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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.05.2000
Aktenzeichen: C-38/98
Rechtsgebiete: Übereinkommen über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirlands, EGV


Vorschriften:

Übereinkommen über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirlands Art. 27 Nummer 1
Art. 30 EGV a.F.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Die Corte d'appello, die gemäß Artikel 40 Absatz 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen mit einem Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Antrags auf Vollstreckbarerklärung befaßt ist, entscheidet als Rechtsmittelinstanz und kann daher gemäß Artikel 2 Nummer 2 des Protokolls vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof dem Gerichtshof eine Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorlegen.

Denn zwar laufen in Italien die beiden Abschnitte des Verfahrens über die Vollstreckbarerklärung im Sinne der Artikel 31 ff. des Übereinkommens vor der Corte d'appello ab, doch kann diese scheinbare Identität, die auf einer Entscheidung der Italienischen Republik beruht, nicht verbergen, daß sich das Verfahren nach Artikel 32 Absatz 1, das die Einreichung des Antrags auf Vollstreckbarerklärung betrifft, von demjenigen nach Artikel 40 Absatz 1 unterscheidet. Im ersteren Fall entscheidet die Corte d'appello gemäß Artikel 34 Absatz 1, ohne daß der Schuldner in diesem Abschnitt des Verfahrens Gelegenheit zur Äußerung erhält. Im letzteren Fall hat die Corte d'appello dagegen gemäß Artikel 40 Absatz 2 den Schuldner zu hören. (vgl. Randnrn. 21-23)

2 Zwar können die Vertragsstaaten grundsätzlich aufgrund des Vorbehalts in Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen selbst festlegen, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, doch gehört die Abgrenzung dieses Begriffes zur Auslegung des Übereinkommens. Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Vertragsstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats die Anerkennung zu versagen. (vgl. Randnrn. 27-28)

3 Eine Anwendung der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen kommt nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stuende. Damit das Verbot der Nachprüfung der ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit gewahrt bleibt, muß es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln. (vgl. Randnr. 30)

4 Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf die Anerkennung einer Entscheidung aus einem anderen Vertragsstaat nicht allein deshalb ablehnen, weil es der Ansicht ist, daß in dieser Entscheidung das nationale Recht oder das Gemeinschaftsrecht falsch angewandt worden sei, da sonst die Zielsetzung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in Frage gestellt würde. Vielmehr ist in solchen Fällen davon auszugehen, daß das in jedem Vertragsstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem, ergänzt durch das Vorabentscheidungsverfahren in Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG), den Rechtsbürgern eine ausreichende Garantie bietet. (vgl. Randnr. 33)

5 Die Entscheidung eines Gerichts eines Vertragsstaats, die ein Recht des geistigen Eigentums an Karosserieteilen für Kraftfahrzeuge anerkennt und dem Inhaber dieses Rechts einen Schutz verleiht, der es diesem erlaubt, Dritten, nämlich in einem anderen Vertragsstaat niedergelassenen Marktteilnehmern, zu untersagen, in diesem Staat die Karosserieteile herzustellen und zu vertreiben, sie durch diesen Staat durchzuführen, dort einzuführen oder aus ihm auszuführen, verstößt nicht gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. (vgl. Randnr. 34 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 11. Mai 2000. - Régie nationale des usines Renault SA gegen Maxicar SpA und Orazio Formento. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Corte d'appello di Torino - Italien. - Brüsseler Übereinkommen - Vollstreckung von Entscheidungen - Rechte des geistigen Eigentums an Karosserieteilen für Kraftfahrzeuge - Öffentliche Ordnung. - Rechtssache C-38/98.

Parteien:

In der Rechtssache C-38/98

wegen eines dem Gerichtshof gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen von der Corte d'appello Turin (Italien) in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit

Régie nationale des usines Renault SA

gegen

Maxicar SpA und Orazio Formento

vorgelegten Ersuchens um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77) und vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1) sowie der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG und 30 EG) und 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG)

erläßt

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. A. O. Edward sowie der Richter L. Sevón, J.-P. Puissochet, P. Jann (Berichterstatter) und M. Wathelet,

Generalanwalt: S. Alber

Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- der Régie nationale des usines Renault SA, vertreten durch Rechtsanwälte M. Argan, Turin, A. Braun, E. Cornu, Brüssel, M.-P. Escande und S. Havard-Duclos, Paris,

- der Maxicar SpA und des Herrn Formento, vertreten durch Rechtsanwälte G. Floridia und M. Lamandini, Mailand,

- der belgischen Regierung, vertreten durch J. Devadder, Verwaltungsdirektor im Juristischen Dienst des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,

- der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, und R. Loosli-Surrans, Chargé de mission in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,

- der niederländischen Regierung, vertreten durch A. Bos, Rechtsberater im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater J. L. Iglesias Buhigues, P. Stancanelli, Juristischer Dienst, und M. Desantes Real, zum Juristischen Dienst der Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Régie nationale des usines Renault SA, der Maxicar SpA und des Herrn Formento, der französischen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 28. April 1999,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Juni 1999,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Die Corte d'appello Turin hat mit Beschluß vom 19. November 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 1998, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77) und vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1; im folgenden: Übereinkommen) und gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG und 30 EG) und 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Régie nationale des usines Renault SA (im folgenden: Antragstellerin), deren Sitz sich in Frankreich befindet, und der Maxicar SpA sowie Herrn Formento (im folgenden: Antragsgegner), deren Sitz bzw. Wohnsitz sich in Italien befinden, wegen der dortigen Vollstreckung eines Urteils der Cour d'appel Dijon (Frankreich) vom 12. Januar 1990, mit dem die Antragsgegner verurteilt wurden, der Antragstellerin 100 000 FRF an Schadensersatz wegen Handlungen zu zahlen, die den Straftatbestand der Fälschung erfuellten.

Das Übereinkommen

3 Das Übereinkommen ist nach seinem Artikel 1 Absatz 1 "in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne daß es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt".

4 In bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen bestimmt Artikel 31 Absatz 1 des Übereinkommens, daß die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, in einem anderen Vertragsstaat vollstreckt werden, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigten mit der Vollstreckungsklausel versehen worden sind.

5 Gemäß Artikel 34 Absatz 2 kann der Antrag "nur aus einem der in Artikel 27 und 28 angeführten Gründe abgelehnt werden".

6 Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens bestimmt:

"Eine Entscheidung wird nicht anerkannt:

1. wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde".

7 Nach Artikel 32 Absatz 1 des Übereinkommens ist der Antrag in Italien an die "corte d'appello" zu richten.

8 Wird die Zwangsvollstreckung zugelassen, so kann der Schuldner gemäß Artikel 36 des Übereinkommens gegen diese Entscheidung innerhalb eines Monats nach ihrer Zustellung einen Rechtsbehelf einlegen. Nach Artikel 37 wird der Rechtsbehelf nach den Vorschriften, die für das streitige Verfahren maßgebend sind, in Italien bei der "corte d'appello" eingelegt.

9 Wird der Antrag abgelehnt, so kann der Antragsteller nach Artikel 40 des Übereinkommens einen Rechtsbehelf einlegen, und zwar in Italien bei der "corte d'appello".

10 Artikel 2 des Protokolls betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof (im folgenden: Protokoll) bestimmt:

"Folgende Gerichte können dem Gerichtshof eine Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorlegen:

1....

- in Italien: die "Corte Suprema di Cassazione",

...

2. - die Gerichte der Vertragsstaaten, sofern sie als Rechtsmittelinstanz entscheiden;

3. - in den in Artikel 37 des Übereinkommens vorgesehenen Fällen die in dem genannten Artikel angeführten Gerichte."

Das Ausgangsverfahren

11 Die Cour d'appel Dijon verurteilte den Antragsgegner Formento mit Urteil vom 12. Januar 1990 wegen der Straftat einer Fälschung, indem dieser für Kraftfahrzeuge der Marke Renault bestimmte Karosserieteile hergestellt und in den Verkehr gebracht habe. Die Cour d'appel Dijon verurteilte den Antragsgegner zu dem gesamtschuldnerisch mit der von ihm geführten Antragsgegnerin Maxicar SpA zur Zahlung von 100 000 FRF Schadensersatz an die Antragstellerin, die an dem Verfahren als Zivilpartei beteiligt war. Dieses Urteil wurde am 6. Juni 1991 rechtskräftig, nachdem die französische Cour de cassation das dagegen eingelegte Rechtsmittel zurückgewiesen hatte.

12 Die Antragstellerin beantragte mit Antragsschrift, die am 24. Dezember 1996 bei der Corte d'appello Turin eingereicht wurde, gemäß den Artikeln 31 und 32 des Übereinkommens die Vollstreckbarerklärung des Urteils in Italien.

13 Die Corte d'appello Turin lehnte den Antrag mit Entscheidung vom 25. Februar 1997 mit der Begründung ab, daß dieser, da es sich um eine Entscheidung im Strafverfahren handele, innerhalb der Fristen des Artikels 741 der italienischen Strafprozeßordnung zu stellen gewesen wäre.

14 Am 28. März 1997 legte die Antragstellerin hiergegen gemäß Artikel 40 des Übereinkommens einen Rechtsbehelf bei der Corte d'appello Turin ein; zur Begründung machte sie geltend, daß das Übereinkommen in Zivil- und Handelssachen unabhängig von der Art des Gerichts gelte. Die Antragsgegner vertraten die Ansicht, das Urteil der Cour d'appel Dijon könne in Italien nicht für vollstreckbar erklärt werden, da es mit einer zwischen denselben Parteien in Italien ergangenen Entscheidung unvereinbar sei und gegen die öffentliche Ordnung im Bereich der Wirtschaft verstoße.

15 Die Corte d'appello Turin hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Sind die Artikel 30 bis 36 EG-Vertrag so auszulegen, daß sie den Inhaber eines gewerblichen oder geistigen Schutzrechts in einem Mitgliedstaat hindern, das entsprechende absolute Recht geltend zu machen, um Dritten die Herstellung und den Vertrieb von Einzelteilen, die in ihrer Gesamtheit die Karosserie eines bereits auf den Markt gebrachten Kraftfahrzeugs bilden, d. h. von Einzelteilen, die zum Verkauf als Ersatzteile bestimmt sind, sowie die Ausfuhr in einen anderen Mitgliedstaat von Einzelteilen zu verbieten?

2. Läßt sich auf Artikel 86 EG-Vertrag das Verbot des Mißbrauchs der beherrschenden Stellung stützen, die jeder Kraftfahrzeughersteller auf dem Markt für Ersatzteile für Kraftfahrzeuge aus seiner Herstellung einnimmt, und der darin besteht, durch die Ausübung von Rechten des gewerblichen und geistigen Eigentums und entsprechende gerichtliche Verfolgungsmaßnahmen den Zweck der vollständigen Ausschaltung der Konkurrenz seitens unabhängiger Ersatzteilhersteller zu verfolgen?

3. Verstößt daher das Urteil eines Gerichts eines Mitgliedstaats gegen die öffentliche Ordnung im Sinne von Artikel 27 des Brüsseler Übereinkommens, das ein gewerbliches oder geistiges Eigentumsrecht an den erwähnten Einzelteilen anerkennt, die in ihrer Gesamtheit die Karosserie eines Kraftfahrzeugs bilden, und dem Inhaber eines solchen behaupteten ausschließlichen Rechts dadurch Schutz gewährt, daß es Dritten, Wirtschaftsteilnehmern eines anderen Mitgliedstaats, die Herstellung und den Vertrieb dieser Einzelteile, die in ihrer Gesamtheit die Karosserie eines bereits in den Verkehr gebrachten Kraftfahrzeugs bilden, in diesem Mitgliedstaat sowie ihre Durchfuhr durch, Einfuhr in oder Ausfuhr aus diesem Mitgliedstaat untersagt und diese Verhaltensweise mit Sanktionen belegt?

16 Mit seiner dritten Frage, die als erste zu untersuchen ist, da es von der Antwort auf diese Frage abhängt, ob die erste und die zweite Frage geprüft werden müssen, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung einer Bestimmung des Übereinkommens, nämlich um Entscheidung über den Ausdruck "der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem [die Anerkennung der Entscheidung] geltend gemacht wird", in Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens.

Zur Zulässigkeit der Vorlagefrage

17 Die Antragstellerin vertritt die Ansicht, die Corte d'appello Turin sei nicht berechtigt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung über eine Frage der Auslegung des Übereinkommens zu ersuchen. Die Corte d'appello habe im ersten Rechtszug entschieden und sei gemäß Artikel 40 des Übereinkommens und nicht gemäß Artikel 37 angerufen worden; dies entspreche keinem der Tatbestände des Artikels 2 des Protokolls.

18 Die Antragsgegner sowie die französische Regierung und die Kommission machen geltend, daß die Corte d'appello Turin gemäß Artikel 40 des Übereinkommens angerufen worden sei, d. h. in einem sogenannten Rechtsbehelfsverfahren. Dies falle unter Artikel 2 Nummer 2 des Protokolls.

19 Hilfsweise fügt die Kommission hinzu, daß die verfahrensmäßige Ausgewogenheit des Übereinkommens und die Gleichbehandlung der Parteien für eine weite Auslegung von Artikel 2 Nummer 3 des Protokolls dahin gehend spreche, daß diese Bestimmung auf die in Artikel 40 des Übereinkommens aufgeführten Gerichte erstreckt werde.

20 Das Übereinkommen soll durch ein einfaches und schnelles Vollstreckungsverfahren die Freizügigkeit von Urteilen soweit wie möglich herstellen (u. a. Urteil vom 28. März 2000 in der Rechtssache C-7/98, Krombach, Slg. 2000, I-0000, Randnr. 19).

21 Für die Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung sehen die Artikel 31 ff. des Übereinkommens ein Verfahren aus zwei Abschnitten vor, die das allgemeine Bestreben des Abkommens - den bei derartigen Verfahren notwendigen Überraschungseffekt mit der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs zu vereinbaren - wiedergeben. Aus diesem Grund wird der Antragsgegner in der ersten Instanz nicht gehört, während das Verfahren in der Rechtsmittelinstanz notwendig kontradiktorisch ist (Urteil vom 12. Juli 1984 in der Rechtssache 178/83, Firma P., Slg. 1984, 3033, Randnr. 11).

22 Zwar laufen in Italien beide Abschnitte des Verfahrens vor der Corte d'appello ab. Diese scheinbare Identität, die auf einer Entscheidung der Italienischen Republik beruht, kann jedoch nicht verbergen, daß sich das Verfahren nach Artikel 32 Absatz 1 von demjenigen nach Artikel 40 Absatz 1 unterscheidet. Im ersteren Fall entscheidet die Corte d'appello gemäß Artikel 34 Absatz 1, ohne daß der Schuldner in diesem Abschnitt des Verfahrens Gelegenheit zur Äußerung erhält. Im letzteren Fall hat die Corte d'appello dagegen gemäß Artikel 40 Absatz 2 den Schuldner zu hören.

23 Somit entscheidet das vorlegende Gericht, das nach Artikel 40 Absatz 1 des Übereinkommens angerufen worden ist, im vorliegenden Fall als Rechtsmittelinstanz und kann daher gemäß Artikel 2 Nummer 2 des Protokolls dem Gerichtshof eine Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorlegen.

Zur Beantwortung der Vorlagefrage

24 Die Antragsgegner erwarten vom Gerichtshof die Klarstellung des Begriffes der öffentlichen Ordnung im Bereich der Wirtschaft. Insbesondere erwarten sie eine Bestätigung dessen, daß das Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Prinzipien des freien Warenverkehrs und des freien Wettbewerbs, für die Lösung des italienischen Rechts sprechen, das im Unterschied zum französischen Recht gewerbliche Schutzrechte an Ersatzteilen für Kraftfahrzeuge nicht anerkennt, und daß diese Lösung einen Grundsatz der öffentlichen Ordnung im Bereich der Wirtschaft darstellt.

25 Die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission führen zunächst aus, es stelle sich vorab die Frage, ob und inwieweit der Gerichtshof für die Entscheidung über den Begriff der "öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsstaats" im Sinne von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens zuständig sei, und sprechen sich dann für eine enge Auslegung dieses Begriffes aus, der nur in Ausnahmefällen zum Tragen kommen dürfe. Ein angeblicher Irrtum bei der Auslegung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts rechtfertige nicht ohne weiteres einen Rückgriff auf die Ordre-Public-Klausel.

26 Artikel 27 des Übereinkommens ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eng auszulegen, da er ein Hindernis für die Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele des Übereinkommens bildet (Urteile vom 2. Juni 1994 in der Rechtssache C-414/92, Solo Kleinmotoren, Slg. 1994, I-2237, Randnr. 20, und Krombach, Randnr. 21). Was namentlich die Ordre-Public-Klausel in Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens betrifft, so kann sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nur in Ausnahmefällen eine Rolle spielen (Urteile vom 4. Februar 1988 in der Rechtssache 145/86, Hoffmann, Slg. 1988, 645, Randnr. 21, und vom 10. Oktober 1996 in der Rechtssache C-78/95, Hendrikman und Feyen, Slg. 1996, I-4943, Randnr. 23).

27 Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, daß die Vertragsstaaten zwar grundsätzlich aufgrund des Vorbehalts in Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens selbst festlegen können, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, daß die Abgrenzung dieses Begriffes aber zur Auslegung des Übereinkommens gehört (Urteil Krombach, Randnr. 22).

28 Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Vertragsstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats die Anerkennung zu versagen (Urteil Krombach, Randnr. 23).

29 Mit dem Verbot der Nachprüfung einer ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit verbieten es die Artikel 29 und 34 Absatz 3 des Übereinkommens dem Gericht des Vollstreckungsstaats, die Anerkennung oder Vollstreckung einer solchen Entscheidung nur deshalb abzulehnen, weil die vom Gericht des Ursprungsstaats angewandten Rechtsvorschriften von denen abweichen, die das Gericht des Vollstreckungsstaats im Fall seiner eigenen Befassung mit dem Rechtsstreit angewandt hätte. Ebensowenig darf das Gericht des Vollstreckungsstaats nachprüfen, ob das Gericht des Ursprungsstaats den Fall rechtlich und tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat (Urteil Krombach, Randnr. 36).

30 Eine Anwendung der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens kommt nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stuende. Damit das Verbot der Nachprüfung der ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit gewahrt bleibt, muß es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln (Urteil Krombach, Randnr. 37).

31 Im vorliegenden Fall sieht sich das Gericht des Vollstreckungsstaats zu der Frage, ob die ausländische Entscheidung gegen die öffentliche Ordnung seines Staates verstößt, durch einen Fehler veranlaßt, den das Gericht des Ursprungsstaats möglicherweise bei der Anwendung bestimmter Vorschriften des Gemeinschaftsrechts begangen hat. Das Gericht des Vollstreckungsstaats hat Zweifel daran, ob es mit den Grundprinzipien des freien Warenverkehrs und des freien Wettbewerbs vereinbar ist, daß das Gericht des Ursprungsstaats ein geistiges Eigentumsrecht an Karosserieteilen für Kraftfahrzeuge anerkannt hat, das es dem Inhaber ermöglicht, in einem anderen Vertragsstaat ansässigen Marktbeteiligten die Herstellung und den Vertrieb dieser Karosserieteile in diesem Vertragsstaat sowie ihre Durchfuhr durch, Einfuhr in oder Ausfuhr aus diesem Staat zu untersagen.

32 Die Voraussetzungen für den Rückgriff auf die Ordre-Public-Klausel ändern sich nicht dadurch, daß dieser mögliche Rechtsfehler Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts betrifft. Denn es ist Sache des nationalen Gerichts, den Schutz der durch die nationale Rechtsordnung und der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte in gleicher Weise wirksam zu gewährleisten.

33 Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf die Anerkennung einer Entscheidung aus einem anderen Vertragsstaat nicht allein deshalb ablehnen, weil es der Ansicht ist, daß in dieser Entscheidung das nationale Recht oder das Gemeinschaftsrecht falsch angewandt worden sei, da sonst die Zielsetzung des Übereinkommens in Frage gestellt würde. Vielmehr ist in solchen Fällen davon auszugehen, daß das in jedem Vertragsstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem, ergänzt durch das Vorabentscheidungsverfahren in Artikel 177 EG-Vertrag, den Rechtsbürgern eine ausreichende Garantie bietet.

34 Da ein möglicher Rechtsfehler von der Art des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keinen offensichtlichen Verstoß gegen eine grundlegende Rechtsvorschrift in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats darstellt, ist auf die dritte Frage zu antworten, daß die Entscheidung eines Gerichts eines Vertragsstaats, die ein Recht des geistigen Eigentums an Karosserieteilen für Kraftfahrzeuge anerkennt und dem Inhaber dieses Rechts einen Schutz verleiht, der es diesem erlaubt, Dritten, nämlich in einem anderen Vertragsstaat niedergelassenen Marktteilnehmern, zu untersagen, in diesem Vertragsstaat die Karosserieteile herzustellen und zu vertreiben, sie durch diesen Staat durchzuführen, dort einzuführen oder aus ihm auszuführen, nicht gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens verstößt.

35 Angesichts der Antwort auf die dritte Frage brauchen die erste und die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

36 Die Auslagen der belgischen, der französischen und der niederländischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

auf die ihm von der Corte d'appello Turin mit Beschluß vom 19. November 1997 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Die Entscheidung eines Gerichts eines Vertragsstaats, die ein Recht des geistigen Eigentums an Karosserieteilen für Kraftfahrzeuge anerkennt und dem Inhaber dieses Rechts einen Schutz verleiht, der es diesem erlaubt, Dritten, nämlich in einem anderen Vertragsstaat niedergelassenen Marktteilnehmern, zu untersagen, in diesem Vertragsstaat die Karosserieteile herzustellen und zu vertreiben, sie durch diesen Staat durchzuführen, dort einzuführen oder aus ihm auszuführen, verstößt nicht gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der Fassung der Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland.

Ende der Entscheidung

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