendhilferechtliche Streitigkeiten betreffen, gemäß § 188 Satz 2 VwGO nicht anfallen, ist ein Streitwert nicht von Amts wegen festzusetzen.

Hinweis:

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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