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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.03.2001
Aktenzeichen: C-165/98
Rechtsgebiete: Richtlinie 96/71/EWG, EGV


Vorschriften:

Richtlinie 96/71/EWG
EGV Art. 59 a.F.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) verwehren es einem Mitgliedstaat nicht, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats erbringt, die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die in den nationalen Vorschriften dieses Staates festgelegten Mindestlöhne zu zahlen. Die Anwendung solcher Vorschriften kann sich jedoch als unverhältnismäßig erweisen, wenn es sich um Beschäftigte eines Unternehmens mit Sitz in einer grenznahen Region handelt, die einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats müssen daher feststellen, ob und, wenn ja, inwieweit, die Anwendung einer nationalen Regelung, die einen Mindestlohn vorschreibt, auf ein solches Unternehmen erforderlich und verhältnismäßig ist, um den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer sicherzustellen.

( vgl. Randnr. 41 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 15. März 2001. - Strafverfahren gegen André Mazzoleni und Inter Surveillance Assistance SARL, zivilrechtlich Haftende, Beteiligte: Eric Guillaume u. a.. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal correctionnel d'Arlon - Belgien. - Freier Dienstleistungsverkehr - Vorübergehende Umsetzung von Arbeitnehmern für die Durchführung eines Vertrages - Richtlinie 96/71/EG - Garantierter Mindestlohn. - Rechtssache C-165/98.

Parteien:

In der Rechtssache C-165/98

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom Tribunal correctionnel Arlon (Belgien) in dem bei diesem anhängigen Strafverfahren gegen

André Mazzoleni

und

Inter Surveillance Assistance SARL, zivilrechtlich Haftende,

Beteiligte:

Éric Guillaume u. a.,

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) und der Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung von D. A. O. Edward (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter J.-P. Puissochet und L. Sevón,

Generalanwalt: S. Alber

Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- der Staatsanwaltschaft (auditorat du travail), vertreten durch P. Nazé, substitut,

- der belgischen Regierung, vertreten durch J. Devadder als Bevollmächtigten im Beistand von B. van de Walle de Ghelcke, avocat,

- der deutschen Regierung, verteten durch E. Röder als Bevollmächtigten,

- der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger et C. Chavance als Bevollmächtigte,

- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. A. Fierstra als Bevollmächtigten,

- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Gouloussis als Bevollmächtigten,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von André Mazzoleni und der Inter Surveillance Assistance SARL, beide vertreten durch M. Gamelon, avocat, der belgischen Regierung, vertreten durch B. van de Walle de Ghelcke, der französischen Regierung, vertreten durch C. Bergeot als Bevollmächtigte, und der Kommission, vertreten durch D. Gouloussis, in der Sitzung vom 3. Juni 1999,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. September 1999,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal correctionnel Arlon hat mit Urteil vom 2. April 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 29. April 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1, im Folgenden: Richtlinie) sowie der Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren gegen André Mazzoleni in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Gesellschaft französischen Rechts Inter Surveillance Assistance SARL (im Folgenden: ISA) und gegen die ISA selbst als zivilrechtlich Haftende wegen Nichtbeachtung der belgischen Vorschriften über Mindestlöhne.

Die nationale Regelung

3 Der im paritätischen Ausschuss für Wachdienste geschlossene Tarifvertrag vom 14. Juni 1993 über die Förderung der Beschäftigung und die Festlegung einiger Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, die im privaten Sektor Wachdienste erbringen (im Folgenden: Tarifvertrag), wurde durch Königliche Verordnung vom 1. März 1995 (Moniteur belge vom 4. Mai 1995, S. 11923) für verbindlich erklärt.

4 Gemäß seinem Artikel 1 Absatz 2 gilt der Tarifvertrag für alle Wachdienstunternehmen, die in Belgien eine Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie ihren Sitz in Belgien oder im Ausland haben.

5 Nach Artikel 2 des Tarifvertrags werden die bei den Wachdienstunternehmen für Rechnung Dritter beschäftigten Arbeitnehmer in neun Kategorien eingeteilt; dabei wird die Art der durchgeführten Arbeiten, die berufliche Befähigung und das Maß an Selbständigkeit und Verantwortung bei der Durchführung der ihnen übertragenen Aufgaben berücksichtigt.

6 In Artikel 3 des Tarifvertrags sind für jede Kategorie von Arbeitnehmern der Mindeststundenlohn und die Höhe verschiedener Zulagen und Zuschläge festgelegt.

7 Artikel 56 des Gesetzes vom 5. Dezember 1968 über die Tarifverträge und die paritätischen Ausschüsse (Moniteur belge vom 15. Januar 1969) sieht u. a. vor, dass der Verstoß gegen einen für verbindlich erklärten Tarifvertrag strafbar ist. Dieses Gesetz gehört zu den Polizei- und Sicherheitsgesetzen im Sinne des Artikels 3 des belgischen Code civil und ist als solches für alle, die in Belgien tätig sind, verbindlich.

Das Ausgangsverfahren

8 Die ISA, die ihren Sitz in Mont-Saint-Martin (Frankreich) hat, beschäftigte zwischen dem 1. Januar 1996 und 14. Juli 1997 dreizehn Arbeitnehmer mit der Bewachung einer Verkaufsgalerie in Messancy (Belgien).

9 Einige dieser Arbeitnehmer waren in Belgien vollzeitbeschäftigt, während andere dort nur einen Teil der Zeit beschäftigt waren und im Übrigen auch in Frankreich Arbeitsleistungen erbrachten.

10 Bei einer Kontrolle am 21. März 1997 forderten die belgischen Dienststellen, die für die Überwachung der sozialrechtlichen Vorschriften zuständig sind, André Mazzoleni auf, verschiedene nach belgischem Recht vorgeschriebene Unterlagen vorzulegen, u. a. Lohnkarten. Ihre Überprüfung ergab, dass die monatliche Grundvergütung eines in Belgien beschäftigten Arbeitnehmers der ISA für 169 Arbeiststunden 6 692 FRF betrug, also ca. 40 152 BEF, was einem Stundenlohn von ungefähr 237,59 BEF entspricht, obwohl der im Tarifvertrag vorgesehene Mindeststundenlohn 356,68 BEF betrug.

11 Wegen Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Zahlung von Lohn, der nicht unter dem im Tarifvertrag festgelegten Mindeststundenlohn liegt, wurden André Mazzoleni und die ISA vor dem Tribunal correctionnel Arlon angeklagt. Éric Guillaume und vier weitere der dreizehn betroffenen Arbeitnehmer traten dem Strafverfahren als Nebenkläger bei.

12 Vor dem Tribunal correctionnel Arlon trug die ISA vor, sie habe hinsichtlich des Mindestlohns lediglich das französische Recht zu beachten.

13 Sie machte zum einen geltend, dass die Eigenart der Überwachungstätigkeit einen Wechsel des Personals bedinge, damit es von den Kunden nicht zu leicht erkannt werde, und dass ihre Beschäftigten daher in dem Sinne Teilzeit" in Belgien arbeiteten, dass ein Beschäftigter möglicherweise täglich, wöchentlich oder monatlich einen Teil seiner Arbeitsleistung in einem angrenzenden Gebiet erbringen müsse. Die Richtlinie sei auf solche Teilzeit"-Arbeitssituationen nicht anwendbar.

14 Zum anderen vertrat die ISA die Ansicht, die betroffenen dreizehn Arbeitnehmer genössen nach der französischen Regelung den gleichen oder einen dem in der belgischen Regelung vorgesehenen im Wesentlichen vergleichbaren Schutz. Die französischen Mindestlöhne seien zwar niedriger, für Zwecke des Vergleichs sei aber die Gesamtsituation der Arbeitnehmer zu berücksichtigen, einschließlich der steuerlichen Belastung, die in Frankreich geringer sei, und des sozialen Schutzes.

15 Da das Tribunal Correctionnel Arlon für seine Entscheidung die Auslegung von Gemeinschaftsrecht für erforderlich hält, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen:

1. Umfasst der Begriff Dauer der Entsendung" in der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen auch die zufallsbedingte oder nicht zufallsbedingte Teilzeitentsendung eines Grenzgängers aus einem Unternehmen eines Mitgliedstaats, der im Lauf der Tage, der Wochen oder des Monats einen Teil seiner Arbeitsleistungen in dem oder den angrenzenden Gebieten eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten erbringt?

2. Sind die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen sie vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses die Beachtung seiner Rechtsvorschriften oder nationalen Tarifverträge über Mindestlöhne jedem Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats vorschreibt, das - auch nur vorübergehend - Personen im Gebiet des ersten Staates beschäftigt, diesem Interesse aber bereits durch die Vorschriften des Staates Rechnung getragen ist, in dem der Leistungserbringer ansässig ist, und die Arbeitnehmer sich dort nicht allein aufgrund der Mindestlohnregelung, sondern aufgrund der Gesamtsituation (steuerliche Belastung, sozialer Schutz bei Krankheit - auch durch die in Frankreich obligatorische Zusatzversicherung -, Arbeitsunfall, Tod des Ehegatten, Arbeitslosigkeit, Alter und Tod) in einer vergleichbaren oder ähnlichen Lage befinden?

Ist mit anderen Worten die Frage der vorübergehenden Anwendung des nationalen Rechts auf einen Arbeitnehmer nur unter Berücksichtigung der Höhe des Mindeststundenlohns ohne Würdigung des Sozialschutzes zu sehen, den der Arbeitnehmer, der teils in dem einen, teils in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten muss, insgesamt genießt?

Zur ersten Vorlagefrage

16 Die deutsche, die französische und die niederländische Regierung äußern Zweifel an der Zulässigkeit dieser Frage. Sie weisen darauf hin, dass die Frist für die Umsetzung der Richtlinie erst am 16. Dezember 1999 abgelaufen sei und der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in die Zeit davor falle. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist könne ein Einzelner kein aus der Richtlinie hergeleitetes Recht geltend machen. Da der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nur befugt sei, Fragen zu beantworten, die für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens von Bedeutung seien, sei die erste Frage unzulässig.

17 Da zu der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit die Frist für die Umsetzung der Richtlinie tatsächlich nicht abgelaufen und die Richtlinie nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt worden war, bedarf es für Zwecke des Ausgangsverfahrens keiner Auslegung ihrer Vorschriften.

18 Die in der ersten Vorlagefrage enthaltenen tatsächlichen Annahmen sind jedoch bei der Prüfung der zweiten Vorlagefrage zu berücksichtigen.

Zur zweiten Vorlagefrage

19 Mit der zweiten Vorlagefrage - gelesen im Licht der ersten Vorlagefrage - wird im Wesentlichen danach gefragt, ob ein Unternehmen mit Sitz in einer grenznahen Region, von dem einige Beschäftigte möglicherweise einen Teil ihrer Arbeitsleistungen in Teilzeit und für kurze Zeiträume in dem angrenzenden Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat, erbringen müssen, die nationalen Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über Mindestlöhne zu beachten hat, wenn diese Arbeitnehmer im Niederlassungsmitgliedstaat einen vergleichbaren umfassenden Schutz genießen, auch wenn der Mindestlohn dort niedriger ist.

20 Da die ISA ihren Sitz in Frankreich hat und zeitweise Tätigkeiten in einem anderem Mitgliedstaat als dem ihres Sitzes ausübt, im vorliegenden Fall in Belgien, handelt es sich um eine Gesellschaft, die Dienstleistungen im Sinne der Artikel 59 und 60 EG-Vertrag erbringt.

21 Diese Vorschriften des EG-Vertrags sind für die in einem Grenzgebiet ansässigen Dienstleistenden, die ihre Tätigkeiten regelmäßig in mehreren Mitgliedstaaten ausüben, von besonderer Bedeutung.

22 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt Artikel 59 EG-Vertrag nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen - selbst wenn sie unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten -, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. Urteile vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-76/90, Säger, Slg. 1991, I-4221, Randnr. 12, vom 9. August 1994 in der Rechtssache C-43/93, Vander Elst, Slg. 1994, I-3803, Randnr. 14, vom 28. März 1996 in der Rechtssache C-272/94, Guiot, Slg. 1996, I-1905, Randnr. 10, vom 23. November 1999 in den Rechtssachen C-369/96 und C-376/96, Arblade u. a., Slg. 1999, I-8453, Randnr. 33).

23 Ein Mitgliedstaat darf insbesondere die Erbringung von Dienstleistungen in seinem Hoheitsgebiet nicht von der Einhaltung all derjenigen Voraussetzungen abhängig machen, die für eine Niederlassung gelten, und damit den Bestimmungen des EG-Vertrags, deren Ziel es gerade ist, die Dienstleistungsfreiheit zu gewährleisten, jede praktische Wirksamkeit nehmen (Urteil Säger, Randnr. 13).

24 In dieser Hinsicht ist die Anwendung der nationalen Regelungen des Aufnahmemitgliedstaats auf Dienstleistende geeignet, Dienstleistungen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, soweit daraus zusätzliche administrative und wirtschaftliche Kosten und Belastungen folgen.

25 Der freie Dienstleistungsverkehr darf als fundamentaler Grundsatz des Vertrages nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist (vgl. u. a. Urteile vom 17. Dezember 1981 in der Rechtssache 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Randnr. 17; Säger, Randnr. 15; Vander Elst, Randnr. 16; Guiot, Randnr. 11, und Arblade u. a., Randnr. 34).

26 Die Anwendung der nationalen Regelungen eines Mitgliedstaats auf in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Dienstleistende muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. u. a. Urteile Guiot, Randnrn. 11 und 13, und Arblade u. a., Randnr. 35).

27 Zu den bereits vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört der Schutz der Arbeitnehmer (vgl. u. a. Urteile Webb, Randnr. 19, und Arblade u. a., Randnr. 36).

28 Was konkret die nationalen Vorschriften über Mindestlöhne wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden betrifft, folgt aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass das Gemeinschaftsrecht es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, ihre Rechtsvorschriften oder die von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträge über Mindestlöhne unabhängig davon, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist, auf alle Personen zu erstrecken, die in ihrem Hoheitsgebiet, und sei es auch nur vorübergehend, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben (Urteile vom 3. Februar 1982 in den Rechtssachen 62/81 und 63/81, Seco und Desquenne & Giral, Slg. 1982, 223, Randnr. 14; Guiot, Randnr. 12, und Arblade u. a., Randnr. 41). Folglich können die Rechtsvorschriften oder Tarifverträge eines Mitgliedstaats, die einen Mindestlohn garantieren, grundsätzlich auf die Arbeitgeber, die im Hoheitsgebiet dieses Staates Dienstleistungen erbringen, angewandt werden, unabhängig davon, in welchem Land sie ansässig sind (Urteil Arblade u. a., Randnr. 42).

29 Somit verwehrt das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat nicht, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats erbringt, die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die durch die nationalen Vorschriften dieses Staates festgelegten Mindestlöhne zu zahlen.

30 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es Umstände gibt, unter denen die Anwendung solcher Vorschriften im Hinblick auf das angestrebte Ziel, den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer, weder erforderlich noch verhältnismäßig ist.

31 Während die in den in Randnummer 28 dieses Urteils zitierten Rechtssachen im Bausektor beschäftigte Arbeitnehmer betrafen, die für einen mehr oder weniger langen Zeitraum aus dem Niederlassungsmitgliedstaat ihres Arbeitgebers umgesetzt wurden, um ein bestimmtes Projekt in einem anderen Mitgliedstaat zu verwirklichen, handelt es sich im Ausgangsverfahren um ein Unternehmen mit Sitz in einer grenznahen Region, von dem einige Beschäftigte für Dienstleistungen des Unternehmens möglicherweise einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im angrenzenden Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat.

32 Hierzu weist die ISA darauf hin, dass die Eigenart der von ihr durchgeführten Überwachungstätigkeit einen Wechsel des damit betrauten Personals bedinge, damit es nicht zu leicht erkannt werde.

33 Zwar sehe die französische Regelung einen niedrigeren Mindestlohn vor als die belgische, doch müsse die Gesamtsituation berücksichtigt werden, d. h. nicht nur das Entgelt, sondern auch die steuerliche Belastung und die Belastung durch Sozialabgaben. Die dem französischen Sozialrecht und der französischen Besteuerung unterliegenden Beschäftigten befänden sich in einer ähnlichen oder sogar günstigeren Lage als derjenigen, die für sie nach der belgischen Regelung bestuende.

34 Unter solchen Umständen müssen - auch wenn anzuerkennen ist, dass eine Regelung des Aufnahmemitgliedstaats, die einen Mindestlohn vorschreibt, das legitime Ziel verfolgt, die Arbeitnehmer zu schützen - die nationalen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats vor deren Anwendung auf einen in einer angrenzenden Region eines anderen Mitgliedstaats ansässigen Dienstleistenden prüfen, ob die Anwendung dieser Regelung für den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer erforderlich und insoweit verhältnismäßig ist.

35 Das Ziel des Aufnahmemitgliedstaats, für Angestellte solcher Dienstleistenden das gleiche soziale Schutzniveau sicherzustellen wie es in seinem Hoheitsgebiet für Arbeitnehmer desselben Sektors gilt, kann nämlich als verwirklicht angesehen werden, wenn sich alle betroffenen Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat und im Niederlassungsmitgliedstaat hinsichtlich des Entgelts, der Steuerlast und der Sozialabgaben in einer insgesamt gleichen Lage befinden.

36 Ferner kann die Anwendung der nationalen Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über Mindestlöhne auf Dienstleistende, die in einer an den Aufnahmemitgliedstaat angrenzenden Region eines anderen Mitgliedstaats ansässig sind, zum einen zu unverhältnismäßig hohen zusätzlichen Verwaltungskosten führen, etwa für eine stundenweise Berechnung des angemessenen Entgelts für jeden Arbeitnehmer, je nachdem, ob er während seiner Arbeit die Grenze zu einem anderen Mitgliedstaat überschritten hat, und zum anderen zur Zahlung unterschiedlich hoher Entgelte an die Beschäftigten, die alle derselben Operationsbasis angehören und die gleiche Arbeit leisten. Die zuletzt genannte Auswirkung könnte wiederum Spannungen zwischen den Beschäftigten zur Folge haben und sogar die Kohärenz der im Niederlassungsmitgliedstaat geltenden Tarifverträge bedrohen.

37 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens müssen daher die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats für die Beurteilung, ob die Anwendung der dort geltenden Mindestlohnregelung erforderlich und verhältnismäßig ist, alle maßgeblichen Elemente bewerten.

38 Bei dieser Bewertung müssen sie zum einen u. a. die Dauer der Dienstleistungen, ihre Vorhersehbarkeit und die Frage berücksichtigen, ob die Angestellten tatsächlich in den Aufnahmemitgliedstaat umgesetzt wurden oder ob sie weiterhin der Operationsbasis ihres Arbeitgebers in dessen Niederlassungsmitgliedstaat angehören.

39 Zum anderen müssen sie, um sich zu vergewissern, dass der Schutz der Angestellten im Niederlassungsmitgliedstaat gleichwertig ist, insbesondere die Höhe des Entgelts, die Dauer der Arbeit, auf die sich dieser Betrag bezieht, sowie die Höhe der Sozialabgaben und der steuerlichen Belastung berücksichtigen.

40 Da im Ausgangsverfahren die zuständigen belgischen Behörden die ISA wegen Nichtbeachtung der belgischen Mindestlohnregelung strafrechtlich verfolgen, muss das befasste Gericht beurteilen, ob die Anwendung dieser Regelung auf die ISA tatsächlich erforderlich und im Hinblick auf die Beeinträchtigung der in den Artikeln 59 und 60 EG-Vertrag niedergelegten Freiheiten verhältnismäßig ist.

41 Auf die zweite Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats erbringt, die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die in den nationalen Vorschriften dieses Staates festgelegten Mindestlöhne zu zahlen. Die Anwendung solcher Vorschriften kann sich jedoch als unverhältnismäßig erweisen, wenn es sich um Beschäftigte eines Unternehmens mit Sitz in einer grenznahen Region handelt, die einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats müssen daher feststellen, ob und, wenn ja, inwieweit, die Anwendung einer nationalen Regelung, die einen Mindestlohn vorschreibt, auf ein solches Unternehmen erforderlich und verhältnismäßig ist, um den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer sicherzustellen.

Kostenentscheidung:

Kosten

42 Die Auslagen der belgischen, der deutschen, der französischen, der niederländischen und der österreichischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal correctionnel Arlon mit Urteil vom 2. April 1998 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Die Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) verwehren es einem Mitgliedstaat nicht, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats erbringt, die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die in den nationalen Vorschriften dieses Staates festgelegten Mindestlöhne zu zahlen. Die Anwendung solcher Vorschriften kann sich jedoch als unverhältnismäßig erweisen, wenn es sich um Beschäftigte eines Unternehmens mit Sitz in einer grenznahen Region handelt, die einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats müssen daher feststellen, ob und, wenn ja, inwieweit, die Anwendung einer nationalen Regelung, die einen Mindestlohn vorschreibt, auf ein solches Unternehmen erforderlich und verhältnismäßig ist, um den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer sicherzustellen.

Ende der Entscheidung

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