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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Beschluss verkündet am 18.08.1995
Aktenzeichen: T-146/95 R
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 186
EG-Vertrag Art. 185
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTS ERSTER INSTANZ VOM 18. AUGUST 1995. - GIORGIO BERNARDI GEGEN EUROPAEISCHES PARLAMENT. - EUROPAEISCHER BUERGERBEAUFTRAGTER - BEWERBUNG - ERNENNUNGSVERFAHREN - AUSSETZUNG. - RECHTSSACHE T-146/95 R.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

1 Der Antragsteller hat mit Klageschrift, die am 2. Juli 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, eine Klage erhoben, die die Nummer C-228/95 erhalten hat und die darauf abzielt, mehrere Rechtsakte für nichtig zu erklären, die das Europäische Parlament zur Durchführung von Artikel 138e des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (im folgenden: EG-Vertrag) erlassen hat, und zwar insbesondere Artikel 159 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments in der Fassung vom 16. Mai 1995, die am 23. Mai 1995 veröffentlichte Bekanntmachung des "Aufrufs zur Einreichung von Bewerbungen im Hinblick auf die Ernennung des Europäischen Bürgerbeauftragten" (ABl. C 127, S. 4; im folgenden: Aufruf zur Einreichung von Bewerbungen) und die übrigen mit dem Verfahren zur Prüfung der Bewerbungen um die Stelle des Europäischen Bürgerbeauftragten zusammenhängenden nachfolgenden Rechtsakte, vor allem das Schreiben des Generalsekretärs des Parlaments vom 15. Juni 1995; die Klage zielt folglich auch darauf ab, das Verfahren zur Ernennung des Bürgerbeauftragten durch das Europäische Parlament wiederzueröffnen.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat der Antragsteller gemäß den Artikeln 186 EG-Vertrag und 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes einen Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt, der die Nummer C-228/95 R erhalten hat und mit dem der Erlaß einstweiliger Maßnahmen begehrt wird, die dahin gehen, das Verfahren zur Ernennung des Europäischen Bürgerbeauftragten auszusetzen und dem Europäischen Parlament folgendes aufzugeben: die Bewerbung des Antragstellers zusammen mit den Belegen und mit Kopien der Klage und des Antrags auf einstweilige Anordnung, gegebenenfalls übersetzt in die elf Amtssprachen, allen Mitgliedern des Europäischen Parlaments zur Kenntnis zu bringen, den Antragsteller vor der Abstimmung über die Ernennung des Bürgerbeauftragten anzuhören und schließlich ° wenn nötig ° die Frist für die Einreichung der Bewerbungen zu verlängern.

3 Durch Beschluß vom 11. Juli 1995 hat der Gerichtshof festgestellt, daß der Rechtsstreit in die Zuständigkeit des Gerichts fällt, und die beiden Rechtssachen gemäß Artikel 47 der EG-Satzung des Gerichtshofes an das Gericht verwiesen. Die Rechtssachen sind am 13. Juli 1995 unter den Nummern T-146/95 und T-146/95 R in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen worden.

4 Das Parlament hat am 19. Juli 1995 zum vorliegenden Antrag auf einstweilige Anordnung Stellung genommen.

5 Vor der Prüfung der Begründetheit des vorliegenden Antrags auf einstweilige Anordnung ist kurz auf den tatsächlichen Rahmen einzugehen, in den er sich nach den Schriftsätzen der Parteien einfügt.

6 Nach der Schaffung der Stelle des Europäischen Bürgerbeauftragten durch die Artikel 8d und 138e EG-Vertrag und die entsprechenden Bestimmungen des EGKS- und des Euratom-Vertrags leitete das Europäische Parlament im Juli 1994 ein erstes Verfahren zur Ernennung des Bürgerbeauftragten ein. Dieses Verfahren führte zu keinem Ergebnis. Nach einer Änderung der anwendbaren Vorschriften leitete das Europäische Parlament durch den am 23. Mai 1995 veröffentlichten Aufruf zur Einreichung von Bewerbungen ein neues Ernennungsverfahren ein. Gemäß dem geänderten Artikel 159 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments und dem einzigen Artikel des Aufrufs zur Einreichung von Bewerbungen mussten die Kandidaturen von mindestens 29 Mitgliedern des Parlaments aus mindestens zwei Mitgliedstaaten unterstützt werden und waren bis zum 16. Juni 1995 an den Präsidenten des Europäischen Parlaments zu richten.

7 Mit Schreiben vom 9. Juni 1995 an den Präsidenten des Europäischen Parlaments bewarb sich der Antragsteller um die Stelle des Europäischen Bürgerbeauftragten. Die Bewerbung enthielt keine Unterschrift von Mitgliedern des Europäischen Parlaments; ihr war ein Schreiben beigefügt, in dem der Antragsteller nach dem Hinweis darauf, daß er versucht habe, die erforderliche Unterstützung von 29 Parlamentariern zu erhalten, die Rechtmässigkeit einer solchen Voraussetzung anzweifelte und den Präsidenten des Europäischen Parlaments ersuchte, seine Bewerbung an die Mitglieder dieses Organs zu verteilen, damit diese ihn unterstützen könnten.

8 Mit Schreiben vom 15. Juni 1995 teilte der Generalsekretär des Europäischen Parlaments dem Antragsteller mit, daß seine Bewerbung in das Register eingetragen worden sei, daß die Kanzlei aber nicht berechtigt sei, durch die Verteilung des fraglichen Schriftstücks an die Mitglieder des Parlaments in das Ernennungsverfahren einzugreifen.

9 Am selben Tag übersandte der Antragsteller Kopien seiner Bewerbung an die Vorsitzenden der "Fraktionen des Europäischen Parlaments" und ersuchte sie, diese an die Mitglieder ihrer jeweiligen Fraktion weiterzuleiten, damit die fehlende Voraussetzung erfuellt werden könne. Dieses Schreiben blieb ohne Ergebnis.

10 Am 12. Juli 1995 wählte das Europäische Parlament in einer Plenartagung den Bürgerbeauftragten.

Entscheidungsgründe

11 Gemäß den Artikeln 185 und 186 EG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 4 des Beschlusses 88/591/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 319, S. 1) in der Fassung des Beschlusses 93/350/Euratom, EGKS, EWG des Rates vom 8. Juni 1993 (ABl. L 144, S. 21) kann das Gericht, wenn es dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

12 Nach Artikel 104 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts müssen Anträge auf einstweilige Anordnungen im Sinne der Artikel 185 und 186 des Vertrages die Umstände anführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen. Die beantragten Maßnahmen müssen eine einstweilige Regelung in dem Sinne darstellen, daß sie der Entscheidung zur Hauptsache nicht vorgreifen dürfen (vgl. Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 23. November 1994 in der Rechtssache T-356/94 R, Vecchi/Kommission, Slg. ÖD 1994, II-805, Randnr. 11).

Vorbringen der Parteien

13 Der Antragsteller beruft sich zur Glaubhaftmachung der Notwendigkeit der beantragten Anordnungen unter Bezugnahme auf seine Klage auf vier Gründe, und zwar erstens auf die Unzuständigkeit des Beamten, der über die Zulässigkeit der Bewerbungen "entschieden" habe, zweitens auf die Verletzung wesentlicher Formvorschriften, die sich u. a. aus dem Fehlen eines klaren und eindeutigen Verfahrens und insbesondere einer ordnungsgemässen Entscheidung über die Zulässigkeit der Bewerbungen ergebe, drittens auf die Unvereinbarkeit von Artikel 159 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments und des Aufrufs zur Einreichung von Bewerbungen mit dem EG-Vertrag und den Vorschriften zu seiner Durchführung und schließlich auf einen Ermessensmißbrauch, u. a. in Form eines Verfahrensmißbrauchs, der zum Ausschluß der Bewerbungen von Bürgern der Europäischen Union geführt habe, die die grösste Gewähr für die erforderliche Unabhängigkeit und Befähigung böten.

14 Zur Dringlichkeit der beantragten Maßnahme und der Gefahr, daß er einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden könnte, verweist der Antragsteller auf die Bedeutung der Person des Bürgerbeauftragten, das besondere Risiko, daß das vom Parlament angewandte Verfahren zu Fehlern bei der Auswahl der Bewerber führe, und das Fehlen einer gemeinschaftlichen Rechtsprechung zu dieser Frage.

15 Das Europäische Parlament macht geltend, der Antrag auf einstweilige Anordnung sei ihm erst am 18. Juli 1995 übermittelt worden, während der Bürgerbeauftragte schon am 12. Juli ernannt worden sei. Daher sei der Antrag auf einstweilige Anordnung, mit dem die Aussetzung des Verfahrens zur Ernennung des Bürgerbeauftragten begehrt werde, gegenstandslos geworden und habe sich somit erledigt.

Würdigung durch den Richter der einstweiligen Anordnung

16 Zunächst ist zum Vorbringen des Europäischen Parlaments Stellung zu nehmen, der vorliegende Antrag auf einstweilige Anordnung sei, da er ihm erst sechs Tage nach der Ernennung des Bürgerbeauftragten übermittelt worden sei, gegenstandslos geworden.

17 Insoweit ist festzustellen, daß dem Antragsteller, wie er selbst eingeräumt hat, das Schreiben des Generalsekretärs des Parlaments, mit dem dieser ihm mitteilte, daß die Kanzlei nicht berechtigt sei, seine Bewerbung an die Mitglieder des Parlaments zu verteilen, am 15. Juni 1995 zur Kenntnis gelangt ist. Die Klage von Herrn Bernardi ist beim Gericht, das für Rechtsstreitigkeiten zwischen einzelnen und den Gemeinschaftsorganen zuständig ist, aber erst am 13. Juli 1995 eingegangen. Für diese Verzögerung ist der Antragsteller verantwortlich, der, als er seine Klage an den Gerichtshof richtete, Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c des Beschlusses 88/591 vom 24. Oktober 1988 in der Fassung des Beschlusses 93/350 vom 8. Juni 1993 nicht beachtet und damit die Durchführung des in Artikel 47 Absatz 2 der EG-Satzung des Gerichtshofes vorgesehenen Verweisungsverfahrens erforderlich gemacht hat.

18 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß das Verfahren zur Ernennung und zum Amtsantritt des Europäischen Bürgerbeauftragten gemäß Artikel 159 Absatz 7 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mit der Vereidigung des ernannten Kandidaten durch den Gerichtshof endet und daß dieser Akt noch nicht stattgefunden hat. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, daß ein Antrag auf Aussetzung und sonstige einstweilige Anordnungen, wie ihn der Antragsteller eingereicht hat, sinnlos geworden ist und daher keinen Gegenstand mehr hat. Folglich ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für den Erlaß der beantragten Maßnahmen erfuellt sind.

19 Zur Voraussetzung der Dringlichkeit ist daran zu erinnern, daß der Richter der einstweiligen Anordnung nach ständiger Rechtsprechung bei der Beurteilung der Dringlichkeit der beantragten Maßnahmen zu prüfen hat, ob die Durchführung der streitigen Rechtsakte vor dem Erlaß einer Entscheidung zur Hauptsache für die Partei, die diese Maßnahmen beantragt hat, zu irreversiblen Schäden führen kann, die auch dann nicht wiedergutgemacht werden könnten, wenn die angefochtene Entscheidung vom Gericht für nichtig erklärt würde. Die beantragten Maßnahmen dürfen jedenfalls trotz ihres vorläufigen Charakters nicht ausser Verhältnis zum Interesse des Antragsgegners daran stehen, daß seine Rechtsakte durchgeführt werden, auch wenn sie Gegenstand einer Klage sind (vgl. Beschluß Vecchi/Kommission, a. a. O., Randnr. 17).

20 Sodann ist daran zu erinnern, daß nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung der Antragsteller dafür beweispflichtig ist, daß er den Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht abwarten kann, ohne Gefahr zu laufen, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu erleiden (vgl. Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 16. Februar 1995 in der Rechtssache T-5/95 R, Amicale des résidents du square d' Auvergne/Kommission, Slg. 1995, II-255, Randnr. 15).

21 Insoweit ist jedoch festzustellen, daß der Antragsteller, wie oben in Randnummer 14 ausgeführt, lediglich allgemeine Erwägungen über die Stelle des Bürgerbeauftragten anstellt, ohne irgendeinen für ihn persönlich geltenden Gesichtspunkt zu nennen, der der Ansatz eines Beweises dafür sein könnte, daß für ihn die Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens besteht. Es gibt insbesondere keinen Beleg dafür, daß das etwaige Interesse des Antragstellers daran, am Verfahren zur Ernennung des Europäischen Bürgerbeauftragten teilnehmen zu können, nicht angemessen im Rahmen der Durchführung eines Urteils geschützt werden könnte, mit dem das angefochtene Ernennungsverfahren gegebenenfalls für nichtig erklärt würde.

22 Darüber hinaus sind die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen; dabei ist festzustellen, daß eine etwaige Aussetzung des Ernennungsverfahrens für das öffentliche Interesse an der Schaffung der Stelle des Bürgerbeauftragten und am Amtsantritt des ersten Europäischen Bürgerbeauftragten einen Schaden darstellen würde, der ausser Verhältnis zum Individualinteresse des Antragstellers an der Nichtigerklärung dieses Verfahrens stuende, vor allem da seit der Eröffnung des vorangegangenen Ernennungsverfahrens mehr als ein Jahr verstrichen ist.

23 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die Voraussetzungen für den Erlaß der einstweiligen Anordnungen nicht erfuellt sind und daß der Antrag folglich zurückzuweisen ist, ohne daß geprüft zu werden braucht, ob die Gründe und Argumente des Antragstellers zur Stützung seines Antrags dem ersten Anschein nach stichhaltig sind.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

beschlossen:

1) Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 18. August 1995

Ende der Entscheidung

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