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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.03.1995
Aktenzeichen: C-346/93
Rechtsgebiete: EuGVÜ


Vorschriften:

EuGVÜ Art. 5 Nr. 1
EuGVÜ Art. 5 Nr. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Aufgabe des Gerichtshofes, wie sie im Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof ausgestaltet ist, ist die eines Gerichts, dessen Entscheidungen für das vorlegende Gericht verbindlich sind. Diese Aufgabe würde verfälscht, wenn man zuließe, daß die Antworten, die der Gerichtshof den Gerichten der Vertragsstaaten gibt, eine bloß beratende Wirkung hätten und ihnen keine bindenden Wirkungen zukämen.

Dies wäre aber der Fall, wenn sich der Gerichtshof für eine Auslegung des Übereinkommens für zuständig erklären würde, um die ihn ein nationales Gericht bittet, das mit einem Rechtsstreit befasst ist, für den nicht das Übereinkommen, sondern ein nationales Gesetz gilt, das sich nicht nur darauf beschränkt, das Übereinkommen als Muster zu nehmen, indem es bestimmte seiner Vorschriften wiedergibt, ohne sie jedoch als solche in der internen Rechtsordnung anwendbar zu machen, und ausdrücklich die Möglichkeit seiner Änderung vorsieht, um Divergenzen gegenüber den Vorschriften des Übereinkommens, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt werden, herbeizuführen, sondern darüber hinaus die nationalen Gerichte bei seiner Anwendung lediglich dazu verpflichtet, die Auslegung der entsprechenden Vorschriften des Übereinkommens durch den Gerichtshof zu berücksichtigen, ohne dieser Auslegung einen verbindlichen Charakter zu geben.

Aus diesem Grund ist der Gerichtshof für die Entscheidung über eine Vorabentscheidungsfrage, die sich in einen derartigen Kontext einfügt, nicht zuständig.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 28. MAERZ 1995. - KLEINWORT BENSON LTD GEGEN CITY OF GLASGOW DISTRICT COUNCIL. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COURT OF APPEAL (ENGLAND) - VEREINIGTES KOENIGREICH. - BRUESSELER UEBEREINKOMMEN - NATIONALES RECHT, DAS DAS UEBEREINKOMMEN ALS MUSTER NIMMT - AUSLEGUNG - VORABENTSCHEIDUNGSFRAGE - UNZUSTAENDIGKEIT DES GERICHTSHOFES. - RECHTSSACHE C-346/93.

Entscheidungsgründe:

1 Der Court of Appeal hat mit Entscheidung vom 18. Mai 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 1993, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, geänderter Text S. 77; im folgenden: Übereinkommen) durch den Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung des Artikels 5 Nrn. 1 und 3 des Übereinkommens zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Kleinwort Benson Ltd (im folgenden: Kleinwort Ltd), einer in England ansässigen Bank, und dem City of Glasgow District Council (im folgenden: Council), einer Gemeindebehörde des Distrikts der Stadt Glasgow (Schottland), wegen der Bestimmung des Gerichts, das für die Entscheidung über eine Klage auf Erstattung eines Geldbetrags zuständig ist, der zur Durchführung von für nichtig erklärten Verträgen gezahlt worden war.

3 Aus den Akten geht hervor, daß die Kleinwort Ltd und der Council ab 7. September 1982 sieben Zinßwapverträge schlossen, zu deren Durchführung die Kleinwort Ltd dem Council in der Zeit vom 9. März 1983 bis 10. September 1987 Beträge in Höhe von insgesamt 807 230,31 UKL zahlte.

4 Am 24. Januar 1991 entschied das House of Lords in einem Grundsatzurteil, daß Gemeindebehörden wie der Council keine Befugnis zum Abschluß derartiger Verträge hätten und daß die geschlossenen Verträge folglich wegen fehlender Geschäftsfähigkeit einer Partei von Anfang an nichtig seien.

5 Am 6. September 1991 erhob die Kleinwort Ltd in England beim High Court of Justice, Queen' s Bench Division, Commercial Court, eine Klage aus ungerechtfertigter Bereicherung gegen den Council auf Erstattung der Beträge, die sie zur Durchführung der zwischen den Parteien geschlossenen Verträge gezahlt hatte.

6 Der Council bestritt die Zuständigkeit der englischen Gerichte für die Klage der Kleinwort Ltd, da die Erstattungsklage seiner Auffassung nach bei den Gerichten des Sitzes des Beklagten in Schottland eingereicht werden musste.

7 Dagegen machte die Kleinwort Ltd vor dem High Court geltend, daß Gegenstand des Verfahrens gegen den Council entweder "ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" oder "eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder... Ansprüche aus einer solchen Handlung" seien und daß demnach die englischen Gerichte entweder gemäß Artikel 5 Nr. 1 oder gemäß Artikel 5 Nr. 3 von Anhang 4 des Civil Jurisdiction and Judgments Act 1982 (Gesetz von 1982 über die gerichtliche Zuständigkeit und Urteile in Zivilsachen; im folgenden: Gesetz von 1982) zuständig seien.

8 Im Vereinigten Königreich sieht das Gesetz von 1982, dessen Hauptzweck darin besteht, das Übereinkommen in diesem Vertragsstaat anwendbar zu machen, ausserdem ein System der Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten in Zivilsachen auf die verschiedenen Teile des Hoheitsgebiets (England und Wales, Schottland, Nordirland), aus denen dieser Staat besteht, vor.

9 Dazu enthält Anhang 4 des Gesetzes von 1982 bestimmte Vorschriften, die sich an das Übereinkommen anlehnen. So sieht Artikel 2 den Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzes des Beklagten vor, während Artikel 5 Nrn. 1 und 3 dann, wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfuellt worden ist oder zu erfuellen wäre, und dann, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder an dem es im Fall einer drohenden Schädigung wahrscheinlich eintreten wird, eine besondere Zuständigkeit zuweist.

10 Nach Artikel 16 Absatz 3 Buchstabe a des Gesetzes von 1982 sind, wenn es um Fragen nach der Bedeutung oder Wirkung irgendeiner in Anhang 4 enthaltenen Vorschrift geht, "alle vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit Titel II des Übereinkommens von 1968 aufgestellten einschlägigen Grundsätze und alle einschlägigen Entscheidungen dieses Gerichtshofes zur Bedeutung oder Wirkung irgendeiner Vorschrift dieses Titels zu berücksichtigen".

11 Artikel 47 Absätze 1 und 3 des Gesetzes von 1982 sieht die Möglichkeit vor, Änderungen u. a. von Anhang 4 "unter Berücksichtigung aller vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit Titel II des Übereinkommens von 1968 aufgestellten Grundsätze oder aller Entscheidungen dieses Gerichtshofes zur Bedeutung oder Wirkung irgendeiner Vorschrift dieses Titels" vorzunehmen, darunter auch "Änderungen, die eine Divergenz zwischen irgendeiner Vorschrift von Anhang 4... und einer entsprechenden Vorschrift des Titels II des Übereinkommens von 1968... herbeiführen sollen".

12 Nachdem der High Court am 27. Februar 1992 entschieden hatte, daß er für den Rechtsstreit nicht zuständig sei, legte die Kleinwort Ltd am 26. März 1992 gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Court of Appeal ein.

13 Da der Court of Appeal der Auffassung war, daß der Ausgang des Rechtsstreits von einer Entscheidung über den Anwendungsbereich des Artikels 5 Nrn. 1 und 3 von Anhang 4 des Gesetzes von 1982 und über das Verhältnis zwischen diesen beiden Vorschriften abhänge, daß deren Wortlaut im wesentlichen mit dem des Artikels 5 Nrn. 1 und 3 des Übereinkommens identisch sei und daß sich der Gerichtshof noch nicht zur Auslegung der letztgenannten Vorschriften in diesem Zusammenhang geäussert habe, hat er am 18. Mai 1993 gemäß Artikel 3 des erwähnten Protokolls vom 3. Juni 1971 beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfrage beantwortet hat:

Handelt es sich bei einer Klage gegen einen Beklagten auf Erstattung eines Geldbetrags, den der Kläger an diesen Beklagten aufgrund eines Vertrages gezahlt hatte, der wegen fehlender Befugnis einer Partei zum Vertragsabschluß nichtig war,

a) um eine Klage, bei der "ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden", im Sinne des Artikels 5 Nr. 1 des am 27. September 1968 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (in seiner geänderten Fassung)

oder

b) um eine Klage, bei der "eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder... Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden", im Sinne des Artikels 5 Nr. 3 des genannten Übereinkommens?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

14 Es steht fest, daß die vom Gerichtshof erbetene Auslegung der in Rede stehenden Vorschriften des Übereinkommens es dem vorlegenden Gericht ermöglichen soll, nicht über die Anwendung dieses Übereinkommens, sondern über die Anwendung des nationalen Rechts des Vertragsstaats, dem dieses Gericht angehört, zu entscheiden.

15 Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob der Gerichtshof für die Entscheidung über die Vorabentscheidungsfrage des Court of Appeal zuständig ist.

16 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, daß das nationale Gesetz, das für den Ausgangsrechtsstreit gilt, keineswegs eine unmittelbare und unbedingte Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht enthält, wodurch dieses Recht in der internen Rechtsordnung anwendbar würde, sondern sich darauf beschränkt, das Übereinkommen als Muster zu nehmen, und dessen Begriffe zum Teil wiedergibt.

17 Denn dieses Gesetz enthält zwar die fast wörtliche Wiedergabe bestimmter Vorschriften des Übereinkommens, doch weicht sein Wortlaut mitunter von dem der entsprechenden Vorschrift des Übereinkommens ab. Dies ist namentlich bei Artikel 5 Nr. 3 des Anhangs der Fall.

18 Zudem sieht das Gesetz von 1982 für die Behörden des betreffenden Vertragsstaats ausdrücklich die Möglichkeit vor, Änderungen vorzunehmen, die "eine Divergenz... herbeiführen sollen" zwischen den Vorschriften von Anhang 4 und den entsprechenden Vorschriften des Übereinkommens, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt werden.

19 Unter diesen Umständen kann nicht die Auffassung vertreten werden, daß die Vorschriften des Übereinkommens, die dem Gerichtshof zur Auslegung unterbreitet worden sind, als solche durch das Recht des betreffenden Vertragsstaats, und sei es auch ausserhalb des Geltungsbereichs dieses Übereinkommens, anwendbar gemacht worden sind.

20 Sodann ist darauf hinzuweisen, daß die Gerichte des betreffenden Vertragsstaats nach dem Gesetz von 1982 nicht verpflichtet sind, die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten in der Weise zu entscheiden, daß sie die Auslegung des Übereinkommens, die ihnen der Gerichtshof gegeben hat, absolut und unbedingt anwenden.

21 Denn nach diesem Gesetz müssen die nationalen Gerichte bei der Anwendung von Vorschriften, die dem Übereinkommen entnommen sind, die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Auslegung der entsprechenden Vorschriften des Übereinkommens nur berücksichtigen. Dagegen sieht Artikel 3 Absatz 1 dieses Gesetzes für den Fall, daß das Übereinkommen auf den Rechtsstreit Anwendung findet, vor, daß "jede Frage nach der Bedeutung oder Wirkung einer Vorschrift des Übereinkommens, die nicht dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Protokoll von 1971 vorgelegt wird,... gemäß den vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen und allen einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofes entschieden" wird.

22 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem das Übereinkommen nicht anwendbar ist, kann das Gericht des betreffenden Vertragsstaats demnach frei entscheiden, ob die vom Gerichtshof gegebene Auslegung auch bei der Anwendung des diesem Übereinkommen entnommenen nationalen Rechts gilt.

23 Folglich wäre, wenn sich der Gerichtshof für die Entscheidung über die vorliegende Vorabentscheidungsfrage für zuständig erklären würde, seine Auslegung der Vorschriften des Übereinkommens für das vorlegende Gericht nicht verbindlich, da dieses nur dann an die Auslegung des Gerichtshofes gebunden wäre, wenn das Übereinkommen auf den Rechtsstreit anwendbar wäre.

24 Es kann aber nicht angenommen werden, daß die Antworten, die der Gerichtshof den Gerichten der Vertragsstaaten gibt, eine bloß beratende Bedeutung haben und ihnen keine bindenden Wirkungen zukommen. Eine solche Situation würde nämlich die Aufgabe des Gerichtshofes, wie sie im Protokoll vom 3. Juni 1971 verstanden wird, nämlich die eines Gerichts, dessen Entscheidungen verbindlich sind, verfälschen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991, Slg. 1991, I-6079, Randnr. 61).

25 Nach alledem ist der Gerichtshof für die Entscheidung über die Vorabentscheidungsfrage des Court of Appeal nicht zuständig.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der deutschen, der spanischen und der französischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Court of Appeal mit Entscheidung vom 18. Mai 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Der Gerichtshof ist für die Entscheidung über die Vorabentscheidungsfrage des Court of Appeal nicht zuständig.

Ende der Entscheidung

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