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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.12.1989
Aktenzeichen: 114/88
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Code de la securiteŽsociale (Sozialversicherungsgesetzbuch), Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 3427/89


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 51
Code de la securiteŽsociale (Sozialversicherungsgesetzbuch) Art. L 512. 1 ff.
Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 3427/89 Art. 73
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 51 EWG-Vertrag ist, weil er sich ausschließlich auf Arbeitnehmer bezieht, dahin auszulegen, daß er einem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet ein Selbständiger seine berufliche Tätigkeit ausübt, nicht die Verpflichtung auferlegt, Familienbeihilfen im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 zu zahlen, wenn die Familienangehörigen dieses Selbständigen in einem anderen Mitgliedstaat wohnen.

Seit dem 15. Juni 1986 hat jedoch nach Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 3427/89 ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 5. DEZEMBER 1989. - PATRICK DELBAR GEGEN CAISSE D'ALLOCATIONS FAMILIALES DE ROUBAIX-TOURCOING (CAF). - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DES AFFAIRES DE SECURITE SOCIALE DE LILLE - FRANKREICH. - SOZIALE SICHERHEIT - FAMILIENBEIHILFEN FUER SELBSTAENDIGE. - RECHTSSACHE 114/88.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal des affaires de sécurité sociale Lille hat mit Urteil vom 18. Februar 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 11. April 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 51 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger und der Commission de recours gracieux ( Beschwerdeausschuß ) der Caisse d' allocations familiales Roubaix-Tourcoing wegen der Ablehnung des Antrags des Klägers auf Zahlung der französischen Familienbeihilfen seit April 1984 durch die Beklagte.

3 Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein Rechtsanwalt belgischer Staatsangehörigkeit, der Mitglied der Rechtsanwaltskammer Lille ist, hat seine Kanzlei in Frankreich und entrichtet demgemäß Beiträge bei der Beklagten, wohnt aber mit seiner Familie in Belgien.

4 Bis April 1984 übte seine Ehefrau eine unselbständige Tätigkeit in Belgien aus und bezog daher dort Familienbeihilfen für ihre Kinder. Nachdem seine Frau aufgehört hatte zu arbeiten, beantragte der Kläger bei der Beklagten die Zahlung der französischen Familienbeihilfen. Die Beklagte lehnte diesen Antrag namentlich unter Berufung auf die Artikel L 512.1 ff. des Code de la sécurité sociale ( Sozialversicherungsgesetzbuch ) ab, wonach Eltern Familienleistungen nur erhalten, wenn die Kinder in Frankreich wohnen.

5 Nach Ansicht des Klägers verstösst diese nationale Regelung gegen Artikel 51 EWG-Vertrag, und zwar namentlich gegen dessen Buchstaben b, der "die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen", regelt. Er focht daher die Entscheidung der Beklagten mit einer Klage beim Tribunal des affaires de sécurité sociale Lille an. Nach Ansicht dieses Gerichts wirft der Rechtsstreit eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf; es hat deshalb das Verfahren bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofes über die folgenden Fragen ausgesetzt :

"1 ) Ist Artikel 51 Buchstabe b EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß die mit der Zahlung der Familienleistungen betrauten Stellen nach dieser Vorschrift die Stellen des Staates sind, in dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausübt und gegebenenfalls seine Beiträge zahlt, oder aber die Stellen des Staates, in dem die Eltern und/oder die Kinder wohnen, die Anspruch auf diese Leistungen haben?

2 ) Sind also, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats seine berufliche Niederlassung in einem Staat, in dem er seine Beiträge zahlt, und seinen privaten Wohnsitz ( wo auch seine Kinder wohnen ) in einem anderen Staat hat, die mit der Zahlung der Familienleistungen betrauten Stellen die des ersten oder die des zweiten Staates?

3 ) Kann der einzelne sich bei Fehlen einer für die Angehörigen freier Berufe geltenden europäischen Richtlinie über Familienleistungen unmittelbar auf die sich aus Artikel 51 EWG-Vertrag ergebenden Rechte berufen?"

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens und den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen ergibt sich, daß das innerstaatliche Gericht wissen möchte, ob Artikel 51 EWG-Vertrag einem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet ein Selbständiger seine berufliche Tätigkeit ausübt, die Verpflichtung auferlegt, Familienbeihilfen im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern ( ABl. L 145, S. 2 ), zu zahlen, wenn die Familienangehörigen dieses Selbständigen in einem anderen Mitgliedstaat wohnen.

8 Zur Beantwortung dieser Frage ist festzustellen, daß sich Artikel 51 EWG-Vertrag nach seinem Wortlaut ausschließlich auf Arbeitnehmer bezieht. Zwar wurde der persönliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71, die vom Rat unter anderem auf der Grundlage von Artikel 51 EWG-Vertrag erlassen worden war, durch die Verordnung Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 ( ABl. L 143, S. 1 ), die insbesondere auf der Grundlage der Artikel 51 und 235 EWG-Vertrag erlassen wurde, auf die Selbständigen ausgedehnt, doch blieb der Geltungsbereich von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 über die Zahlung von Familienleistungen insoweit unverändert. Artikel 73 gilt damit weiterhin nur für Arbeitnehmer.

9 Die Verordnung Nr. 1408/71 ist jedoch nach der mündlichen Verhandlung durch die auf der Grundlage der Artikel 51 und 235 EWG-Vertrag erlassene Verordnung Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 ( ABl. L 331, S. 1 ), erneut geändert worden. Durch Artikel 1 der Verordnung Nr. 3427/89 ist Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin geändert worden, daß "ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt,... vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates (( hat )), als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten ".

10 Insoweit ist festzustellen, daß der Anhang VI nicht die französischen Familienbeihilfen betrifft. Auch gilt die Verordnung Nr. 3427/89 gemäß ihrem Artikel 3 erst seit dem 15. Januar 1986.

11 Somit ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß Artikel 51 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß er einem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet ein Selbständiger seine berufliche Tätigkeit ausübt, nicht die Verpflichtung auferlegt, Familienbeihilfen im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 zu zahlen, wenn die Familienangehörigen dieses Selbständigen in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Seit dem 15. Januar 1986 hat jedoch nach Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 3427/89 ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.

Kostenentscheidung:

Kosten

12 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Zweite Kammer )

auf die ihm vom Tribunal des affaires de sécurité sociale Lille mit Urteil vom 18. Februar 1988 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

Artikel 51 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er einem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet ein Selbständiger seine berufliche Tätigkeit ausübt, nicht die Verpflichtung auferlegt, Familienbeihilfen im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 zu zahlen, wenn die Familienangehörigen dieses Selbständigen in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Seit dem 15. Januar 1986 hat jedoch nach Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 3427/89 ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.

Ende der Entscheidung

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