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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.10.1994
Aktenzeichen: C-165/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 79/7/EWG


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 48
EWG-Vertrag Art. 51
Richtlinie 79/7/EWG Art. 4 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Weder die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, insbesondere die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag, noch Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit stehen nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit angewendet werden und dem Arbeitnehmer, dessen Ehegatte nicht mehr erwerbstätig ist und keine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält, eine Familienrente zuerkennen, ihm aber eine ungünstigere Alleinstehendenrente zuerkennen, wenn sein Ehegatte eine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält.

2. Das nationale Gericht, das als nationale Behörde gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen hat, um den Zweck des Artikels 48 EWG-Vertrag zu erreichen, hat, wenn es im Hinblick auf die Anwendung einer Vorschrift seines nationalen Rechts eine Leistung der sozialen Sicherheit qualifiziert, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wird, seine eigenen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der Ziele der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag auszulegen und soweit wie möglich zu verhindern, daß seine Auslegung geeignet ist, den Wanderarbeitnehmer davon abzuhalten, von seinem Recht auf Freizuegigkeit tatsächlich Gebrauch zu machen.

Diese Verpflichtung besteht in einer Situation, in der ein Wanderarbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren könnte, weil er aufgrund seines Arbeitslebens in einem Mitgliedstaat einem Versorgungssystem unterliegt, in dem er nur dann Anspruch auf eine erhöhte Rente hat, wenn sein Ehegatte selbst keine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält, und in einem anderen Mitgliedstaat einem Versorgungssystem unterliegt, das dem Arbeitnehmer für seinen nicht erwerbstätigen Ehegatten Anspruch auf einen Zuschlag zur Rente gewährt, solange dieser das Rentenalter nicht erreicht hat, aber dem Ehegatten mit Erreichen des Rentenalters einen eigenen Rentenanspruch, auf den nicht verzichtet werden kann, zuerkennt, ohne daß damit eine Erhöhung der Gesamteinkünfte des Ehepaares verbunden ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 5. OKTOBER 1994. - SIMON J. M. VAN MUNSTER GEGEN RIJKSDIENST VOOR PENSIOENEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEIDSHOF ANTWERPEN - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT - FREIZUEGIGKEIT DER ARBEITNEHMER - GLEICHHEIT ZWISCHEN MAENNERN UND FRAUEN - ALTERSRENTE - ZUSCHLAG FUER DEN UNTERHALTSBERECHTIGTEN EHEGATTEN. - RECHTSSACHE C-165/91.

Entscheidungsgründe:

1 Der Arbeidshof Antwerpen hat mit Urteil vom 19. Juni 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 3 Buchstabe c, 48 und 51 EWG-Vertrag, des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. L 6, S. 24) sowie aller anderen Bestimmungen, die nach Ansicht des Gerichtshofes im vorliegenden Fall anwendbar sind, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn van Munster und dem Rijksdienst voor pensiönen, einem belgischen Träger der sozialen Sicherheit, über die Festsetzung seiner Altersrente.

3 Herr van Munster, der die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, war während 37 Jahren in den Niederlanden und während acht Jahren in Belgien im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt und erhielt in diesen beiden Mitgliedstaaten eine Altersrente, die allein nach der Regelung des betreffenden Staates festgestellt wurde. Die Ehefrau des Betroffenen war während dieser beiden Zeiträume niemals im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt.

4 In den Niederlanden bewilligte die Sociale Verzekeringsbank Herrn van Munster mit Wirkung vom 1. Oktober 1985 eine Altersrente nach den Bestimmungen der Algemene Ouderdomswet (Gesetz über die allgemeine Altersversorgung; nachstehend: AOW).

5 Nach der AOW in ihrer am 1. April 1985 in Kraft getretenen Fassung erwirbt eine verheiratete Person, wenn sie das 65. Lebensjahr erreicht, einen Anspruch auf eine persönliche Rente, die 50 % des Nettomindestlohns entspricht. Ist ihr Ehegatte nicht erwerbstätig und noch nicht 65 Jahre alt, so wird diese Rente um einen Zuschlag erhöht, der ebenfalls 50 % des Nettomindestlohns erreichen kann. Hat der Rentenempfänger keinen Ehegatten, so beträgt seine Rente 70 % des Nettomindestlohns. Der Berechtigte kann auf diese Leistungen nicht verzichten.

6 Die niederländische Sociale Verzekeringsbank gewährte somit Herrn van Munster eine Altersrente auf der Grundlage von 100 % des Nettomindestlohns, und zwar 50 % als Verheiratetem und 50 %, weil seine Ehefrau zum Zeitpunkt des Bescheids noch nicht 65 Jahre alt war.

7 In Belgien bewilligte der belgische Rijksdienst voor pensiönen Herrn van Munster mit Wirkung vom 1. November 1985 ebenfalls eine Altersrente.

8 Gemäß Artikel 10 Absatz 1 der belgischen Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 in ihrer geänderten Fassung wird der Anspruch auf eine Rente pro Kalenderjahr in Höhe eines Bruchteils der tatsächlichen, fiktiven und pauschalen Bruttolöhne erworben, und zwar in Höhe von 75 %, wenn der Ehegatte des Arbeitnehmers nicht mehr erwerbstätig ist und keine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält ("Familienrente"), und in Höhe von 60 % in den anderen Fällen ("Alleinstehendenrente"). Nach dieser Regelung kann der nicht erwerbstätige Ehegatte auf jede "Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung" verzichten, so daß der im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer für die "Familienrente" in Betracht kommt.

9 Da Frau van Munster keine eigene Leistung erhielt, wurde der Betrag der belgischen Rente des Herrn van Munster ° unter Berücksichtigung seiner acht Jahre Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in Belgien ° nach den Bestimmungen für die "Familienrente" berechnet.

10 Als Frau van Munster am 10. Oktober 1987 das 65. Lebensjahr erreichte, gewährte ihr die niederländische Sociale Verzekeringsbank gemäß der AOW eine eigene Altersrente, die auf der Grundlage von 50 % des Nettomindestlohns berechnet worden war. Dementsprechend entzog der niederländische Versicherungsträger Herrn van Munster den Rentenzuschlag, den er ihm bis dahin gewährt hatte. Die Gesamteinkünfte der Familie erhöhten sich durch die Frau van Munster bewilligte Rente also nicht.

11 Als der belgische Rijksdienst voor pensiönen jedoch erfuhr, daß Frau van Munster von der niederländischen Sociale Verzekeringsbank eine persönliche Altersrente gewährt wurde, setzte er mit Bescheid vom 2. Februar 1988 die Altersrente ihres Mannes, die also von einer "Familienrente" in eine "Alleinstehendenrente" umgewandelt wurde, mit Wirkung vom 1. Oktober 1987 herab, und zwar weil Frau van Munster im Sinne der belgischen Rechtsvorschriften eine "Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung" erhalte.

12 Nachdem Herr van Munster gegen den Bescheid des Rijksdienst voor pensiönen über die Herabsetzung seiner Altersrente Klage erhoben hatte, hat der mit der Sache befasste Arbeidshof Antwerpen das Verfahren ausgesetzt, bis der Gerichtshof über folgende Vorabentscheidungsfragen befunden hat:

1) Ist eine nationale Vorschrift (wie Artikel 10 Absatz 1 der Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 betreffend Alters- und Hinterbliebenenrenten für Arbeitnehmer), die an eine Rentenleistung im Zusammenhang mit der Situation des nichtarbeitenden Ehegatten unterschiedliche Folgen knüpft, je nachdem, ob diese Leistung in Form einer Erhöhung der Rente des erwerbstätigen Ehegatten oder in Form einer eigenen, dem nicht erwerbstätigen Ehegatten bewilligten Rente (wie sie nach der niederländischen Algemene Ouderdomswet seit 1. April 1985 einer verheirateten Frau zuerkannt wird) gewährt wird, mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957, dem Grundsatz der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, insbesondere Artikel 3 Buchstabe c, Artikel 48 Absatz 1 ff. und Artikel 51 EWG-Vertrag, dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, im einzelnen der Richtlinie 79/7 des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, insbesondere Artikel 4 Absatz 1, vereinbar?

2) Weist eine Rente, die dem nicht erwerbstätigen Ehegatten gewährt wird (wie dies nach der niederländischen Algemene Ouderdomswet, und zwar seit 1. April 1985, der Fall ist) derartige besondere Merkmale auf, daß es im Lichte des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der in Frage 1 aufgeführten Vorschriften, gerechtfertigt ist, sie anders zu behandeln als die in Form einer Erhöhung der Rente wegen eines unterhaltsberechtigten Ehegatten (Familienrente, wie sie die belgischen Rentenvorschriften für Arbeitnehmer vorsehen) gewährte Leistung?

13 Mit diesen beiden Fragen möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof erfahren, ob eine nationale Rechtsvorschrift wie Artikel 10 Absatz 1 der belgischen Königlichen Verordnung Nr. 50 und ihre konkrete Anwendung auf einen Fall wie den der Eheleute van Munster mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind.

Zur ersten Frage

14 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag sowie Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die den Anspruch auf eine "Familienrente" zuerkennen, wenn der Ehegatte des Arbeitnehmers nicht mehr erwerbstätig ist und keine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält, aber nur eine ungünstigere "Alleinstehendenrente" zuerkennen, wenn der Ehegatte des Arbeitnehmers eine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält.

15 Zunächst ist festzustellen, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 den Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen auf dem Gebiet der Berechnung der Leistungen der sozialen Sicherheit, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten, einführt. Um mit dieser Bestimmung im Einklang zu sein und dem Grundsatz der Gleichbehandlung eine möglichst weitgehende Anwendung zu geben, ist die AOW geändert worden. An den belgischen Rechtsvorschriften ist dagegen keine solche Änderung vorgenommen worden.

16 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die Anpassung der AOW nicht durch die Richtlinie 79/7 vorgeschrieben war. Aus dem Wortlaut des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe c ergibt sich nämlich, daß die Mitgliedstaaten die Gewährung von Ansprüchen auf Leistungen wegen Alters aufgrund abgeleiteter Ansprüche der Ehefrau vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen dürfen.

17 Folglich verwehrt der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, wie er in der Richtlinie 79/7 enthalten ist, es einem Mitgliedstaat nicht, die in seinen Rechtsvorschriften für Personen mit einem unterhaltsberechtigten Ehegatten vorgesehene "Familienrente" nicht zu gewähren, wenn der Ehegatte des Betroffenen eine eigene Altersrente bezieht.

18 In bezug auf die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer ist daran zu erinnern, daß Artikel 51 EWG-Vertrag Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der verschiedenen Mitgliedstaaten und folglich auch zwischen den Ansprüchen der dort Beschäftigten bestehen lässt. Die materiellen und formellen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten werden somit durch Artikel 51 EWG-Vertrag nicht berührt (vgl. Urteil vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-227/89, Rönfeldt, Slg. 1991, I-323, Randnr. 12).

19 Im vorliegenden Fall gilt die streitige Bestimmung der belgischen Rechtsvorschriften unterschiedslos für Inländer und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten. Sie kann daher nicht für sich allein als Beschränkung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer angesehen werden.

20 Daraus folgt, daß weder die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, insbesondere die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag, noch Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die dem Arbeitnehmer, dessen Ehegatte nicht mehr erwerbstätig ist und keine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält, eine "Familienrente" zuerkennen, ihm aber eine ungünstigere "Alleinstehendenrente" zuerkennen, wenn sein Ehegatte eine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält.

Zur zweiten Frage

21 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob und wie das nationale Gericht, das im Hinblick auf die Anwendung einer Vorschrift seines nationalen Rechts, wie Artikel 10 Absatz 1 der Königlichen Verordnung Nr. 50, eine Leistung der sozialen Sicherheit qualifiziert, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wird, wie die Frau van Munster gewährte Leistung, seine eigenen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der von ihm genannten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen hat.

22 Um die Art des mit dieser zweiten Frage aufgeworfenen Problems besser beurteilen zu können, ist auf verschiedene spezifische Aspekte des fraglichen Sachverhalts hinzuweisen.

23 Erstens hat der betroffene Gemeinschaftsangehörige in zwei Mitgliedstaaten Anspruch auf eine Altersrente erworben, nachdem er sein Arbeitsleben zum grösseren Teil (etwa 37/45) in einem dieser beiden Staaten verbracht hat. Dagegen war der Ehegatte dieses Arbeitnehmers niemals erwerbstätig und hat somit nicht als Arbeitnehmer einen Rentenanspruch erworben.

24 Zweitens wird die Rente des Arbeitnehmers in einem der beiden betreffenden Mitgliedstaaten unter Zugrundelegung eines höheren Prozentsatzes der tatsächlichen, fiktiven oder pauschalen Löhne berechnet, wenn sein Ehegatte nicht erwerbstätig ist und keinen Anspruch auf eine eigene "Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung" hat.

25 Drittens hat der andere betreffende Mitgliedstaat, wie sich bereits aus Randnummer 15 des vorliegenden Urteils ergibt, getreu dem Geist der Richtlinie 79/7, die Zahlungsweise seiner Renten in der Weise geändert, daß jedem Ehegatten bei Erreichen des Rentenalters eine Rente in gleicher Höhe gewährt wird. Voraussetzung für diese Rente ist, daß der Betroffene in diesem Staat gewohnt hat, nicht aber, daß er dort erwerbstätig gewesen ist. Der Betroffene kann auf diese Rente nicht verzichten.

26 Viertens führt die Gewährung einer eigenen Rente in diesem anderen Mitgliedstaat an jeden der beiden Ehegatten, die das 65. Lebensjahr erreicht haben, nicht zu einer Änderung der Gesamteinkünfte des Ehepaares gegenüber den Einkünften, die zwei über 65 Jahre alte Ehegatten vor der Reform des AOW-Systems vom 1. April 1985 bezogen.

27 Zwar lässt Artikel 51 EWG-Vertrag, wie bereits in Randnummer 18 ausgeführt, Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der verschiedenen Mitgliedstaaten und folglich auch zwischen den Ansprüchen der dort Beschäftigten bestehen; es steht jedoch auch fest, daß der Zweck der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag nicht erreicht würde, wenn Wanderarbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern. Eine solche Folge könnte nämlich den Arbeitnehmer der Gemeinschaft davon abhalten, von seinem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen, und würde somit diese Freizuegigkeit beeinträchtigen (vgl. Urteil vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-349/87, Paraschi, Slg. 1991, I-4501, Randnr. 22).

28 In bezug auf Altersrenten, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, ist festzustellen, daß sowohl der Wanderarbeitnehmer als auch der Arbeitnehmer, der sein ganzes Arbeitsleben in ein und demselben Mitgliedstaat verbracht hat (nachstehend: seßhafter Arbeitnehmer), ihre Rentenansprüche nach und nach im Laufe ihres Arbeitslebens erwerben.

29 Der einzige Unterschied zwischen den beiden Arbeitnehmern liegt darin, daß der seßhafte Arbeitnehmer seine sämtlichen Rentenansprüche nur nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erwirbt, während der Wanderarbeitnehmer sie in Abschnitten erwirbt, die den aufeinanderfolgenden Beschäftigungszeiten entsprechen, die er in verschiedenen Mitgliedstaaten nach verschiedenen Rechtsvorschriften zurückgelegt hat. Artikel 51 EWG-Vertrag zielt in solchen Fällen darauf ab, auf dem Wege der Koordinierung und nicht der Harmonisierung die Einheit der Sozialversicherungslaufbahn des Wanderarbeitnehmers zu verwirklichen.

30 Im vorliegenden Fall zeigt sich, daß, wenn nationale Rechtsvorschriften in gleicher Weise auf einen Wanderarbeitnehmer und einen seßhaften Arbeitnehmer angewandt werden, dies unvorhergesehene Auswirkungen hat, die mit dem Zweck der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag kaum vereinbar sind und gerade damit zusammenhängen, daß für die Rentenansprüche des Wanderarbeitnehmers die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten gelten.

31 Diese Unterschiede beruhen darauf, daß das eine der beiden Altersrentensysteme dem Arbeitnehmer, dessen Ehegatte keine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält, eine höhere Altersrente zuerkennt, wobei davon auszugehen ist, daß eine solche Rente oder Vergünstigung die Gesamteinkünfte des Ehepaares erhöht und daß jedenfalls auf sie verzichtet werden kann, während das andere System in der gleichen Situation jedem Ehegatten bei Erreichen des Rentenalters eine gleich hohe Rente, auf die nicht verzichtet werden kann, zuerkennt, ohne daß damit eine Erhöhung der Gesamteinkünfte des Ehepaares verbunden ist.

32 Angesichts eines derartigen Unterschieds zwischen den Rechtsvorschriften verlangt der in Artikel 5 EWG-Vertrag niedergelegte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, daß sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um den Zweck des Artikels 48 EWG-Vertrag zu erreichen.

33 Diese Verpflichtung impliziert, daß die Behörden prüfen, ob ihre Rechtsvorschriften auf den Wanderarbeitnehmer wörtlich und in gleicher Weise wie auf einen seßhaften Arbeitnehmer angewandt werden können, ohne daß diese Anwendung den Verlust einer Vergünstigung der sozialen Sicherheit für den Wanderarbeitnehmer mit sich bringt und daher geeignet ist, ihn davon abzuhalten, von seinem Recht auf Freizuegigkeit tatsächlich Gebrauch zu machen.

34 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß das nationale Gericht das nationale Recht, das es anzuwenden hat, soweit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen hat (vgl. Urteil vom 4. Februar 1988 in der Rechtssache 157/86, Murphy u. a., Slg. 1988, 673, Randnr. 11; in diesem Sinne auch Urteile vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8, und vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-91/92, Faccini Dori, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 26).

35 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß das nationale Gericht, das im Hinblick auf die Anwendung einer Vorschrift seines nationalen Rechts eine Leistung der sozialen Sicherheit qualifiziert, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wird, seine eigenen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der Ziele der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag auszulegen und soweit wie möglich zu verhindern hat, daß seine Auslegung geeignet ist, den Wanderarbeitnehmer davon abzuhalten, von seinem Recht auf Freizuegigkeit tatsächlich Gebrauch zu machen.

Kostenentscheidung:

Kosten

36 Die Auslagen der belgischen, der deutschen, der niederländischen und der britischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Arbeidshof Antwerpen mit Urteil vom 19. Juni 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Das Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag und Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, steht nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die dem Arbeitnehmer, dessen Ehegatte nicht mehr erwerbstätig ist und keine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält, eine "Familienrente" zuerkennen, ihm aber eine ungünstigere "Alleinstehendenrente" zuerkennen, wenn sein Ehegatte eine Altersrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung, wie die Frau van Munster nach der Algemene Ouderdomswet gewährte Rente, erhält.

2) Das nationale Gericht, das im Hinblick auf die Anwendung einer Vorschrift seines nationalen Rechts eine Leistung der sozialen Sicherheit qualifiziert, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wird, hat seine eigenen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der Ziele der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag auszulegen und soweit wie möglich zu verhindern, daß seine Auslegung geeignet ist, den Wanderarbeitnehmer davon abzuhalten, von seinem Recht auf Freizuegigkeit tatsächlich Gebrauch zu machen.

Ende der Entscheidung

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