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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 26.06.2003
Aktenzeichen: 3 KO 321/01
Rechtsgebiete: AuslG


Vorschriften:

AuslG § 51 Abs. 1
Chinesischen Staatsangehörigen uigurischer Volkszugehörigkeit, die unverfolgt aus China ausgereist sind, droht - auch dann, wenn sie illegal ausgereist sind und einen Asylantrag gestellt haben - wegen exilpolitischer Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland bei Rückkehr nach China grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (wie BayVGH, Urteil vom 24. Juli 2002 - 2 B 98.34950 -, S. 12 f. des Urteilsumdrucks).

Erforderlich ist vielmehr ein individuelles Hervortreten aus der Vielzahl derjenigen, die - als bloße Mitglieder politischer Exilorganisationen und durch Teilnahme an Demonstrationen u. ä. - gleichsam nur formell oppositionell sind. Ein solches individuelles Hervortreten kann im Einzelfall bei wiederholter, teilweise unter Namensnennung erfolgter Berichterstattung in unterschiedlichen, auch überregionalen Medien gegeben sein.


THÜRINGER OBERVERWALTUNGSGERICHT - 3. Senat -

3 KO 321/01

Im Namen des Volkes Urteil

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Asylrechts,

hier: Berufung

hat der 3. Senat des Thüringer Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Lindner, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schwachheim und den an das Gericht abgeordneten Richter am Verwaltungsgericht Alexander auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 26. Juni 2003 für Recht erkannt:

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger seine Klage hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen hat; das auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 1999 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Gera - 3 K 20741/96 GE - ist insoweit wirkungslos.

Die Berufung des Bundesbeauftragten wird zurückgewiesen.

Der erstinstanzliche Kostenausspruch wird geändert. Von den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens - mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten, die dieser selbst trägt - haben der Kläger und die Beklagte jeweils die Hälfte zu tragen. Von den Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens - einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten - haben der Kläger und der Bundesbeauftragte jeweils die Hälfte zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der im Jahre 1970 geborene Kläger ist chinesischer Staatsangehöriger uigurischer Volkszugehörigkeit. Er stammt aus der autonomen Region Xinjiang. Am 22. Dezember 1995 meldete er sich bei der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Schwalbach als Asylsuchender und wurde von dort an die Erstaufnahmeeinrichtung Mühlhausen verwiesen. Bei der Anhörung zu seinem Asylantrag am 1. April 1996 vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Außenstelle München, trug er vor:

Er sei gemeinsam mit zwei anderen Personen, _____I und_____D___, am 16. Oktober 1995 von Artusch (China) mit einem Lkw in die kirgisische Hauptstadt Bischkek gereist, wo sie am folgenden Tage angekommen seien. In Kirgisien hätten sie für 10.000 US-Dollar russische Pässe erhalten. Am 20. Dezember 1995 seien sie von Bischkek zunächst nach Moskau und einen Tag später von dort aus nach Frankfurt am Main geflogen. In Frankfurt habe er gemeinsam mit den beiden anderen in einer Moschee übernachtet und am nächsten Tag einen Asylantrag gestellt. Für die Reise habe er 5.000 Yüan von seinem Vater erhalten; im Übrigen sei sie von der Organisation, der er angehört habe, finanziert worden.

Er habe China verlassen, weil er Angst gehabt habe, ebenso wie sein Vater festgenommen zu werden. Anlass der Festnahme des Vaters sei eine große Versammlung in seinem Heimatort Artusch gewesen, die von den Behörden veranstaltet worden sei. Es seien zwei zum Tode verurteilte Personen vorgestellt worden, die dann auch hingerichtet worden seien. An dem Platz sei es zu einer großen Unruhe gekommen; 600 Personen seien verletzt worden, 400 bis 500 habe man festgenommen. Er habe sich in China politisch betätigt, indem er für eine Organisation Flugblätter verteilt habe. Den Namen dieser Organisation habe er in seinem Heimatland noch nicht gekannt, ihn aber in Deutschland in Erfahrung gebracht; es handele sich um die "ostturkistanische Befreiungsorganisation", auch als "ostturkistanische demokratische Partei" bekannt. Ziel dieser Organisation sei die Befreiung Ostturkistans. Sie habe in seinem Heimatort sieben Mitglieder gehabt, darunter er und die beiden anderen, mit denen er geflohen sei. Die übrigen vier Mitglieder seien nicht bei jener Versammlung zugegen gewesen, so dass sie der Polizei nicht bekannt geworden seien; deswegen seien sie nicht mit den anderen geflohen, sondern in China geblieben.

Er selbst befürchte, bei Rückkehr in sein Heimatland hingerichtet zu werden; denn er habe gemeinsam mit den beiden anderen während der Versammlung Flugblätter verteilt. Ob noch von weiteren Personen Flugblätter verteilt worden seien, könne er, da damals zehn- bis fünfzehntausend Personen auf dem Versammlungsplatz gewesen seien, nicht sagen. In den von ihm ausgegebenen Flugblätter sei es um die Hinrichtung gegangen, die man habe verhindern wollen, und um einen Stopp der Atomtests; außerdem habe man von den Chinesen die Rückgabe des Landes verlangt. Von einem Freund habe er erfahren, dass ein Fahndungsbefehl gegen ihn vorliege; auf der Fahndungsliste stünden er und die beiden anderen Geflüchteten an erster Stelle.

Mit Bescheid vom 28. Mai 1996 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorlägen und Abschiebungshindernisse i. S. d. § 53 AuslG nicht bestünden. Zugleich forderte sie den Kläger unter Fristsetzung und Abschiebungsandrohung auf, das Bundesgebiet zu verlassen.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen darauf abgestellt, dass dem Kläger sein Vorbringen zu den Geschehnissen im Heimatland nicht abgenommen werden könne. Es gebe in mehrerlei Hinsicht Widersprüche zum Vortrag der beiden anderen Personen, mit denen er gemeinsam Flugblätter verteilt haben und später geflohen sein wolle.

Gegen diesen am 6. Juni 1996 zugestellten Asylbescheid hat sich der Kläger mit Schreiben vom 7. Juni 1996, bei Gericht eingegangen am 10. Juni 1996, an das Verwaltungsgericht Gera gewandt. Unter der Überschrift "Einspruch" hat er ausgeführt:

Die Chinesen hätten das Land der Uiguren besetzt. Dagegen und gegen die Unterdrückung seines Volkes habe er öffentlich protestiert und sei deswegen von Armee und Polizei verfolgt worden. Mehrere Mitglieder seiner Familie seien verhaftet worden, einer seiner Brüder sei in einem Gefängnis auf ungeklärte Weise verstorben. Er - der Kläger - werde von der Polizei gesucht. Er bitte darum, seinen Fall noch einmal zu überprüfen.

Am 12. Juni 1996 ist ein weiterer, unter dem 11. Juni 1996 verfasster und mit "Klage und Antrag nach § 80 V VwGO" überschriebener Schriftsatz des Klägers bei Gericht eingegangen. Den Eilantrag, den der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 18. Juni 1996 begründet hatte, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. Juni 1996 - 6 E 20752/96 GE - abgelehnt. Auf den Antrag vom 1. Oktober 1996 hat das Gericht diesen Beschluss mit Beschluss vom 4. Dezember 1996 - 6 E 21253/96 GE - gemäß § 80 Abs. 7 VwGO aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Asylbescheid angeordnet und zur Begründung im Wesentlichen auf die jüngere Medienberichterstattung abgestellt, aus der sich ergebe, dass die in Xinjiang lebende Minderheit der Uiguren von der chinesischen Regierung unterdrückt werde.

Bereits am 14. Juni 1996 hatte der Bevollmächtigte des Klägers auch im Klageverfahren einen Schriftsatz eingereicht, einen Klageantrag gestellt und diesen unter dem 8. Juli 1996 im Wesentlichen wie folgt begründet: Die dem Kläger vorgehaltenen Unklarheiten und Ungereimtheiten bei seiner Anhörung seien auf die "skandalöse Form der Anhörung" zurückzuführen. Diese sei in äußerst aggressiver Weise, wie ein scharfes Polizeiverhör, durchgeführt worden. Der Kläger sei zwar in der Tat kein gewählter Führer der ostturkistanischen demokratischen Partei, aber faktisch der Gruppenleiter gewesen; er sei zusammen mit den zwei anderen Mitgliedern der Organisation aus einer Zwangslage heraus geflohen. Die Lage in Ostturkistan habe sich in letzter Zeit dramatisch verschärft. Viele Chinesen würden dorthin umgesiedelt, damit die Uiguren in ihrem eigenen Land zur Minderheit würden. Schließlich seien Personen, die wie der Kläger Mitglied der "Ostturkistanischen Union in Europa e. V." seien, sich im Heimatland für ihr Volk eingesetzt und in Deutschland an öffentlichen Kundgebungen gegen die Volksrepublik China teilgenommen hätten, in China von Verfolgung bedroht.

Zum Hergang der Flucht hat der Klägerbevollmächtigte mit weiterem Schriftsatz vom 18. Oktober 1999 ausgeführt:

Der Kläger habe China am 16. Oktober 1995 mit Hilfe seiner Untergrundorganisation, der "Sherk Turkistan Democratic Partis", verlassen. Auf einem Lkw, versteckt zwischen Textilsäcken, sei er zunächst bis zum Grenzort Torgat gebracht worden. Dann sei er auf einen anderen Lkw umgestiegen, habe sich wieder zwischen Textilsäcken versteckt und sei so über die Grenze nach Kirgisien gelangt. Seinen Freund A____, der ebenfalls Mitglied der Untergrundorganisation gewesen sei, sowie Herrn A____, geb. Z____, habe er in Bischkek getroffen.

Mit der Organisation sei er im Jahre 1991 in Berührung gekommen. In einer Probezeit von etwa sechs Monaten Dauer habe er Geld bei uigurischen Händlern gesammelt und vereinzelt Propagandamaterial verteilt. 1992 sei er Mitglied geworden, und zwar zusammen mir sechs Freunden, darunter auch _____H____ (gemeint sein dürfte wohl _____A____ ).

Fluchtauslösend sei die versuchte Festnahme am 2. September 1995 gewesen. Er - der Kläger - habe zusammen mit seinem Freund _____ und einem weiteren Mitglied der Organisation Flugblätter auf dem Versammlungsplatz von Artusch verteilt, als dort zwei Uiguren öffentlich hingerichtet werden sollten. Man habe ihn entdeckt und es sei zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gekommen; mit Hilfe anderer Uiguren sei es ihm gelungen, sich loszureißen und zu fliehen. Er habe sich dann in einem kleinen Ort in der Nähe von Artusch versteckt gehalten. Von einem Freund habe er erfahren, dass er im Hinblick auf die Ereignisse vom 2. September 1995 auf einer Fahndungsliste der Polizei stünde; vermutlich sei er von auf den Gebäuden um den Platz angebrachten Kameras aufgenommen und dann identifiziert worden. Bei einer Verhaftung hätte er mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Dies ergebe sich aus einer Vielzahl von Presseartikeln, Stellungnahmen und Auskünften verschiedener Stellen und Organisationen zur Situation in Xinjiang.

Darüber hinaus drohe ihm bei Rückkehr in sein Heimatland politische Verfolgung schon deswegen, weil er sich während seines Aufenthalts in Deutschland von Anfang an in herausgehobener Weise exilpolitisch betätigt habe. Er habe wiederholt an öffentlichen Demonstrationen und Protesten gegen die chinesische Regierung und deren menschenrechtswidrigen Umgang mit den Uiguren teilgenommen (u.a. auch an solchen vor der chinesischen Botschaft in Bonn und dem chinesischen Generalkonsulat in München) und sei auch in einer ZDF-Sendung vom Dezember 1996 anlässlich des Besuchs des Dissidenten ____W____ ausführlich gezeigt worden. Über sein Schicksal sei unter Nennung seines Namens wiederholt in der Presse und in Publikationen von Menschenrechtsorganisationen berichtet worden.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG hinsichtlich der Volksrepublik China vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen. Zur Begründung hat sie sich auf den angefochtenen Asylbescheid bezogen.

Der beteiligte Bundesbeauftragte hat sich erstinstanzlich nicht zur Sache geäußert und keinen Antrag gestellt.

Mit seinem auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 1999 ergangenen Urteil - 3 K 20741/96 GE - hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

In seinen Entscheidungsgründen hat das Gericht offen gelassen, ob der Kläger bereits vorverfolgt ausgereist ist. Jedenfalls drohe ihm wegen seiner exilpolitischen Aktivität, die in inhaltlicher Kontinuität zu seiner bereits im Herkunftsland betätigten Überzeugung stehe und daher nicht gemäß § 28 AsylVfG unbeachtlich sei, bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Er habe sich zwar nicht herausgehoben exilpolitisch betätigt, sondern nur als einfacher Teilnehmer an Demonstrationen. Er habe dies jedoch als Uigure in einer uigurischen Organisation getan. Es gebe gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass unter diesen Umständen die exilpolitische Tätigkeit als bedeutsamer und gefährlicher eingestuft werde; so gehe aus der Presseberichterstattung hervor, dass die chinesischen Behörden im Kampf gegen aus ihrer Sicht separatistische Bestrebungen und Behinderungen der chinesischen Staatsgewalt in Xinjiang mit unnachsichtiger Härte einschritten.

Nach Zustellung des Urteils am 23. März 2000 hat der beteiligte Bundesbeauftragte mit Schriftsatz vom 3. April 2000, beim Verwaltungsgericht eingegangen am 5. April 2000, beantragt, die Berufung gegen das Urteil zuzulassen. Der Senat hat diesem Antrag entsprochen und die Berufung mit Beschluss vom 18. Mai 2001 - 3 ZKO 334/00 - zugelassen.

Nach Zustellung des Beschlusses am 5. Juni 2001 hat der Bundesbeauftragte mit am 18. Juni 2001 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz zur Begründung seiner Berufung im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Zulassungsantrag Bezug genommen und ergänzend auf neuere Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs hingewiesen.

Schriftsätzlich beantragt er,

das Urteil des VG Gera vom 22.10.1999 abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung seine Klage hinsichtlich des Begehrens, als Asylberechtigter anerkannt zu werden, zurückgenommen. Im Übrigen beantragt er,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil hinsichtlich der darin ausgesprochenen Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, unter Vertiefung und Ergänzung seines erstinstanzlichen Vorbringens. Seiner Ansicht nach ergibt sich aus der Auskunftslage und der Presseberichterstattung, dass er angesichts seiner Mitgliedschaft beim "Weltkongress der Uigurischen Jugend" und wegen seiner herausgehobenen exilpolitischen Betätigung, insbesondere seiner namentlichen Erwähnung in Printmedien, auch überregionaler und solcher von Menschenrechtsorganisationen, seiner Teilnahme an zahlreichen Demonstrationen in Deutschland, darunter Protestveranstaltungen vordem Münchener Generalkonsulat, sowie seines persönlichen Auftritts im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung ausgesetzt wäre.

Die Beklagte stellt keinen Antrag, tritt aber dem Vorbringen des Klägers unter Hinweis auf das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juli 2002 - 2 B 98.34950 - entgegen, nach dem uigurische Volkszugehörige wegen exilpolitischer Tätigkeiten nur dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in China zu gewärtigen hätten, wenn die regimekritische Aktivität das übliche Maß deutlich übersteige und der Asylbewerber sich dadurch in besonderer Weise exponiert habe.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten zu diesem und den beiden Eilverfahren (Az.: 6 E 20752/96 GE und 6 E 21253/96 GE), der beigezogenen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Asylakte des Klägers sowie der in der den Beteiligten übersandten Erkenntnisquellenliste "China" aufgeführten und der weiteren, ebenfalls zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des beteiligten Bundesbeauftragten hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

Der weiter gehende Ausspruch des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Asylberechtigung des Klägers ist nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens, weil der Kläger insoweit seine Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat und die übrigen Beteiligten - die Beklagte durch ihre "Generalerklärung" vom 25. März 1999, der Bundesbeauftragte mit Schriftsatz vom 7. Juli 2003 - ihr Einverständnis hiermit erklärt haben. Bezüglich dieses Teils des Streitgegenstands ist daher das Verfahren einzustellen (§§ 125 Abs. 1, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entsprechend). Der Klarstellung halber ist auszusprechen, dass das mit der Berufung angegriffene Urteil insoweit wirkungslos ist (§§ 173 VwGO, 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entsprechend).

Soweit die Klage aufrechterhalten worden und auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gerichtet ist, ist sie begründet, weil die Voraussetzungen dieser Bestimmung im Falle des Klägers vorliegen, mit der Folge, dass die Berufung des Bundesbeauftragten zurückzuweisen ist.

Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Das Verbot des § 51 Abs. 1 AuslG schützt damit - ebenso wie Art. 16a Abs. 1 GG - den Personenkreis der politisch Verfolgten und dient der Umsetzung des Art. 33 Nr. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention) vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S. 59). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die den unbestimmten Rechtsbegriff des "politisch Verfolgten" im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a. F.) ausgefüllt hat, ist daher auch im Rahmen der Anwendung des § 51 Abs. 1 AuslG zu berücksichtigen. Die Erfordernisse dieser Bestimmung sind mit den Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter deckungsgleich, soweit es um die Frage der politischen Verfolgung geht (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1993 - 9 C 50.92 - , NVwZ 1994, 500, m.w.N.). Auch gilt für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG der gleiche Prognosemaßstab wie für eine Verfolgungsgefahr i. S. d. Art. 16a Abs. 1 GG (vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391, und vom 3. November 1992 - 9 C 21.92- , BVerwGE 91, 150 [Leitsatz und S. 154], jeweils m. w. N.).

Den Schutz des § 51 Abs. 1 AuslG (wie des Art. 16a Abs. 1 GG) als politisch Verfolgter kann zum einen derjenige in Anspruch nehmen, der vorverfolgt, also wegen - bereits eingetretener oder unmittelbar drohender (vgl. dazu nur BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86, 1000/86 und 961/86 - , BVerfGE 80, 315) - politischer Verfolgung, aus seinem Heimatland ausgereist ist und bei dem im Falle der Rückkehr in das Heimatland die Gefahr politischer Verfolgung nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (sog. herabgestufter Prognosemaßstab, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9/96 - , BVerwGE 104, 97; BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80, 181/80 und 182/80 -, BVerfGE 54, 341). Dabei kann sich die Gefahr politischer Verfolgung einer Person auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das sie mit ihnen teilt, und wenn sie sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, so dass sie bisher eher zufällig von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen verschont geblieben ist (zu dieser Gefahr der sog. Gruppenverfolgung vgl. nur BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 [202 f.], m. w. N.).

Zum anderen genießt derjenige den Schutz des § 51 Abs. 1 AuslG, der zwar unverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist ist, dem aber auf Grund sog. Nachfluchttatbestände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 3. November 1992 - 9 C 21.92 - , a. a. O., S. 154). Dies ist dann der Fall, wenn "aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint"; unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat u. U. auch dann sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118/90 - , BVerwGE 89, 162 [169 f.]).

Gemessen an diesen Maßstäben liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor. Ihm droht bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Da das noch inmitten stehende Klagebegehren bereits bei Zugrundelegung dieses Prognosemaßstabs begründet ist - und daher erst recht bei Anlegung des herabgestuften Prognosemaßstabs (s. o.) - , kommt es auf die Frage, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist, letztlich nicht an. Der Klarstellung halber sei jedoch - nicht zuletzt im Hinblick auf die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung, auf Grund deren der Kläger seine Klage zurückgenommen hat, soweit sie auf seine Anerkennung als Asylberechtigter zielte - bemerkt, dass der Senat in dem (inhaltlich ohnehin nicht substanzhaltigen oder gar überzeugenden) Vortrag zum angeblichen Vorfluchtgeschehen ein asylrelevantes Verfolgungsschicksal nicht zu erblicken vermag (und - im Gegensatz zum Verwaltungsgericht - auch keine feste, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigte Überzeugung i. S. d. § 28 Satz 1 AsylVfG).

Das Maß der Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger bei Rückkehr in sein Heimatland staatlichen Repressalien ausgesetzt sein würde, geht über eine bloß theoretische Möglichkeit deutlich hinaus und erscheint als mindestens ebenso groß wie die Wahrscheinlichkeit dafür, dass er unbehelligt bleibt. Auf Grund der Gesamtumstände des Falles besteht hier die "reale Möglichkeit" einer politischen Verfolgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, erscheint eine Rückkehr in den Heimatstaat auch aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers nach Abwägung aller bekannten Umstände als unzumutbar (vgl. dazu bereits oben, S. 10 f., unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118/90 - , a.a.O.).

Die Situation in China und in der Region Xinjiang stellt sich nach den vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln im Wesentlichen wie folgt dar:

Die im Nord-Westen Chinas gelegene Autonome Region Xinjiang, das frühere Ostturkistan, ist mit 1.666.000 km² die flächenmäßig größte Verwaltungseinheit der Volksrepublik China. Die Bevölkerung Xinjiangs, insgesamt gut 16 Millionen Menschen, setzt sich aus einer Reihe ethnischer Minderheiten zusammen, darunter ist das Turkvolk der Uiguren mit knapp 7 Millionen die größte. Das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen ist geprägt durch bis ins 18. Jahrhundert zurückgehende, noch immer nicht bewältigte Konflikte zwischen der jeweiligen chinesischen Regierung und den überwiegend moslemischen Volksgruppen. Das als wichtige Landbrücke nach Süd- und Westasien und auch wegen seiner Rohstoffe (u. a. Erdöl) bedeutsame Grenzgebiet war für die chinesischen Herrscher seit jeher von großem Interesse. Insbesondere seit Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrieb die chinesische Regierung eine gezielte Siedlungspolitik durch offizielle Förderung der Zuwanderung von Han-Chinesen, die inzwischen wohl die stärkste Bevölkerungsgruppe bilden. Die Siedlungspolitik wurde flankiert von einer forcierten Industrialisierung der Region, die ehedem durch Landswirtschaft und Handwerk geprägt war. Hinzu kam die Stationierung von Armeeeinheiten. Die Veränderungen der gewachsenen Strukturen zog eine Intensivierung ohnehin vorhandener separatistischer Bestrebungen auf Seiten der nationalen Minderheiten, insbesondere der Uiguren, nach sich. Die Proteste gegen die Regierungspolitik haben sich seit Ende der achtziger Jahre verschärft, es kommt zu Unruhen und Bombenanschlägen (vgl. dazu nur Weyrauch, Gutachten vom November 1998 an das VG München im Verfahren M 4 K 97.52613). Der erhöhten Gewaltbereitschaft der turkmenischen Bevölkerung steht ein verschärftes Vorgehen der chinesischen Sicherheitskräfte gegenüber; Uiguren, die sich für die Autonomie einsetzen, werden häufig ohne Gerichtsverfahren inhaftiert (vgl. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. September 2002, Stand: August 2002, S. 10).

Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass alle tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Bestrebungen in Xinjiang, die den chinesischen Herrschaftsanspruch über die in China lebenden Minderheiten und die von diesen bewohnten Gebiete in Frage stellen oder die Ausübung der chinesischen Staatsgewalt behindern (z. B. Autonomieforderungen, separatistische Untergrundtätigkeit), mit unnachsichtiger Härte unterdrückt werden (vgl. den Lagebericht vom 17. September 2002, S. 9). So seien Anfang Februar 2000 fünf Todesurteile gegen wegen separatistischer Aktivitäten angeklagter Uiguren vollstreckt und im Juli 2000 sechs Personen in Xinjiang hingerichtet worden, von denen drei einer uigurischen Unabhängigkeitsbewegung angehörten (vgl. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. August 2001, Stand: Juni 2001, S. 10). Vieles spricht dafür, dass das Vorgehen gegen "Separatisten" insbesondere nach den Ereignissen des 11. September 2001 intensiviert worden ist (vgl. etwa die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 25. Juni 2002 an das VG München im Verfahren M 4 K 00.50487 und von amnesty international vom 29. April 2002 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof; ferner dessen Urteil vom 24. Juli 2002 - 2 B 98.34950 - , S. 11 o., 13 o.).

Inwieweit auch im Ausland geäußerte oder betätigte Autonomie-Bestrebungen geahndet und exilpolitisch in diesem Sinne aktive Uiguren bei Rückkehr nach China mit daran anknüpfenden staatlichen Sanktionen rechnen müssen, bedarf angesichts der Erkenntnismittel einer näheren und differenzierten Betrachtung.

Zur Asylrelevanz exilpolitischen Verhaltens ist dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. September 2002 (S. 13 f.) zu entnehmen, dass nach Einschätzung der chinesischen Führung von oppositionellen Organisationen chinesischer Intellektueller im Ausland eine geringere Bedrohung ausgeht als von solchen in China. Gefährdet seien insbesondere im Ausland lebende führende Mitglieder der Studentenbewegung von 1989, die nach wie vor aktiv seien, und bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung nähmen und eine ernstzunehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorgerufen hätten. Gleiches gelte für Angehörige ethnischer Minderheiten, wenn sie nach chinesischem Verständnis als "Separatisten" einzustufen seien. Sie müssten im Falle ihrer Rückkehr mit ständiger Überwachung oder Inhaftierung sowie ggf. Verurteilung zu mehrjährigen Freiheitsstrafen oder einem Lageraufenthalt rechnen. Erkenntnisse darüber, dass die Teilnahme an Demonstrationen im Ausland - auch vor chinesischen Auslandsvertretungen - oder das Verfassen von Petitionen für sich allein oder in Verbindung etwa mit "illegaler Ausreise" oder Asylantragstellung bei einer Rückkehr nach China zu Repressalien führen, liegen dem Auswärtigen Amt nicht vor (zum exilpolitischen Verhalten ebenso bereits der Lagebericht vom 7. August 2001, S. 14).

In seiner Auskunft vom 8. Mai 2001 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im Verfahren 2 B 98.34950 sieht das Auswärtige Amt das Ausmaß der Gefahr, überwacht zu werden und mit etwaigen Repressalien rechnen zu müssen, in Abhängigkeit von der Intensität der separatistischen Betätigung der betreffenden Person. Dabei komme es weniger auf formale Kriterien wie der Mitgliedschaft in einer entsprechenden Organisation als vielmehr darauf an, welches substantielle Gewicht die oppositionelle oder separatistische Tätigkeit habe und wie "gefährlich" sie aus der Sicht der chinesischen Führung sei. Von Bedeutung sei hierbei weiterhin, ob die jeweilige Person als führendes Mitglied einer separatistischen Bewegung anzusehen sei, ob sie bereits durch separatistische Aktivität in China aufgefallen sei und welche Resonanz die Tätigkeit in der Öffentlichkeit hervorgerufen habe (Auskunft vom 8. Mai 2001 an den BayVGH im Verfahren 2 B 98.34950). In eine ähnliche Richtung geht die Einschätzung von amnesty international. In der ebenfalls im Verfahren 2 B 98.34950 erteilten Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 29. April 2002 heißt es: "Den chinesischen Behörden geht es jedoch primär um die Bekämpfung der Gefahr, die ihrer Meinung nach von Personen ausgeht, die die Unabhängigkeit der fraglichen Region befürworten, die Herrschaft der KPCh in Frage stellen oder in sonstiger Weise oppositionell tätig sind. Es ist daher davon auszugehen, dass für die chinesischen Behörden weniger die formelle Mitgliedschaft, sondern eher die (vielleicht auch vermeintliche) Zugehörigkeit zu einer dieser Organisationen und vor allem die Tätigkeit innerhalb dieser Organisationen relevant ist" (s. S. 3 der Auskunft).

Ob das exilpolitische Verhalten eines - wie hier - unverfolgt aus China ausgereisten Uiguren die Gefahr einer asyl relevanten politischen Verfolgung bei Rückkehr in das Heimatland nach sich zieht, ist mithin von mehreren Faktoren abhängig (vgl. zu weiteren Einzelheiten das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juli 2002 - 2 B 98.34950 - und die darin inhaltlich wiedergegebenen weiteren Erkenntnisquellen, S. 8 ff. des Urteilsumdrucks). Allgemein wird man insoweit die exilpolitische Betätigung eines unverfolgt ausgereisten Uiguren als asylrechtlich irrelevant "abschichten" können, die sich auf das beinahe übliche und oft lediglich der Stützung des Asylbegehrens dienende Maß beschränkt, etwa die bloße formelle Mitgliedschaft in Exilorganisationen und die - sei es auch häufige - Teilnahme an Demonstrationen. Auch im Verbund mit der Asylantragstellung und einer etwaigen illegalen Ausreise kommt einem solchen nicht exponierten exilpolitischen Verhalten Asylrelevanz in dem Sinne, dass bei Rückkehr nach China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte, nicht zu (ebenso: BayVGH, Urteil vom 24. Juli 2002 - 2 B 98.34950 -, S. 12 f. des Urteilsumdrucks).

Erforderlich ist vielmehr ein individuelles Hervortreten aus der Vielzahl derjenigen, die gleichsam nur formell oppositionell sind (also etwa bloße Mitglieder in Exilorganisationen) oder - im eigentlichen Wortsinn - lediglich "Mitläufer" bei Demonstrationen, mögen sie dabei auch als Träger von Transparenten, als Ordner usw. wirken. Es gibt nach der Auskunftslage keinen Anhaltspunkt dafür, dass ein derartiges Verhalten bei den zuständigen Behörden in China ein solches Interesse wecken könnte, dass die betreffenden Personen bei Rückkehr nach China mit asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätten. Ein solches Verhalten, das in der Bundesrepublik Deutschland letztlich jedermann erlaubt und mithin ohne Furcht vor Sanktionen möglich ist, lässt für sich besehen keinerlei Rückschlüsse darauf zu, dass die entsprechende Person auch in China separatistische Unternehmungen unterstützen oder gar aktiv fördern würde und damit "gefährlich" für das Regime werden könnte. Dies gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil ein solches Verhalten oft lediglich zur Stützung des Asylbegehrens unternommen und "die Sache" (hier etwa: die Unabhängigkeit Ostturkistans) selbst in den Hintergrund tritt oder im Einzelfall überhaupt keine ernstliche Rolle spielt und überdies von der Öffentlichkeit nicht, jedenfalls nicht mit Bezug zu der konkreten Person (etwa dem einzelnen Demonstranten) wahrgenommen wird.

Wer demgegenüber aber in einer der aktiv für die Unabhängigkeit Xinjiangs eintretenden Exilorganisationen führend (insbesondere hinsichtlich der Meinungsbildung) tätig ist und in dieser Eigenschaft auch in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird, bei dem wird die Gefahr recht groß sein, dass sich die chinesischen Behörden für ihn "interessieren", dass er einer Überwachung und Repressalien ausgesetzt sein könnte. Dies gilt umso mehr, als nach der Auskunftslage einiges dafür spricht, dass die Auslandsaktivität chinesischer Staatsbürger von entsprechenden chinesischen Stellen beobachtet wird (vgl. etwa Weyrauch, Gutachten vom November 1998 an das VG München im Verfahren M 4 K 97.52613, S. 1 u. sowie die vom Kläger mit Schriftsatz vom 18. Juni 2003 in Kopie vorgelegten Mitteilungen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz an das VG München vom 14. Dezember 1999 und vom 24. Januar 2000), wenngleich davon nicht mit Gewissheit ausgegangen werden kann (vgl. die Auskunft von amnesty international vom 29. April 2002 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, S. 3).

Was den Fall des Klägers betrifft, so ist dieser angesichts der von ihm vorgetragenen exilpolitischen Betätigung und auf Grund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks nach Einschätzung des Senats zwar kaum als ein "führender Kopf" einer oppositionellen Auslandsorganisation anzusehen und steht nicht an vorderster Stelle einer solchen Organisation. Er ist aber auch nicht lediglich "einer von vielen" Uiguren in Deutschland, die als bloßes Mitglied einer solchen Organisation wie viele andere an Demonstrationen teilnehmen und die mithin nicht individuell wahrgenommen werden, sondern mehr oder weniger in der Menge der in Deutschland um Asyl nachsuchenden Uiguren "untergehen". Vielmehr ist der Kläger schon bald nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland mit Menschenrechtsorganisationen wie der Gesellschaft für bedrohte Völker und amnesty international in Kontakt gekommen, offenbar zusammen mit den beiden anderen Uiguren, mit denen er nach Deutschland gereist ist. Dabei ist es ihnen offenbar gelungen, ein besonderes Interesse für sich, ihr Schicksal und die Lage der Uiguren in Xinjiang zu wecken bzw. zu aktualisieren.

Jedenfalls wurde in der Folgezeit, zunächst anlässlich der ursprünglichen Ablehnung der jeweiligen Eilanträge durch das Verwaltungsgericht, über das von den drei Flüchtlingen geschilderte Vorfluchtgeschehen und ihre angebliche oppositionelle Tätigkeit in China in der regionalen und überregionalen Presse berichtet (vgl. Frankfurter Rundschau vom 14. August 1996, S. 5, Göttinger Tageblatt vom 15. August 1996, S. 12). Namentlich wurde dabei zwar nur einer der drei, nämlich _____A___, genannt; in der Berichterstattung der Frankfurter Rundschau indes ist der Bezug zu den beiden Mitflüchtlingen hergestellt, die ebenfalls in China "steckbrieflich gesucht" würden. Gleiches gilt für den Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker in ihrem sog. Kampagnenblatt "Bedrohte Völker Aktuell" (Ausgabe 111, Herbst 1996). In der regelmäßig (alle zwei Monate) erscheinenden Zeitschrift "pogrom", die ebenfalls von der Gesellschaft für bedrohte Völker herausgegeben wird, wurde in Ausgabe Nr. 191 (Oktober/November 1996) auf Seite 5 über alle drei namentlich und unter Abdruck eines Photos berichtet. Kurz darauf erschien, ebenso unter Beifügung eines Photos und Nennung aller drei Namen, ein Artikel in den von amnesty international herausgegebenen "amnesty-Nachrichten aus der Region Kassel-Göttingen" (Ausgabe 1 - Januar 1997, S. 10 f.), in dem ebenfalls über das von den dreien geschilderte Vorfluchtgeschehen, den weiteren Verlauf der gerichtlichen Eilverfahren (Anordnung der aufschiebenden Wirkung) und die Aufnahme der exilpolitischen Betätigung (Beitritt zur Ostturkistanischen Union in Europa e. V., Teilnahme an Demonstrationen und anderen "öffentlichen Aktionen") geschrieben wurde. Die Berichte dieser Menschenrechtsorganisationen über den Kläger und die beiden Mitflüchtlinge waren jeweils Teil einer recht ausführlichen kritischen Berichterstattung über die Menschenrechtslage in China bzw. Xinjiang (so etwa trug die Ausgabe 111 des vierseitigen Kampagneblatts "Bedrohte Völker Aktuell" die Überschrift "China erdrückt kleine Völker - Uiguren und Tibeter brauchen Ihre Hilfe!"). Auch das Fernsehen nahm sich des Themas an. So berichtete das ZDF im Dezember 1996 in einer Folge seiner Sendereihe "Nachbarn" über das Schicksal eines uigurischen Asylbewerbers. Ausweislich der vom Kläger vorgelegten Videoaufzeichnung dieser Sendung, die der Senat in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen hat, war der Kläger in der Sendung mehrfach in einer Personengruppe zu sehen und wurde von seinem Bevollmächtigten, der sich in dieser Sendung zur Situation uigurischer Asylbewerber äußerte, neben anderen Personen namentlich vorgestellt.

Auf Grund dieser wiederholten Berichterstattung über den Kläger und die beiden anderen Mitflüchtlinge im Kontext kritischer öffentlicher Äußerungen zum Umgang der chinesischen Regierung mit Menschenrechten und der Lage der Uiguren in Xinjiang sind alle drei in einer solchen Weise aus der Masse der bloßen Mitläufer, der einfachen Organisationsmitglieder und Demonstrationsteilnehmer, und in einer für die chinesischen Behörden durchaus "interessanten" Weise individuell hervorgetreten. Angesichts dessen dürften sie mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit die Aufmerksamkeit chinesischer Auslandsstellen erregt haben und unter Beobachtung geraten sein. Damit hat die fortgeführte Mitgliedschaft in oppositionellen Exilorganisationen sowie die weitere Beteiligung an Protesten und Demonstrationen gegen die Politik der chinesischen Regierung und für die Unabhängigkeit Ostturkistans im Hinblick auf eine etwaige Gefährdung bei Rückkehr nach China von vornherein ein anderes Gewicht als bei der breiten Masse von Mitläufern.

Unter Berücksichtigung der Umstände im Übrigen ergibt sich daraus zur Überzeugung des Senats ein mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohendes Verfolgungsrisiko:

Nach den oben dargestellten Erkenntnissen spricht vieles dafür, dass die exilpolitische Tätigkeit chinesischer Staatsbürger von den entsprechenden Stellen im Ausland beobachtet wird, und zwar mit großem Interesse (s.o., S. 15 f.). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. September 2002 (Stand: August 2002, S. 14) sind schon Personen, die vor ihrer Rückkehr keine herausragende politische Aktivität entfaltet bzw. Resonanz verursacht hatten, in der Vergangenheit bei ihrer Rückkehr befragt und vor regierungskritischer Betätigung in China gewarnt worden. Der Kläger und die beiden mit ihm nach Deutschland geflohenen Uiguren sind nach ihrer Einreise nach Deutschland über ein knappes halbes Jahr hinweg wiederholt im Rahmen der öffentlichen Berichterstattung in unterschiedlichen regionalen und überregionalen Medien über die Situation der uigurischen Minderheit in China erwähnt worden, und dies teilweise namentlich. Soweit Namen genannt wurden, waren es regelmäßig nur wenige; die Namen dieser drei Personen erschienen also nicht unter "ferner liefen", sondern es ging in einigen Berichten gerade um ihr spezielles Schicksal. Damit unterscheidet sich der Fall dieser drei Personen deutlich von den vielen anderen Fällen des beinahe "asyltypischen Mitläufertums". Anders als bei diesen besteht im Falle des Klägers und der beiden Mitflüchtlinge eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie wegen des namentlich zu ihnen hergestellten Bezugs in den vielen, teilweise sehr kritischen Medienberichten über den Umgang mit den Uiguren in China konkret und individuell ins Blickfeld staatlicher chinesischer Stellen geraten sind. Angesichts der in den Erkenntnisquellen immer wieder betonten Ernsthaftigkeit, mit der die chinesische Regierung gegen regimekritische und insbesondere separatistische Tendenzen vorgeht, und der ohnehin bestehenden großen Aufmerksamkeit auch für exilpolitisches Verhalten ist daher nach Überzeugung des Senats von einer ernst zu nehmenden Gefahr auszugehen, dass der Kläger bei Rückkehr nicht lediglich mit einer Befragung und Warnung vor regimekritischer Betätigung in China rechnen muss wie diejenigen, denen eine entsprechende öffentliche Resonanz im Ausland nicht zuteil geworden ist, sondern mit asylerheblichen Maßnahmen.

Gerade vor dem Hintergrund, dass die chinesischen Sicherheitskräfte mit "unnachsichtiger Härte" gegen jegliche separatistische Bestrebung vorgehen und sich dies nach den Attentaten in den USA vom 11. September 2001 noch verschärft hat, und angesichts dessen, dass es bei dem behördlichen Vorgehen häufig zu Inhaftierungen ohne vorheriges Gerichtsverfahren und auch zu Hinrichtungen kommt (vgl. nur den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. September 2002, Stand: August 2002, S. 10), stellt sich die Gefahr, dass der in oben beschriebener Weise exilpolitisch individuell aus der Masse hervorgetretene Kläger bei Rückkehr nach China bereits wegen seines exilpolitischen Engagements "zur Rechenschaft gezogen" wird und Repressalien gewärtigen muss, ihm also politische Verfolgung droht, als eine "reale Möglichkeit" dar, auf Grund deren auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen würde. Nicht nur ein ängstlicher Mensch schreckte in dieser Situation vor der Rückkehr in sein Heimatland zurück. Vielmehr erscheint - im Sinne des oben dargestellten Maßstabs (vgl. S. 10 f.) - hier auch aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung der bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar.

Das Verwaltungsgericht hat daher die Beklagte zu Recht verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG im Falle des Klägers vorliegen. Die gegen diesen Ausspruch gerichtete Berufung des beteiligten Bundesbeauftragten ist demnach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2, § 162 Abs. 3 i. V. m. § 154 Abs. 3 VwGO entsprechend; Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.



Ende der Entscheidung

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