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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.10.1989
Aktenzeichen: 231/87
Rechtsgebiete: Sechste Richtlinie 77/388/EWG


Vorschriften:

Sechste Richtlinie 77/388/EWG Art. 4 Abs. 5
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist dahin auszulegen, daß es sich bei den Tätigkeiten "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" im Sinne dieser Vorschrift um solche Tätigkeiten handelt, die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung ausüben; ausgenommen sind die Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer. Von der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige sind somit die Tätigkeiten ausgeschlossen, die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht als Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts, sondern als Rechtssubjekte des Privatrechts ausüben. Es ist Sache jedes Mitgliedstaats, die geeignete Rechtsetzungstechnik zu wählen, um die in dieser Vorschrift aufgestellte Regel der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige in sein nationales Recht umzusetzen.

Unterabsatz 2 ist dahin auszulegen, daß die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts für die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegenden Tätigkeiten der Steuerpflicht zu unterwerfen, wenn diese Tätigkeiten - im Wettbewerb mit ihnen - auch von Privaten nach einer privatrechtlichen Regelung oder auch aufgrund von verwaltungsrechtlichen Genehmigungen ausgeuebt werden können und ihre Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann; sie sind jedoch nicht verpflichtet, dieses Kriterium wörtlich in ihr nationales Recht zu übernehmen oder quantitative Grenzen für die Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige festzulegen.

Unterabsatz 3, der sicherstellen soll, daß bestimmte Arten von wirtschaftlichen Tätigkeiten, deren Gegenstand von Bedeutung ist und die in Anhang D aufgeführt sind, nicht deshalb von der Mehrwertsteuer befreit werden, weil sie von Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeuebt werden, ist dahin auszulegen, daß den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt wird, diese Tätigkeiten von der Steuerpflicht zu befreien, sofern ihr Umfang unbedeutend ist, daß sie jedoch nicht verpflichtet sind, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen. Die Vorschrift verpflichtet sie also nicht, das Kriterium des nicht unbedeutenden Umfangs als Voraussetzung für die Besteuerung in ihr Steuerrecht zu übernehmen.

2. Eine Einrichtung des öffentlichen Rechts kann sich auf Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie berufen, um sich der Anwendung einer nationalen Vorschrift zu widersetzen, nach der sie für eine ihr im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegende Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, die nicht in Anhang D der Sechsten Richtlinie aufgeführt ist und deren Nichtbesteuerung nicht zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 17. OKTOBER 1989. - UFFICIO DISTRETTUALE DELLE IMPOSTE DIRETTE DI FIORENZUOLA D'ARDA GEGEN COMUNE DI CARPANETO PIACENTINO UND COMUNE DI RIVERGARO UND ANDERE GEGEN UFFICIO PROVINCIALE IMPOSTA SUL VALORE AGGIUNTO DI PIACENZA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COMMISSIONE TRIBUTARIA DI SECONDO GRADO DI PIACENZA UND COMMISSIONE TRIBUTARIA DI PRIMO GRADO DI PIACENZA - ITALIEN. - MEHRWERTSTEUER - BEGRIFF DES STEUERPFLICHTIGEN - OEFFENTLICHE EINRICHTUNGEN. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN 231/87 UND 129/88.

Entscheidungsgründe:

1 Die Commissione tributaria di secondo grado und die Commissione tributaria di primo grado di Piacenza haben mit Beschlüssen vom 8. Mai 1987 und 28. April 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juli 1987 und 4. Mai 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem : einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ( 77/388; ABl. L 145, S. 1 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Ufficio distrettuale delle imposte dirette von Fiorenzuola d' Arda ( Piacenza ) und der Gemeinde Carpaneto Piacentino sowie zwischen der Gemeinde Rivergaro und 23 anderen Gemeinden, die deren Anträge als Streithelfer unterstützen, und dem Ufficio provinciale imposta sul valore aggiunto de Piacenza; dabei geht es insbesondere um die Qualifizierung folgender Tätigkeiten der Gemeinden im Hinblick auf ihre Mehrwertsteuerpflicht : Vergabe von Grabstätten und Grabnischen, Einräumung von Bebauungsrechten und Eigentumsrechten an Grundstücken im Rahmen der Wohnungsbauförderung, Entwidmung und Veräusserung eines Strassenabschnitts, Wasserversorgung, Verpachtung der öffentlichen Waage, Abgabe von beim Baumschnitt angefallenem Holz und Abgabe von Grabnischenzubehör.

3 Im Hinblick auf die Entscheidung dieser Rechtsstreitigkeiten haben die nationalen Gerichte beschlossen, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.

4 In der Rechtssache 231/87 begehrt das nationale Gericht die Beantwortung folgender Fragen :

"1 ) Hat der Grundsatz gemäß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie, der die sogenannten "institutionellen" Tätigkeiten von den mehrwertsteuerpflichtigen Tätigkeiten ausnimmt, bei Fehlen einer spezifischen nationalen Regelung unmittelbare Geltung?

2 ) Wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der Formulierung "Tätigkeiten..., die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen" in Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 die Tätigkeiten umreissen, die die öffentliche Verwaltung aufgrund - wenn auch abgeleiteter - hoheitlicher Befugnisse unmittelbar und ausschließlich ausübt?

3 ) Wenn feststeht, daß die institutionellen Tätigkeiten von der Einrichtung des öffentlichen Rechts ausschließlich ausgeuebt werden, sind dann mit dem Ausdruck "solche Tätigkeiten" in Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 die restlichen Tätigkeiten bezueglich der öffentlichen Dienstleistungen gemeint, die in Italien im Regio Decreto Nr. 2578 vom 15. Oktober 1925 geregelt sind?

4 ) Ist Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 dahin auszulegen, daß er die Mitgliedstaaten verpflichtet, das Kriterium der "grösseren Wettbewerbsverzerrungen" als Voraussetzung für die Besteuerung der in diesem Unterabsatz genannten Tätigkeiten in ihr Steuerrecht zu übernehmen?

5 ) Ist Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3, wonach die Einrichtungen des öffentlichen Rechts in bezug auf die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige gelten, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten "nicht unbedeutend" ist, dahin auszulegen, daß er die Mitgliedstaaten verpflichtet, das Kriterium des "nicht unbedeutenden Umfangs" in ihr Steuerrecht zu übernehmen?"

5 In der Rechtssache 129/88 hat das nationale Gericht dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"1 ) Sind die in Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten EWG-Mehrwertsteuerrichtlinie enthaltenen Gemeinschaftsbestimmungen unmittelbar anwendbar?

2 ) War der italienische Gesetzgeber - bei der Durchführung des Artikels 1 dieser Richtlinie zwecks Anpassung seiner Mehrwertsteuerregelung an die Gemeinschaftsbestimmungen - verpflichtet,

a ) den in Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten EWG-Richtlinie enthaltenen allgemeinen Grundsatz unter Angabe spezifischer Kriterien für die Definition der von den Gemeinden "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" ausgeuebten Tätigkeiten niederzulegen,

b ) diejenigen öffentlichen Tätigkeiten von der Besteuerung auszunehmen, die zwar nach den nationalen Rechtsvorschriften als gewerblich qualifiziert werden können, jedoch hoheitlichen Charakter haben,

c ) gemäß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 die öffentlichen Tätigkeiten jedenfalls dann nicht der Steuer zu unterwerfen, wenn sie zu keinen grösseren Verzerrungen des freien Wettbewerbs führen, und dabei die notwendigen quantitativen Grenzen festzulegen,

d ) gemäß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 der Sechsten Richtline eine untere Besteuerungsgrenze für die in Anhang D der Sechsten Richtlinie aufgeführten öffentlichen Tätigkeiten festzusetzen?"

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens der Ausgangsverfahren, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Alle Vorlagefragen betreffen die Auslegung des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie, der folgendermassen lautet :

"Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.

Falls sie jedoch solche Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Leistungen als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Die vorstehend genannten Einrichtungen gelten in jedem Fall als Steuerpflichtige in bezug auf die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.

Die Mitgliedstaaten können die Tätigkeiten der vorstehend genannten Einrichtungen, die nach Artikel 13 oder 28 von der Steuer befreit sind, als Tätigkeiten behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen."

8 Die Fragen der vorlegenden Gerichte sind zweckmässigerweise in vier Abschnitten zu behandeln, die jeweils die Auslegung der Unterabsätze 1, 2 und 3 des Artikels 4 Absatz 5 sowie die unmittelbare Geltung dieser Bestimmung betreffen.

Zur Auslegung des Artikels 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie

9 Mit der ersten Frage soll zum einen geklärt werden, welches die wesentlichen Merkmale der "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" ausgeuebten Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie sind, und zum anderen, welche Verpflichtungen diese Vorschrift den Mitgliedstaaten auferlegt.

10 Aus Artikel 2 der Sechsten Richtlinie, der den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer definiert, ergibt sich, daß im Inland nur die Tätigkeiten dieser Steuer unterliegen, die wirtschaftlichen Charakter haben. Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeiten ist in Artikel 4 Absatz 2 dahin gehend definiert, daß er alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden umfasst.

11 Gemäß Artikel 4 Absatz 1 gilt als Steuerpflichtiger, wer eine dieser wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig ausübt. Es stellt also eine Ausnahme von dieser Regel dar, daß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1, um dessen Auslegung es bei der vorliegenden Frage geht, Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts hinsichtlich bestimmter Tätigkeiten vom Begriff des Steuerpflichtigen ausnimmt, "auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben ".

12 Wie der Gerichtshof in den Urteilen vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 107/84 ( Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1985, 2663 ) und vom 26. März 1987 in der Rechtssache 235/85 ( Kommission/Königreich der Niederlande, Slg. 1987, 1485 ) festgestellt hat, zeigt eine Untersuchung dieser Vorschrift unter Berücksichtigung der Ziele der Richtlinie, daß für die Regel der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zwei Voraussetzungen nebeneinander erfuellt sein müssen, nämlich die Ausübung von Tätigkeiten durch eine öffentliche Einrichtung und die Vornahme von Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt.

13 Bei der Definition der letztgenannten Voraussetzung kann nicht, wie geltend gemacht wurde, auf den Gegenstand oder die Zielsetzung der Tätigkeit der öffentlichen Einrichtung abgestellt werden, da diese Faktoren in anderen Bestimmungen der Richtlinie zu anderen Zwecken berücksichtigt werden.

14 Der Gegenstand oder die Zielsetzung bestimmter wirtschaftlicher Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, ist nämlich maßgebend, um den Umfang der Behandlung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nicht-Steuerpflichtige zu beschränken ( Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 und Anhang D der Sechsten Richtlinie ) und ausserdem um die in Abschnitt X der Richtlinie behandelten Steuerbefreiungen zu bestimmen. Artikel 13 Buchstabe A Absatz 1 dieses Abschnitts der Richtlinie sieht insbesondere Steuerbefreiungen für bestimmte Tätigkeiten vor, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder von anderen Einrichtungen durchgeführt werden, die, weil sie dem Gemeinwohl dienen, von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannt worden sind.

15 Untersucht man Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 im Gesamtzusammenhang der Richtlinie, so ergibt sich, daß sich aufgrund der Ausübungsmodalitäten der Tätigkeiten bestimmen lässt, inwieweit die öffentlichen Einrichtungen als Nicht-Steuerpflichtige behandelt werden können. Soweit diese Vorschrift nämlich die Behandlung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nicht-Steuerpflichtige davon abhängig macht, daß diese "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" tätig werden, schließt sie eine solche Behandlung für die Tätigkeiten aus, die diese Einrichtungen nicht als Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts, sondern als Rechtssubjekte des Privatrechts ausüben. Das einzige Kriterium, das eine sichere Unterscheidung dieser beiden Arten von Tätigkeiten ermöglicht, ist folglich die nach dem nationalen Recht anwendbare rechtliche Regelung.

16 Daraus folgt, daß die in Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie genannten Einrichtungen des öffentlichen Rechts Tätigkeiten "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" im Sinne dieser Vorschrift ausüben, wenn sie dabei im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung tätig werden. Handeln sie dagegen unter den gleichen rechtlichen Bedingungen wie private Wirtschaftsteilnehmer, so kann man nicht davon ausgehen, daß sie die Tätigkeiten "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" ausüben. Es ist Sache des nationalen Gerichts, die fragliche Tätigkeit anhand dieses Kriteriums zu beurteilen.

17 Was die Umsetzung der Regel des Artikels 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 in das nationale Recht betrifft, so ist daran zu erinnern, daß, da es sich um eine durch eine Richtlinie auferlegte Ergebnispflicht handelt, es gemäß Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag Sache jedes Mitgliedstaats ist, die Form und die Mittel zu wählen, die zur Erreichung des Ergebnisses geeignet sind.

18 Daraus ergibt sich, daß die Mitgliedstaaten zwar dafür zu sorgen haben, daß die Tätigkeiten oder Leistungen, die die öffentlichen Einrichtungen im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausüben oder erbringen, nicht der Mehrwertsteuer unterliegen, sofern sie nicht unter die Ausnahmen der Unterabsätze 2 und 3 fallen, daß sie aber zu diesem Zweck die Rechtsetzungstechnik wählen können, die ihnen am geeignetsten erscheint. So können sie sich z. B. darauf beschränken, die in der Sechsten Richtlinie enthaltene Formulierung oder einen gleichwertigen Ausdruck in das nationale Recht zu übernehmen, oder sie können ein Verzeichnis der Tätigkeiten aufstellen, für die die Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige anzusehen sind.

19 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß es sich bei den Tätigkeiten "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" im Sinne dieser Vorschrift um solche Tätigkeiten handelt, die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung ausüben; ausgenommen sind die Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer. Es ist Sache jedes Mitgliedstaats, die geeignete Rechtsetzungstechnik zu wählen, um die in dieser Vorschrift aufgestellte Regel der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige in sein nationales Recht umzusetzen.

Zur Auslegung des Artikels 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie

20 Mit der zweiten Frage soll geklärt werden, welche Bedeutung die Formulierung "solche Tätigkeiten oder Leistungen" in Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie hat, und ausserdem, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, das in dieser Vorschrift genannte Kriterium der "grösseren Wettbewerbsverzerrungen" wörtlich in ihr Steuerrecht zu übernehmen oder quantitative Grenzen festzulegen, um dieses Kriterium in das nationale Recht umzusetzen.

21 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Kontext des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie ergibt, daß die Formulierung "solche Tätigkeiten oder Leistungen" in Unterabsatz 2 den in Unterabsatz 1 genannten Tätigkeiten entspricht, d. h. den Tätigkeiten oder Leistungen, die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausüben oder erbringen, wobei, wie oben gesagt, die Tätigkeiten ausgenommen sind, die diese Einrichtungen als Rechtssubjekte des Privatrechts ausüben.

22 Sodann ist festzustellen, daß Unterabsatz 2 dieser Bestimmung eine Ausnahme von der Regel der Behandlung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nicht-Steuerpflichtige für die Tätigkeiten oder Leistungen vorsieht, die diese im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausüben oder erbringen, sofern eine solche Behandlung zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Um die Steuerneutralität, ein wichtiges Ziel der Sechsten Richtlinie, zu gewährleisten, berücksichtigt dieser Unterabsatz also den Fall, daß die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung Tätigkeiten ausüben, die - im Wettbewerb mit ihnen - auch von Privaten nach einer privatrechtlichen Regelung oder auch aufgrund von verwaltungsrechtlichen Genehmigungen ausgeuebt werden können.

23 In diesem Fall sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag verpflichtet, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts der Steuerpflicht zu unterwerfen, wenn ihre Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann. Sie sind jedoch nicht verpflichtet, dieses Kriterium wörtlich in ihr nationales Recht zu übernehmen oder quantitative Grenzen für die Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige festzulegen.

24 Auf die zweite Frage ist somit zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts für die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegenden Tätigkeiten der Steuerpflicht zu unterwerfen, wenn diese Tätigkeiten - im Wettbewerb mit ihnen - auch von Privaten ausgeuebt werden können und ihre Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann; sie sind jedoch nicht verpflichtet, dieses Kriterium wörtlich in ihr nationales Recht zu übernehmen oder quantitative Grenzen für die Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige festzulegen.

Zur Auslegung des Artikels 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 der Sechsten Richtlinie

25 Die dritte Frage geht dahin, ob die Mitgliedstaaten nach Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 der Sechsten Richtlinie verpflichtet sind, das Kriterium des nicht unbedeutenden Umfangs der Tätigkeiten als Voraussetzung für die Behandlung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Steuerpflichtige in bezug auf die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten in ihr Steuerrecht zu übernehmen, und ob sie zu diesem Zweck eine untere Besteuerungsgrenze festsetzen müssen.

26 Dazu ist festzustellen, daß die genannte Bestimmung, indem sie vorsieht, daß die Einrichtungen des öffentlichen Rechts in bezug auf die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige anzusehen sind, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist, die Regel der Behandlung dieser Einrichtungen als Nicht-Steuerpflichtige mit einer Einschränkung versieht, die zu den Einschränkungen hinzukommt, die sich aus der Voraussetzung des Unterabsatzes 1, daß es sich um im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeuebte Tätigkeiten handeln muß, und aus der Ausnahme des Unterabsatzes 2 für den Fall, daß die Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen würde, ergeben. Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 soll damit sicherstellen, daß bestimmte Arten von wirtschaftlichen Tätigkeiten, deren Bedeutung sich aus ihrem Gegenstand ergibt, nicht deshalb von der Mehrwertsteuer befreit werden, weil sie von Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeuebt werden.

27 Die Verpflichtung, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts in bezug auf die in Anhang D der Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten als Steuerpflichtige zu behandeln, gilt für die Mitgliedstaaten jedoch nur insoweit, als der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist. Die fragliche Vorschrift ist nach ihrem Kontext dahin auszulegen, daß den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt wird, die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten von der Steuerpflicht zu befreien, sofern ihr Umfang unbedeutend ist, daß sie jedoch nicht verpflichtet sind, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen. Sie sind folglich auch nicht verpflichtet, für die betreffenden Tätigkeiten eine untere Besteuerungsgrenze festzusetzen.

28 Auf die Frage ist demgemäß zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, das Kriterium des nicht unbedeutenden Umfangs als Voraussetzung für die Besteuerung der in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten in ihr Steuerrecht zu übernehmen.

Zur unmittelbaren Geltung des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie

29 Die vierte Frage geht dahin, ob sich eine Einrichtung des öffentlichen Rechts auf Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie berufen kann, um sich der Anwendung einer nationalen Vorschrift zu widersetzen, nach der sie für eine ihr im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegende Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, die nicht in Anhang D der Sechsten Richtlinie aufgeführt ist und deren Nichtbesteuerung nicht zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann.

30 Nach ständiger Rechtsprechung ( siehe insbesondere das Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53 ) können sich die einzelnen in Ermangelung von fristgemäß erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen; sie können sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit diese Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können.

31 Es ist festzustellen, daß Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie diesen Kriterien entspricht, da die Einrichtungen und Tätigkeiten, für die die Regel der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige gilt, darin klar bezeichnet sind. Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die in diesem Zusammenhang den einzelnen gleichzustellen sind, können sich daher in bezug auf die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegenden Tätigkeiten, die nicht in Anhang D der Richtlinie aufgeführt sind, auf die Regel der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige berufen.

32 Diese Schlußfolgerung wird nicht dadurch widerlegt, daß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie die Steuerpflicht für die Tätigkeiten vorsieht, deren Nichtbesteuerung zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Diese Einschränkung der Regel der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige hat nur Eventualcharakter, und auch wenn ihre Anwendung eine Beurteilung wirtschaftlicher Faktoren verlangt, so ist diese Beurteilung doch nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen.

33 Die vierte Frage ist demnach dahin zu beantworten, daß sich eine Einrichtung des öffentlichen Rechts auf Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie berufen kann, um sich der Anwendung einer nationalen Vorschrift zu widersetzen, nach der sie für eine ihr im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegende Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, die nicht in Anhang D der Sechsten Richtlinie aufgeführt ist und deren Nichtbesteuerung nicht zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

34 Die Auslagen der Regierung der Italienischen Republik, der Regierung der Niederlande und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den nationalen Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Commissione tributaria di secondo grado und der Commissione tributaria di primo grado Piacenza durch Beschlüsse vom 8. Mai 1987 und 28. April 1988 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1 ) Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie ist dahin auszulegen, daß es sich bei den Tätigkeiten "im Rahmen der öffentlichen Gewalt" im Sinne dieser Vorschrift um solche Tätigkeiten handelt, die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung ausüben; ausgenommen sind die Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer. Es ist Sache jedes Mitgliedstaats, die geeignete Rechtsetzungstechnik zu wählen, um die in dieser Vorschrift aufgestellte Regel der Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige in sein nationales Recht umzusetzen.

2 ) Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie ist dahin auszulegen, daß die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts für die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegenden Tätigkeiten der Steuerpflicht zu unterwerfen, wenn diese Tätigkeiten - im Wettbewerb mit ihnen - auch von Privaten ausgeuebt werden können und ihre Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann; sie sind jedoch nicht verpflichtet, dieses Kriterium wörtlich in ihr nationales Recht zu übernehmen oder quantitative Grenzen für die Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige festzulegen.

3 ) Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 der Sechsten Richtlinie ist dahin auszulegen, daß die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, das Kriterium des nicht unbedeutenden Umfangs als Voraussetzung für die Besteuerung der in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten in ihr Steuerrecht zu übernehmen.

4 ) Eine Einrichtung des öffentlichen Rechts kann sich auf Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie berufen, um sich der Anwendung einer nationalen Vorschrift zu widersetzen, nach der sie für eine ihr im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegende Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, die nicht in Anhang D der Sechsten Richtlinie aufgeführt ist und deren Nichtbesteuerung nicht zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen kann.

Ende der Entscheidung

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