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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 18.04.2002
Aktenzeichen: C-290/00
Rechtsgebiete: EGV, Verordnung 1408/71/EWG


Vorschriften:

EGV Art. 39
EGV Art. 42
Verordnung1408/71/EWG Art. 9a
Verordnung 1408/71/EWG Art. 94
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Situation eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der vor dessen Beitritt zur Europäischen Union in einem anderen Mitgliedstaat unselbständig erwerbstätig war, dort einen Arbeitsunfall erlitten hat und nach dem Beitritt seines Herkunftsstaats bei den zuständigen Stellen des Letzteren eine Berufsunfähigkeitspension wegen dieses Unfalls beantragt, fällt in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung.

Zum einen kann nämlich nach Artikel 94 Absatz 2 dieser Verordnung ein Mitgliedstaat die Anrechnung von im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungszeiten für die Rente nicht schon deshalb ablehnen, weil diese Zeiten zurückgelegt worden sind, bevor die Verordnung für ihn in Kraft getreten ist. Zum anderen ist ein Arbeitsunfall, der sich im Gebiet eines Mitgliedstaats ereignet hat, bevor die Verordnung Nr. 1408/71 in einem anderen Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, nach dessen Rechtsvorschriften Leistungen wegen Berufsunfähigkeit aufgrund dieses Unfalls beantragt werden, zweifellos ein Ereignis" im Sinne von Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung.

( vgl. Randnrn. 23, 25-26, Tenor 1 )

2. Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung in Verbindung mit Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 Absatz 2 EG) ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die eine Ausnahme vom Erfordernis einer Wartezeit als Voraussetzung für den Anspruch auf eine Pension wegen Berufsunfähigkeit, wenn diese die Folge eines - im vorliegenden Fall vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat erlittenen - Arbeitsunfalls ist, nur für den Fall vorsieht, dass das Opfer zur Zeit des Unfalls nach den Rechtsvorschriften dieses Staates - unter Ausschluss der Rechtsvorschriften sämtlicher anderen Mitgliedstaaten - pflicht- oder selbstversichert war.

( vgl. Randnr. 36, Tenor 2 )

3. Die Artikel 48 Absatz 2 und 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 Absatz 2 EG und 42 EG) sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Vorschrift entgegenstehen, die für die Verlängerung des Rahmenzeitraums, innerhalb dessen die Wartezeit für die Begründung eines Pensionsanspruchs zu erfuellen ist, nur die Zeiten berücksichtigt, in denen der Versicherte aufgrund einer inländischen Unfallversicherung eine Berufsunfähigkeitspension bezogen hat, ohne die Möglichkeit einer Verlängerung des Rahmenzeitraums für den Fall vorzusehen, dass eine solche Leistung nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wurde. Eine solche Regelung gilt zwar formal unabhängig von der Staatsangehörigkeit für jeden EG-Arbeitnehmer und kann somit unter den in ihr vorgesehenen Voraussetzungen zur Verlängerung seines Rahmenzeitraums führen. Gleichwohl kann sie dadurch, dass sie dann keine Verlängerungsmöglichkeit vorsieht, wenn Tatsachen oder Umstände wie die Zahlung von Unfallrenten, die verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten, Wanderarbeitnehmer viel stärker benachteiligen, weil vor allem Wanderarbeitnehmer gerade bei Invalidität dazu neigen, in ihr Heimatland zurückzukehren.

Aus denselben Gründen ist Artikel 9a der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung für ungültig zu erklären, soweit er ausdrücklich die Möglichkeit ausschließt, für die Verlängerung des Rahmenzeitraums nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Zeiten zu berücksichtigen, in denen Arbeitsunfallrenten nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gezahlt wurden.

( vgl. Randnrn. 38-40, Tenor 3-4 )


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 18. April 2002. - Johann Franz Duchon gegen Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberster Gerichtshof - Österreich. - Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Artikel 48 und 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 und 42 EG) - Artikel 9a und 94 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Arbeitsunfall, der sich vor Inkrafttreten der Verordnung im Herkunftsmitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat ereignet hat - Berufsunfähigkeit. - Rechtssache C-290/00.

Parteien:

In der Rechtssache C-290/00

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Obersten Gerichtshof (Österreich) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Johann Franz Duchon

gegen

Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 48 und 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 42 EG) sowie über die Auslegung oder Gültigkeit der Artikel 9a und 94 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung

erlässt

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter S. von Bahr und M. Wathelet (Berichterstatter),

Generalanwalt: F. G. Jacobs

Kanzler: R. Grass

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Herrn Duchon, vertreten durch die Rechtsanwälte A. Hawel und E. Eypeltauer,

- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Bogensberger als Bevollmächtigten,

aufgrund des Berichts des Berichterstatters,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. November 2001,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 27. Juni 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2000, gemäß Artikel 234 EG drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 48 und 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 42 EG) sowie nach der Auslegung oder Gültigkeit der Artikel 9a und 94 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Duchon, der 1968, während er in Deutschland arbeitete, einen Arbeitsunfall erlitt, und der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten (im Folgenden: Beklagte) wegen der Frage, ob Herr Duchon nach österreichischem Recht seit dem 1. Januar 1998 einen Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension hat.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsregelung

3 Die Verordnung Nr. 1408/71 ist aufgrund des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) seit dem 1. Januar 1994 auf die Republik Österreich anwendbar. Seit dem 1. Januar 1995 ist sie auf die Republik Österreich in ihrer Eigenschaft als Mitgliedstaat der Europäischen Union anwendbar.

4 Artikel 9a der Verordnung Nr. 1408/71 ("Verlängerung des Rahmenzeitraums") bestimmt:

"Ist nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Anspruch auf Leistungen davon abhängig, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige in einem festgelegten Zeitraum (Rahmenzeitraum) vor Eintritt des Versicherungsfalles eine bestimmte Mindestversicherungszeit zurückgelegt hat, und sehen diese Rechtsvorschriften vor, dass Zeiten, in denen Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates gewährt wurden, oder Zeiten der Kindererziehung im Gebiet dieses Mitgliedstaats diesen Rahmenzeitraum verlängern, dann verlängert sich dieser Rahmenzeitraum auch durch Zeiten, in denen Invaliditäts- oder Altersrente oder Leistungen wegen Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfällen (mit Ausnahme von Renten) nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gezahlt wurden, und durch Zeiten der Kindererziehung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats."

5 Artikel 61 der Verordnung Nr. 1408/71 enthält Sonderregeln zur Berücksichtigung von Besonderheiten bestimmter nationaler Rechtsvorschriften über die Versicherung gegen Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten. So lauten die Absätze 5 und 6 des Artikels 61:

"(5) Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, in dessen Rechtsvorschriften ausdrücklich oder stillschweigend vorgesehen ist, dass bei der Bemessung des Grades der Erwerbsminderung, der Begründung des Leistungsanspruchs oder der Festsetzung des Leistungsbetrags früher eingetretene oder festgestellte Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten zu berücksichtigen sind, berücksichtigt auch die früher nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats eingetretenen oder festgestellten Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten, als ob sie unter den für ihn geltenden Rechtsvorschriften eingetreten oder festgestellt worden wären.

(6) Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, in dessen Rechtsvorschriften ausdrücklich oder stillschweigend vorgesehen ist, dass bei der Bemessung des Grades der Erwerbsminderung, der Begründung des Leistungsanspruchs oder der Festsetzung des Leistungsbetrags später eingetretene oder festgestellte Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten zu berücksichtigen sind, berücksichtigt auch die später nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats eingetretenen oder festgestellten Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten, als ob sie unter den für ihn geltenden Rechtsvorschriften eingetreten oder festgestellt worden wären, sofern

1. für die früher nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften eingetretenen oder festgestellten Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten kein Leistungsanspruch bestand und

2. für die später eingetretenen oder festgestellten Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten ungeachtet der Bestimmungen von Absatz 5 kein Leistungsanspruch gemäß den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, nach denen der Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit eingetreten ist oder festgestellt wurde, besteht."

6 Unter der Überschrift "Übergangsvorschriften für die Arbeitnehmer" sieht Artikel 94 Absätze 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vor:

"(1) Diese Verordnung begründet keinen Anspruch für einen Zeitraum vor dem 1. Oktober 1972 oder vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil davon.

(2) Für die Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach dieser Verordnung werden sämtliche Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungs- und Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats oder in einem Teil davon zurückgelegt worden sind.

(3) Ein Leistungsanspruch wird auch für Ereignisse begründet, die vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil davon liegen, soweit Absatz 1 nicht etwas anderes bestimmt."

Nationale Regelung

7 Angestellte erhalten nach österreichischem Recht eine Berufsunfähigkeitspension, wenn sie neben der spezifischen Voraussetzung der geminderten Arbeitsfähigkeit auch die allgemeine Voraussetzung der Wartezeit (§ 235 Absatz 1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes [ASVG]) erfuellen. Die Wartezeit entspricht einer bestimmten Anzahl von Monaten, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums (Rahmenzeitraum) vor dem Tag, der für die Feststellung des Pensionsanspruchs maßgeblich ist (Stichtag), mit Beiträgen zur Pensionsversicherung belegt sind (Versicherungszeiten).

8 Vor Vollendung des 50. Lebensjahres beträgt die Wartezeit 60 Monate, die innerhalb der 120 Monate (Rahmenzeitraum) vor dem Tag der Stellung des Rentenantrags liegen müssen, wenn dieser auf einen Monatsersten fällt, sonst vor dem dem Tag der Antragstellung folgenden Monatsersten (§§ 223 Absatz 2 und 236 Absätze 1 Ziffer 1 lit. a und 2 Ziffer 1 ASVG).

9 Nach § 235 Absatz 3 lit. a ASVG entfällt die Wartezeit, wenn der Versicherungsfall die Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, der (die) bei einem in der Pensionsversicherung nach dem ASVG oder einem anderen Bundesgesetz Pflichtversicherten oder bei einem nach § 19a ASVG Selbstversicherten eingetreten ist.

10 Nach § 236 Absatz 3 ASVG kann sich der Rahmenzeitraum um "neutrale Monate" verlängern. § 234 Absatz 1 ASVG lautet:

"Als neutral sind folgende Zeiten anzusehen, die nicht Versicherungszeiten sind:

...

2. Zeiten, während derer der Versicherte einen bescheidmäßig zuerkannten Anspruch auf

...

b) eine Versehrtenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund einer Erwerbsunfähigkeitseinbuße von mindestens 50 v. H.,

... hatte".

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11 Herr Duchon, ein am 18. Januar 1949 geborener österreichischer Staatsbürger, erlitt am 8. September 1968 bei seiner Tätigkeit als Ferialpraktikant in Deutschland einen Arbeitsunfall. Er bezieht seither von den zuständigen deutschen Stellen eine Arbeitsunfallrente im Ausmaß einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 %.

12 Ein erster Antrag von Herrn Duchon auf Gewährung einer österreichischen Berufsunfähigkeitspension ab dem 1. Januar 1994 wurde von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten abgelehnt. Nach erfolgloser Klage gegen diesen Bescheid wurde das Begehren des Betroffenen am 15. April 1997 in letzter Instanz vom Obersten Gerichtshof mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe nicht die Wartezeit von 60 Monaten innerhalb des Rahmenzeitraums von 120 Monaten erfuellt, werde nicht von den in den §§ 235 Absatz 3 lit. a, 236 Absatz 3 und 234 Absatz 1 Nummer 2 Buchstabe b ASVG vorgesehenen Ausnahmen erfasst und könne sich nicht auf die gemeinschaftsrechtsrechtlichen Bestimmungen zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer berufen, da der Sachverhalt, der den Anspruch auf die Berufsunfähigkeitspension auslöse, vor dem 1. Januar 1994 liege.

13 Am 22. Dezember 1997 beantragte Herr Duchon erneut eine Berufsunfähigkeitspension, dieses Mal jedoch ab dem 1. Januar 1998. Mit Bescheid vom 11. August 1998 wurde dieser Antrag neuerlich mangels Erfuellung der Wartezeit abgelehnt. Die dagegen erhobene Klage wies das Landesgericht Linz (Österreich) am 29. September 1999 im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass aufgrund der Bindungswirkung der zwischen denselben Parteien ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 15. April 1997 bereits rechtskräftig über die Frage entschieden worden sei, ob die Versicherungszeiten, die im Anschluss an den von Herrn Duchon in Deutschland erlittenen Arbeitsunfall in diesem Mitgliedstaat zurückgelegt worden seien, zu berücksichtigen seien. Das Gericht könne nur noch die Frage prüfen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens aufgrund der in Österreich erworbenen Versicherungszeiten nach den maßgebenden innerstaatlichen Bestimmungen die Wartezeit erfuelle. Dies sei in der bei ihm anhängigen Rechtssache jedoch nicht der Fall. Nachdem dieses Urteil durch Urteil des Oberlandesgerichts Linz vom 11. Februar 2000 im Berufungsverfahren bestätigt worden war, legte Herr Duchon Revision beim Obersten Gerichtshof ein.

14 Das vorlegende Gericht fragt sich angesichts von Artikel 94 der Verordnung Nr. 1408/71, ob die Auffassung richtig sei, wonach diese Verordnung keine Anwendung auf Sachverhalte finde, die sich vor dem Beitritt Österreichs zum EWR-Abkommen und später zur Europäischen Union zugetragen hätten.

15 Stehe fest, dass die Arbeitsunfähigkeit, aufgrund deren Herr Duchon eine österreichische Pension beantrage, die Folge des 1968 in Deutschland erlittenen Arbeitsunfalls sei, so stelle sich im Rahmen des § 235 Absatz 3 lit. a ASVG die Frage, ob dieser Unfall als "Ereignis" im Sinne von Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 zu beurteilen sei. Wäre das der Fall, sei diese Verordnung auf die Begründung des Pensionsanspruchs des Klägers des Ausgangsverfahrens anwendbar, obwohl es sich um ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis handle, während der Leistungsanspruch selbst gemäß Artikel 94 Absatz 1 der Verordnung erst mit dem Tag ihres Inkrafttretens in der Republik Österreich beginnen könnte.

16 Sollte die Berufsunfähigkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht Folge des Arbeitsunfalls im Jahr 1968 sein, sei fraglich, ob nach Gemeinschaftsrecht die Zeiten, in denen nach deutschen Rechtsvorschriften Arbeitsunfallrenten gezahlt worden seien, zum Zweck einer Rahmenfristerstreckung gemäß § 236 Absatz 3 ASVG zu berücksichtigen seien.

17 Das vorlegende Gericht fragt sich in diesem Zusammenhang ferner, ob Artikel 9a der Verordnung Nr. 1408/71 mit den Artikeln 48 Absatz 2 und 51 des Vertrages vereinbar sei, soweit er gerade bei Arbeitsunfallrenten eine Ausnahme von der Gleichstellung vorsehe. Es nimmt insofern Bezug auf das Urteil vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-349/87 (Paraschi, Slg. 1991, I-4501). Hätte Herr Duchon immer in Österreich gearbeitet und dort den Arbeitsunfall erlitten, wäre es nach nationalem Recht zu einer Rahmenfristerstreckung um die Zeit des Rentenbezugs gekommen. Dass insofern der deutsche Rentenbezug nicht mit berücksichtigt werde, benachteilige Wanderarbeitnehmer im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern. Für diese Diskriminierung sei keine sachliche Rechtfertigung zu finden.

18 Der Oberste Gerichtshof hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Fällt die Situation eines Arbeitnehmers, der als Staatsangehöriger eines nunmehrigen Mitgliedstaats vor dem Beitritt dieses Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat unselbständig erwerbstätig war und dort einen Arbeitsunfall erlitten hat, in den Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1249/92 des Rates vom 30. April 1992, wenn der Betroffene nach dem Beitrittszeitpunkt des Mitgliedstaats einen Antrag auf Berufsunfähigkeitspension stellt und dem Arbeitsunfall anspruchsbegründende Wirkung für die Berufsunfähigkeitspension zukommen kann?

Für den Fall der Bejahung der ersten Frage:

2. Sind die Artikel 48 Absatz 2 und 51 EWG-Vertrag (jetzt Artikel 39 Absatz 2 und 42 EG) sowie die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die für den Entfall der Wartezeit für eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit neben dem Umstand, dass der Versicherungsfall die Folge eines Arbeitsunfalls ist, voraussetzt, dass der Versicherungsfall bei einem in der Pensionsversicherung nach dem (österreichischen) Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) oder einem anderen (österreichischen) Bundesgesetz Pflichtversicherten oder bei einem nach dem § 19a (österreichisches) Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG) Selbstversicherten eingetreten ist und damit Arbeitsunfälle bei einer Beschäftigung in anderen Mitgliedstaaten nicht erfasst?

3. Sind die Artikel 48 Absatz 2 und 51 EWG-Vertrag (jetzt Artikel 39 Absatz 2 und 42 EG) dahin auszulegen, dass sie Artikel 9a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 sowie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine Verlängerung des Rahmenzeitraums für die Zeit eines Rentenbezugs ganz allgemein ausschließt bzw. auf den Fall des Anspruchs auf Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung des betreffenden Mitgliedstaats beschränkt?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

19 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Situation eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der vor dessen Beitritt zur Europäischen Union in einem anderen Mitgliedstaat unselbständig erwerbstätig war, dort einen Arbeitsunfall erlitten hat und nach dem Beitritt seines Herkunftsstaats bei den zuständigen Stellen des Letzteren eine Berufsunfähigkeitspension wegen dieses Unfalls beantragt, in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.

20 Herr Duchon, die österreichische Regierung und die Kommission sind der Auffassung, dass diese Frage zu bejahen sei.

21 Dazu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz der Rechtssicherheit keine rückwirkende Anwendung einer Verordnung zulässt, unabhängig davon, ob sich eine solche Anwendung für den Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt, es sei denn, dass es im Wortlaut oder in der Zweckrichtung einen hinreichend klaren Anhaltspunkt gibt, der die Annahme zulässt, dass die Verordnung nicht nur für die Zukunft gilt (Urteile vom 29. Januar 1985 in der Rechtssache 234/83, Gesamthochschule Duisburg, Slg. 1985, 327, Randnr. 20, und vom 7. Februar 2002 in der Rechtssache C-28/00, Kauer, Slg. 2002, I-0000, Randnr. 20). Somit gilt die neue Regelung zwar nur für die Zukunft, doch ist sie nach einem allgemein anerkannten Grundsatz, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, auch auf die künftigen Wirkungen von unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalten anwendbar (in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 1978 in der Rechtssache 96/77, Bauche und Delquignies, Slg. 1978, 383, Randnr. 48, vom 25. Oktober 1978 in der Rechtssache 125/77, Koninklijke Scholten-Honig und De Bijenkorf, Slg. 1978, 1991, Randnr. 37, vom 5. Februar 1981 in der Rechtssache 40/79, P./Kommission, Slg. 1981, 361, Randnr. 12, vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 270/84, Licata/Wirtschafts- und Sozialausschuss, Slg. 1986, 2305, Randnr. 31, vom 29. Januar 2002 in der Rechtssache C-162/00, Pokrzeptowicz-Meyer, Slg. 2002, I-0000, Randnrn. 49 und 50, und Kauer, Randnr. 20).

22 Indem Artikel 94 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt, dass diese Verordnung keinen Anspruch für einen Zeitraum vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats begründet, fügt er sich in vollem Umfang in den Rahmen des soeben angeführten Grundsatzes der Rechtssicherheit ein.

23 Im gleichen Sinne sieht zum einen Artikel 94 Absatz 2 dieser Verordnung zu dem Zweck, eine Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 auf künftige Wirkungen von unter der Geltung des früheren Rechts entstandenen Sachverhalte zu ermöglichen, die Verpflichtung vor, bei der Feststellung von Leistungsansprüchen alle Versicherungs-, Beschäftigungs- und Wohnzeiten zu berücksichtigen, die unter der Geltung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats "vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung [der] Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats... zurückgelegt worden sind". Nach dieser Bestimmung kann ein Mitgliedstaat mithin die Anrechnung von im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungszeiten für die Altersrente nicht schon deshalb ablehnen, weil diese Zeiten zurückgelegt worden sind, bevor die Verordnung für ihn in Kraft getreten ist (vgl. Urteile vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-227/89, Rönfeldt, Slg. 1991, I-323, Randnr. 16, und Kauer, Randnr. 22).

24 Zum anderen schreibt Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 auch die Berücksichtigung aller Ereignisse vor, auf die sich der betreffende Anspruch bezieht, auch wenn diese "vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung [der] Verordnung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats... liegen".

25 Ein Arbeitsunfall, der sich im Gebiet eines Mitgliedstaats ereignet hat, bevor die Verordnung Nr. 1408/71 in einem anderen Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, nach dessen Rechtsvorschriften Leistungen wegen Berufsunfähigkeit aufgrund dieses Unfalls beantragt werden, ist zweifellos ein "Ereignis" im Sinne von Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung.

26 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Situation eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der vor dessen Beitritt zur Europäischen Union in einem anderen Mitgliedstaat unselbständig erwerbstätig war, dort einen Arbeitsunfall erlitten hat und nach dem Beitritt seines Herkunftsstaats bei den zuständigen Stellen des Letzteren eine Berufsunfähigkeitspension wegen dieses Unfalls beantragt, in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.

Zur zweiten Frage

27 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 48 Absatz 2 und 51 des Vertrages sowie die Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Vorschrift wie § 235 Absatz 3 lit. a ASVG entgegenstehen, die eine Ausnahme vom Erfordernis einer Wartezeit als Voraussetzung für den Anspruch auf eine Pension wegen Berufsunfähigkeit, wenn diese die Folge eines - im vorliegenden Fall vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat erlittenen - Arbeitsunfalls ist, nur für den Fall vorsieht, dass das Opfer zur Zeit des Unfalls nach den Rechtsvorschriften dieses Staates - unter Ausschluss der Rechtsvorschriften sämtlicher anderen Mitgliedstaaten - pflicht- oder selbstversichert war.

28 In diesem Zusammenhang ist erstens die Rechtmäßigkeit einer Vorschrift wie des § 235 Absatz 3 lit. a ASVG am Maßstab des Gemeinschaftsrechts zu prüfen, das anwendbar wäre, wenn sich der Arbeitsunfall nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union ereignet hätte.

29 Wie die österreichische Regierung und die Kommission geltend machen, ist eine solche Vorschrift, obwohl sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer gilt, geeignet, Personen, die von ihrem durch den Vertrag garantierten Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, zu benachteiligen, da diese Personen das Erfordernis der Versicherungszugehörigkeit gemäß dem ASVG weniger leicht erfuellen können als in Österreich gebliebene Arbeitnehmer.

30 Im Übrigen ist die österreichische Regierung der Ansicht, dass das nationale Gericht § 235 Absatz 3 lit. a ASVG so auszulegen habe, dass die Versicherungszugehörigkeit aufgrund einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit aufgrund einer innerstaatlichen Erwerbstätigkeit gleichgestellt sei.

31 Bezüglich des letztgenannten Punktes ist daran zu erinnern, dass es tatsächlich Sache des nationalen Gerichts ist, das Gemeinschaftsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem es notfalls jede Bestimmung unangewandt lässt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem gemeinschaftsrechtswidrigen Ergebnis führen würde (vgl. Urteil vom 26. September 2000 in der Rechtssache C-262/97, Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321, Randnr. 40).

32 Zweitens ist zum einen festzustellen, dass dann, wenn wie im Ausgangsverfahren die nationale Regelung für die Begründung von Pensionsansprüchen wegen Berufsunfähigkeit aufgrund eines Arbeitsunfalls gilt, der sich ereignet hat, bevor die Verordnung Nr. 1408/71 in dem Mitgliedstaat, in dem die Pension beantragt wird, in Kraft getreten ist, Pensionsansprüche, die nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union - und sei es auch auf der Grundlage eines vor diesem Beitritt liegenden Ereignisses - begründet worden sind, von den österreichischen Stellen in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht festzustellen sind, und zwar insbesondere den Bestimmungen des Vertrages über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (in diesem Sinne Urteil Kauer, Randnr. 45).

33 Zum anderen ist, was die Berücksichtigung des im Ausgangsverfahren fraglichen Ereignisses, d. h. des Arbeitsunfalls in Deutschland im Jahr 1968, angeht, die Übergangsbestimmung des Artikels 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden, die naturgemäß Sachverhalte erfassen soll, die zu einer Zeit entstanden sind, als die Verordnung im betreffenden Mitgliedstaat noch nicht anwendbar war. Diese Bestimmung soll, wie bereits in den Randnummern 23 und 24 dieses Urteils festgestellt worden ist, gerade die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 auf künftige Wirkungen von Sachverhalten ermöglichen, die zu einer Zeit entstanden sind, in der die Freizügigkeit im Verhältnis zwischen dem betreffenden Mitgliedstaat und dem Staat, in dessen Gebiet die betreffenden möglicherweise zu berücksichtigenden Sachverhalte entstanden sind, per definitionem noch nicht gewährleistet war.

34 Daher kann der Umstand, dass Herr Duchon vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens in der Republik Österreich oder vor dem Beitritt dieses Mitgliedstaats zur Europäischen Union in Deutschland gearbeitet hat, als solcher der Anwendung von Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht entgegenstehen.

35 Es besteht aber die Gefahr, dass die Anwendung der Voraussetzung des § 235 Absatz 3 lit. a ASVG auf einen Arbeitsunfall, der sich ereignet hat, bevor die Verordnung Nr. 1408/71 in dem Mitgliedstaat, in dem eine Berufsunfähigkeitspension beantragt wird, in Kraft getreten ist, Artikel 94 Absatz 3 dieser Verordnung ins Leere laufen lässt, wenn die nationalen Rechtsvorschriften selbst die Berücksichtigung der Versicherungszugehörigkeit nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nicht vorsehen, eben weil eine Gemeinschaftsvorschrift, die diese Berücksichtigung für den vor dem genannten Zeitpunkt liegenden Zeitraum hätte garantieren können, fehlt.

36 Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit Artikel 48 Absatz 2 des Vertrages dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift wie § 235 Absatz 3 lit. a ASVG entgegensteht, die eine Ausnahme vom Erfordernis einer Wartezeit als Voraussetzung für den Anspruch auf eine Pension wegen Berufsunfähigkeit, wenn diese die Folge eines - im vorliegenden Fall vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat erlittenen - Arbeitsunfalls ist, nur für den Fall vorsieht, dass das Opfer zur Zeit des Unfalls nach den Rechtsvorschriften dieses Staates - unter Ausschluss der Rechtsvorschriften sämtlicher anderen Mitgliedstaaten - pflicht- oder selbstversichert war.

Zur dritten Frage

37 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 48 Absatz 2 und 51 des Vertrages dahin auszulegen sind, dass sie einer Vorschrift wie § 234 Absatz 1 Ziffer 2 lit. b ASVG in Verbindung mit § 236 Absatz 3 ASVG entgegenstehen, die für die Verlängerung des Rahmenzeitraums, innerhalb dessen die Wartezeit für die Begründung eines Pensionsanspruchs zu erfuellen ist, nur die Zeiten berücksichtigt, in denen der Versicherte aufgrund einer inländischen Unfallversicherung eine Berufsunfähigkeitspension bezogen hat, ohne die Möglichkeit einer Verlängerung des Rahmenzeitraums für den Fall vorzusehen, dass eine solche Leistung nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wurde. Das vorlegende Gericht fragt sich ferner, ob Artikel 9a der Verordnung Nr. 1408/71 mit den Artikeln 48 Absatz 2 und 51 des Vertrages vereinbar ist, soweit er ausdrücklich die Möglichkeit ausschließt, für die Verlängerung des Rahmenzeitraums nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Zeiten zu berücksichtigen, in denen Arbeitsunfallrenten nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gezahlt wurden.

38 Eine Regelung der im Ausgangsverfahren streitigen Art gilt zwar formal unabhängig von der Staatsangehörigkeit für jeden EG-Arbeitnehmer und kann somit unter den in ihr vorgesehenen Voraussetzungen zur Verlängerung seines Rahmenzeitraums führen. Gleichwohl ergibt sich, wie die österreichische Regierung und die Kommission ausführen, bereits aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass eine solche Regelung dadurch, dass sie dann keine Verlängerungsmöglichkeit vorsieht, wenn Tatsachen oder Umstände wie die Zahlung von Unfallrenten, die verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten, Wanderarbeitnehmer viel stärker benachteiligen kann, weil vor allem Wanderarbeitnehmer gerade bei Invalidität dazu neigen, in ihr Heimatland zurückzukehren (in diesem Sinne Urteil Paraschi, Randnr. 24).

39 Artikel 48 Absatz 2 und 51 des Vertrages stehen somit einer nationalen Regelung entgegen, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Verlängerung des Rahmenzeitraums gestattet, ohne jedoch eine Verlängerungsmöglichkeit für den Fall vorzusehen, dass Tatsachen und Umstände, die den verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten (Urteil Paraschi, Randnr. 27).

40 Aus den in Randnummer 38 dieses Urteils genannten Gründen ist des Weiteren Artikel 9a der Verordnung Nr. 1408/71 für ungültig zu erklären, soweit er ausdrücklich die Möglichkeit ausschließt, für die Verlängerung des Rahmenzeitraums nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Zeiten zu berücksichtigen, in denen Arbeitsunfallrenten nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gezahlt wurden.

41 Die österreichische Regierung macht jedoch geltend, dass die Artikel 48 Absatz 2 und 51 des Vertrages für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht relevant seien. Da sich der im Ausgangsverfahren streitige Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens in der Republik Österreich ereignet habe, seien die Vertragsbestimmungen aufgrund ihres zeitlichen Anwendungsbereichs auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar.

42 Ferner enthalte die Übergangsvorschrift des Artikels 94 der Verordnung Nr. 1498/71 gerade keine dem Artikel 9a vergleichbare Gleichstellungsregelung, die die Rahmenfristerstreckung garantiere.

43 Hierzu ist festzustellen, dass das Ausgangsverfahren nicht die Begründung eines Pensionsanspruchs für einen Zeitraum vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens in der Republik Österreich betrifft, sondern die Begründung eines solchen Anspruchs zum 1. Januar 1998.

44 Wie der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 30. November 2000 in der Rechtssache C-195/98 (Österreichischer Gewerkschaftsbund, Slg. 2000, I-10497, Randnr. 55) festgestellt hat, enthält die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1) keine Übergangsregelung für die Geltung des Artikels 48 des Vertrages. Die Bestimmungen dieses Artikels gelten ab dem Zeitpunkt des Beitritts der Republik Österreich zur Europäischen Union, dem 1. Januar 1995, dort unmittelbar und sind bindend. Wanderarbeitnehmer aus allen Mitgliedstaaten können sich von diesem Zeitpunkt an auf sie berufen, und sie können auf die gegenwärtigen und künftigen Wirkungen von Sachverhalten angewandt werden, die vor dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union entstanden sind.

45 Diese allgemeine Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Artikel 94 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen hat, für die Begründung eines Leistungsanspruchs nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Zeiten zu berücksichtigen, die in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung im Gebiet des ersten Staates zurückgelegt wurden und in denen dem Versicherten bestimmte Leistungen, wie vorliegend Arbeitsunfallrenten, gewährt wurden.

46 Demnach ist auf die dritte Frage zu antworten:

- Die Artikel 48 Absatz 2 und 51 EG-Vertrag sind dahin auszulegen, dass sie einer Vorschrift wie § 234 Absatz 1 Ziffer 2 lit. b ASVG in Verbindung mit § 236 Absatz 3 ASVG entgegenstehen, die für die Verlängerung des Rahmenzeitraums, innerhalb dessen die Wartezeit für die Begründung eines Pensionsanspruchs zu erfuellen ist, nur die Zeiten berücksichtigt, in denen der Versicherte aufgrund einer inländischen Unfallversicherung eine Berufsunfähigkeitspension bezogen hat, ohne die Möglichkeit einer Verlängerung des Rahmenzeitraums für den Fall vorzusehen, dass eine solche Leistung nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wurde.

- Artikel 9a der Verordnung Nr. 1408/71, der mit den Artikeln 48 Absatz 2 und 51 EG-Vertrag unvereinbar ist, soweit er ausdrücklich die Möglichkeit ausschließt, für die Verlängerung des Rahmenzeitraums nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Zeiten zu berücksichtigen, in denen Arbeitsunfallrenten nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gezahlt wurden, wird für ungültig erklärt.

Kostenentscheidung:

Kosten

47 Die Auslagen der österreichischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Obersten Gerichtshof mit Beschluss vom 27. Juni 2000 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Die Situation eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der vor dessen Beitritt zur Europäischen Union in einem anderen Mitgliedstaat unselbständig erwerbstätig war, dort einen Arbeitsunfall erlitten hat und nach dem Beitritt seines Herkunftsstaats bei den zuständigen Stellen des Letzteren eine Berufsunfähigkeitspension wegen dieses Unfalls beantragt, fällt in den Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung.

2. Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung in Verbindung mit Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 Absatz 2 EG) ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift wie § 235 Absatz 3 lit. a des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes entgegensteht, die eine Ausnahme vom Erfordernis einer Wartezeit als Voraussetzung für den Anspruch auf eine Pension wegen Berufsunfähigkeit, wenn diese die Folge eines - im vorliegenden Fall vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat erlittenen - Arbeitsunfalls ist, nur für den Fall vorsieht, dass das Opfer zur Zeit des Unfalls nach den Rechtsvorschriften dieses Staates - unter Ausschluss der Rechtsvorschriften sämtlicher anderen Mitgliedstaaten - pflicht- oder selbstversichert war.

3. Die Artikel 48 Absatz 2 und 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 Absatz 2 EG und 42 EG) sind dahin auszulegen, dass sie einer Vorschrift wie § 234 Absatz 1 Ziffer 2 lit. b des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes in Verbindung mit § 236 Absatz 3 dieses Gesetzes entgegenstehen, die für die Verlängerung des Rahmenzeitraums, innerhalb dessen die Wartezeit für die Begründung eines Pensionsanspruchs zu erfuellen ist, nur die Zeiten berücksichtigt, in denen der Versicherte aufgrund einer inländischen Unfallversicherung eine Berufsunfähigkeitspension bezogen hat, ohne die Möglichkeit einer Verlängerung des Rahmenzeitraums für den Fall vorzusehen, dass eine solche Leistung nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährt wurde.

4. Artikel 9a der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, der mit den Artikeln 48 Absatz 2 und 51 EG-Vertrag unvereinbar ist, soweit er ausdrücklich die Möglichkeit ausschließt, für die Verlängerung des Rahmenzeitraums nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Zeiten zu berücksichtigen, in denen Arbeitsunfallrenten nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gezahlt wurden, wird für ungültig erklärt.

Ende der Entscheidung

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