Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 12.07.1993
Aktenzeichen: C-397/92
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 2408/92/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 173
VO Nr. 2408/92/EWG Art. 1 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2408/92 über den Zugang von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft zu Strecken des innergemeinschaftlichen Flugverkehrs, mit dem die Anwendung dieser Verordnung auf den Flughafen Gibraltar bis zum Inkrafttreten der zwischen dem Königreich Spanien und dem Vereinigten Königreich für diesen Flughafen vereinbarten Kooperationsregelung ausgesetzt wird, kann nicht als eine Bestimmung angesehen werden, die eine Entscheidung im Sinne von Artikel 173 Absatz 2 des Vertrages enthält. Eine von einer natürlichen oder juristischen Person gegen diese Bestimmung erhobene Nichtigkeitsklage ist daher unzulässig.

In einem Rechtsakt enthaltene Beschränkungen oder Ausnahmen sind nämlich Bestandteil der gesamten Vorschriften, in denen sie stehen, und teilen ausser im Falle eines Ermessensmißbrauchs deren allgemeine Rechtsnatur. So gilt auch die fragliche Vorschrift, mit der die Anwendung der ° ihrerseits allgemein geltenden ° Verordnung ausgesetzt wird, in gleicher Weise für alle Luftverkehrsunternehmen, die einen Flugdienst zwischen einem anderen Flughafen der Gemeinschaft und dem Flughafen Gibraltar betreiben wollen, und, allgemeiner, für alle Nutzer dieses Flughafens. Mit der Vorschrift ° die überdies nicht die einzige ist, mit der ein Flughafen vorläufig von der Geltung der Verordnung ausgenommen wird ° wird ausserdem nur die Konsequenz aus dem Vorliegen eines objektiven, aus einer Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Mitgliedstaaten resultierenden Hindernisses gezogen, das der sofortigen Anwendung der Verordnung auf den Flughafen Gibraltar entgegensteht.


BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 12. JULI 1993. - GOVERNMENT OF GIBRALTAR UND GIBRALTAR DEVELOPMENT CORPORATION GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - KLAGE AUF NICHTIGERKLAERUNG EINER VERORDNUNG - ZUGANG VON LUFTFAHRTUNTERNEHMEN ZU STRECKEN DES INNERGEMEINSCHAFTLICHEN FLUGVERKEHRS. - RECHTSSACHE C-397/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die Regierung von Gibraltar und die Gibraltar Development Corporation haben mit Klageschrift, die am 17. November 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung des Artikels 1 Absatz 3 der Verordnung (EWG) Nr. 2408/92 des Rates vom 23. Juli 1992 über den Zugang von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft zu Strecken des innergemeinschaftlichen Flugverkehrs (ABl. L 240, S. 8).

2 Die Verordnung Nr. 2408/92 betrifft den Zugang zu Strecken in der Gemeinschaft im Linienflug- und im Gelegenheitsflugverkehr. Mit ihr soll durch die umfassende Regelung des Marktzugangs die mit dem Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts für den Flugverkehr eingeleitete Liberalisierung fortgeführt werden.

3 Die Verordnung ersetzt zum Teil die Verordnungen (EWG) des Rates Nr. 2343/90 vom 24. Juli 1990 über den Zugang von Luftverkehrsunternehmen zu Strecken des innergemeinschaftlichen Linienflugverkehrs und über die Aufteilung der Kapazitäten für die Personenbeförderung zwischen Luftverkehrsunternehmen im Linienflugverkehr zwischen Mitgliedstaaten (ABl. L 217, S. 8) und Nr. 294/91 vom 4. Februar 1991 über den Betrieb von Luftfrachtdiensten zwischen Mitgliedstaaten (ABl. L 36, S. 1).

4 Wie die beiden Verordnungen Nrn. 2343/90 und 294/91 enthält die Verordnung Nr. 2408/92 eine Bestimmung, mit der ihre Anwendung auf den Flugplatz Gibraltar bis zur Anwendung der Regelung über eine Zusammenarbeit ausgesetzt wird, die zwischen den Regierungen des Königreichs Spanien und Vereinigten Königreichs vereinbart worden ist.

5 Diese in Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung enthaltene Bestimmung, die Gegenstand der vorliegenden Klage ist, lautet:

"Die Anwendung dieser Verordnung auf den Flugplatz Gibraltar wird bis zur Anwendung der Regelung ausgesetzt, die in der gemeinsamen Erklärung der Minister für auswärtige Angelegenheiten des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 enthalten ist. Die Regierungen des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs werden den Rat über den Zeitpunkt der Anwendung unterrichten."

6 Die gemeinsame Erklärung der Aussenminister des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 sieht unter Punkt 8 namentlich vor, daß die Regelung über die gemeinsame Nutzung des Flugplatzes Gibraltar Anwendung findet, sobald die britischen Behörden den spanischen Behörden mitgeteilt haben, daß die zur Umsetzung von Punkt 3.3 (Zoll- und Einwanderungskontrollen in jedem Abfertigungsgebäude) erforderlichen Regelungen in Kraft getreten sind, und sobald ferner der Bau des spanischen Abfertigungsgebäudes abgeschlossen ist, spätestens aber ein Jahr nach der oben genannten Mitteilung.

7 Der Rat hat gegen die Klage gemäß Artikel 91 § 1 Absatz 1 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben und beantragt, vorab darüber zu entscheiden.

8 Der Präsident des Gerichtshofes hat gemäß Artikel 93 §§ 1 und 2 der Verfahrensordnung das Königreich Spanien (Beschluß vom 9. Februar 1993), das Vereinigte Königreich (Beschluß vom 22. März 1993) und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Beschluß vom 29. April 1993) als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Beklagten zugelassen.

9 Zur Begründung der von ihm erhobenen Einrede der Unzulässigkeit rügt der Rat zum ersten die fehlende Klagebefugnis der Regierung von Gibraltar, da die Erhebung der vorliegenden Klage nach britischem Recht in die Zuständigkeit des Gouverneurs falle. Er macht ferner geltend, daß beide Klägerinnen, sowohl die Regierung von Gibraltar als auch die Gibraltar Development Corporation, von der angefochtenen Bestimmung weder unmittelbar noch individuell betroffen seien.

10 Gemäß Artikel 92 § 2 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jederzeit von Amts wegen prüfen, ob unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen fehlen, und hierüber gemäß Artikel 91 §§ 3 und 4 der Verfahrensordnung ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Da die Akten im vorliegenden Fall alle für die Entscheidung erforderlichen Angaben enthalten, hat der Gerichtshof beschlossen, über die Zulässigkeit der Klage bereits vor Ablauf der in diesem Verfahren festgesetzten Fristen durch Beschluß zu entscheiden.

11 Artikel 173 EWG-Vertrag bestimmt:

"Der Gerichtshof überwacht die Rechtmässigkeit des Handelns des Rates und der Kommission, soweit es sich nicht um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt. Zu diesem Zweck ist er für Klagen zuständig, die ein Mitgliedstaat, der Rat oder die Kommission wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung dieses Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmißbrauchs erhebt.

Jede persönliche oder juristische Person kann unter den gleichen Voraussetzungen gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen..."

12 Da die Regierung von Gibraltar und die Gibraltar Development Corporation nicht zu den Klagebefugten nach Artikel 173 Absatz 1 gehören und dies auch nicht geltend machen, ist die Zulässigkeit ihrer Klage ausschließlich nach Artikel 173 Absatz 2 zu prüfen.

13 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff "Entscheidung" in Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes seit dem Urteil vom 14. Dezember 1962 in den verbundenen Rechtssachen 16/62 und 17/62 (Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes/Rat, Slg. 1962, 963) in dem sich aus Artikel 189 EWG-Vertrag ergebenden technischen Sinn aufzufassen und das maßgebende Merkmal zur Unterscheidung zwischen einem Rechtsetzungsakt und einer Entscheidung im Sinne des letztgenannten Artikels darin zu sehen ist, ob die fragliche Maßnahme allgemeine Geltung hat.

14 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes verliert eine Maßnahme auch nicht etwa dadurch ihre allgemeine Geltung und damit ihren normativen Charakter, daß sich die Personen, für die sie in einem gegebenen Zeitpunkt gilt, der Zahl nach oder sogar namentlich mehr oder weniger genau bestimmen lassen, sofern nur feststeht, daß die Maßnahme nach ihrer Zweckbestimmung aufgrund eines durch sie festgelegten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist (Urteile vom 11. Juli 1968 in der Rechtssache 6/68, Zuckerfabrik Watenstedt/Rat, Slg. 1968, 612, vom 16. April 1970 in der Rechtssache 64/69, Compagnie française commerciale et financière/Kommission, Slg. 1970, 221, Randnr. 11, vom 30. September 1982 in der Rechtssache 242/81, Roquette Frères/Rat, Slg. 1982, 3213, Randnr. 7, und vom 26. April 1988 in den verbundenen Rechtssachen 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, Asteris/Kommission, Slg. 1988, 2181, Randnr. 13, Beschluß vom 13. Juli 1988 in der Rechtssache 160/88 R, Fédération européenne de la santé animale/Rat, Slg. 1988, Randnr. 29, und Urteil vom 24. November 1992 in den verbundenen Rechtssachen C-15/91 und C-108/91, Buckl/Kommission, Slg. 1992, I-6061, Randnr. 25).

15 Schließlich hat der Gerichtshof bereits festgestellt, daß in einem Rechtsakt enthaltene Beschränkungen oder Ausnahmen vorübergehender Art (Urteile Zuckerfabrik Watenstedt/Rat, a. a. O., und Compagnie française commerciale et financière/Kommission, a. a. O., Randnrn. 12 bis 15) oder räumlicher Art (Urteil vom 18. Januar 1979 in den verbundenen Rechtssachen 103/78 bis 109/78, Société des usines de Beauport/Rat, Slg. 1979, 17, Randnrn. 15 bis 19) Bestandteil der gesamten Vorschriften sind, in denen sie stehen, und ausser im Falle eines Ermessensmißbrauchs deren allgemeine Rechtsnatur teilen.

16 Im vorliegenden Fall ist die allgemeine Geltung der Verordnung Nr. 2408/92 ausser hinsichtlich Artikel 1 Absatz 3 nicht strittig. Tatsächlich betrifft die Verordnung alle Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft, für die sie den Marktzugang und insbesondere die Ausübung der Verkehrsrechte neu regelt.

17 Mit der angefochtenen Bestimmung wird die Anwendung dieser Neuregelung auf die Flugdienste nach und von Gibraltar bis zum Inkrafttreten der Maßnahmen ausgesetzt, die in der gemeinsamen Erklärung der Aussenminister des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 vorgesehen sind. Wie der Gerichtshof bereits hinsichtlich der gleichen Bestimmung in der Richtlinie 89/463/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 zur Änderung der Richtlinie 83/416/EWG des Rates vom 25. Juli 1983 über die Zulassung des interregionalen Linienflugverkehrs zur Beförderung von Personen, Post und Fracht zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 226, S. 14) entschieden hat, gilt diese Vorschrift über die Aussetzung der Anwendung der Verordnung in gleicher Weise für alle Luftverkehrsunternehmen, die einen Flugdienst zwischen einem anderen Flughafen der Gemeinschaft und dem Flughafen Gibraltar betreiben wollen und, allgemeiner, für alle Nutzer dieses Flughafens. Sie gilt demnach für objektiv umschriebene Sachverhalte (Urteil vom 29. Juni 1993 in der Rechtssache C-298/89, Regierung von Gibraltar/Rat, Slg. 1993, I-3605, Randnr. 20).

18 Im übrigen ist der Flughafen Gibraltar nicht der einzige, der vom räumlichen Geltungsbereich der Verordnung vorläufig ausgenommen worden ist. Gemäß Artikel 1 Absatz 4 der Verordnung sind auch andere Flughäfen (die der griechischen und der die autonome Region Azoren bildenden atlantischen Inseln) vorübergehend von der Geltung der Verordnung ausgenommen, da das Luftverkehrssystem auf diesen Inseln nicht ausreichend entwickelt ist.

19 Die Verordnung verweist zur Begründung dafür, daß ihre Anwendung auf den Flughafen Gibraltar ausgesetzt wird, auf die Regelung, die in der gemeinsamen Erklärung der Aussenminister des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 enthalten ist. Wie der Gerichtshof bereits im Urteil in der Rechtssache C-298/89 (Regierung von Gibraltar/Rat, a. a. O., Randnr. 22) ausgeführt hat, wird mit diesem Hinweis ein objektives Hindernis festgestellt, das der Anwendung der Verordnung unter Berücksichtigung ihrer Ziele entgegensteht. Denn angesichts der von den Klägerinnen selbst eingehend dargelegten Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Königreich Spanien und dem Vereinigten Königreich über die Hoheitsgewalt über das Gebiet, in dem der Flughafen Gibraltar liegt, und der sich daraus für den Flugbetrieb ergebenden Schwierigkeiten hängt die Weiterentwicklung der Flugdienste zwischen diesem Flughafen und den anderen Flughäfen der Gemeinschaft von der Durchführung der von den beiden Staaten vereinbarten Regelung über eine Zusammenarbeit ab.

20 Demnach kann Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2408/92 nicht als eine Bestimmung angesehen werden, die eine Entscheidung im Sinne von Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag enthält; vielmehr handelt es sich um eine Vorschrift, die die allgemeine Rechtsnatur dieser Verordnung teilt.

21 Die Klage ist daher unzulässig und demgemäß abzuweisen, ohne daß die weiteren zur Begründung der Einrede der Unzulässigkeit geltend gemachten Gründe geprüft zu werden brauchen.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Regierung von Gibraltar und die Gibraltar Development Corporation mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen die Kosten aufzuerlegen. Das Königreich Spanien, das Vereinigte Königreich und die Kommission als Streithelfer tragen gemäß Artikel 69 § 4 Absatz 1 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen:

1) Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2) Die Klägerinnen tragen die Kosten.

3) Das Königreich Spanien, das Vereinigte Königreich und die Kommission als Streithelfer tragen ihre eigenen Kosten.

Luxemburg, den 12. Juli 1993

Ende der Entscheidung

Zurück