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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Beschluss verkündet am 12.05.1995
Aktenzeichen: T-79/95 R
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung Nr. 1017/68, EWR-Abkommen


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 85 Abs. 1
EWG-Vertrag Art. 185
EWG-Vertrag Art. 186
Verordnung Nr. 1017/68 Art. 2
EWR-Abkommen Art. 53 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Dringlichkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung bemisst sich nach der Notwendigkeit, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, damit der Antragsteller keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet. Die Partei, die die Aussetzung des Vollzugs einer Entscheidung beantragt, ist dafür beweispflichtig, daß sie die Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne einen Schaden zu erleiden, der schwere und nicht wiedergutzumachende Folgen hätte.

Beantragen Eisenbahnunternehmen die Aussetzung des Vollzugs einer Freistellungsentscheidung der Kommission nach Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages, soweit diese mit Bedingungen versehen ist, aufgrund deren sie bis zu einem Viertel ihrer Rechte aus der von der Kommission freigestellten Betriebsvereinbarung über den Kanaltunnel an Dritte abtreten müssen, so wäre nur eine zumindest vorhersehbare oder wahrscheinliche Existenz von an der Nutzung der Tunnelkapazität interessierten Drittunternehmen geeignet, die Gefahr des nach Darstellung der Antragsteller drohenden schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens zu konkretisieren. In einem solchen Fall kann die Aussetzung des Vollzugs nur angeordnet werden, wenn die Antragsteller vor dem Richter der einstweiligen Anordnung belegen könnten, daß die fragliche Abgabe von Kapazitäten ihnen die Erfuellung ihrer Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Tunnelnutzung sofort unmöglich machen würde oder daß sie im Fall ihres Obsiegens im Verfahren zur Hauptsache die zwischenzeitlich an Dritte abgegebene Kapazität von diesen nicht mehr zurückerlangen könnten. Solange sie diesen Nachweis nicht geführt haben, ist das von ihnen geltend gemachte Schadensrisiko zu ungewiß und zufallsbedingt, als daß es bei der vorzunehmenden Interessensabwägung das von der Kommission verfolgte Interesse an der Erhaltung eines echten Wettbewerbs und an der Beachtung des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit im Bereich des Eisenbahnverkehrs überwiegen könnte.


BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTS ERSTER INSTANZ VOM 12. MAI 1995. - SOCIETE NATIONALE DES CHEMINS DE FER FRANCAIS UND BRITISH RAILWAYS BOARD GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - WETTBEWERB - ARTIKEL 85 EG-VERTRAG - ARTIKEL 53 DES EWR-ABKOMMENS - EISENBAHNVERKEHR - AUSSETZUNG DES VOLLZUGS - EINSTWEILIGE ANORDNUNGEN. - RECHTSSACHEN T-79/95 R UND T-80/95 R.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

1 Die Société nationale des chemins de fer français (im folgenden: SNCF) hat mit Klageschrift, die am 7. März 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Entscheidung 94/894/EG der Kommission vom 13. Dezember 1994 in einem Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrages und Artikel 53 des EWR-Abkommens (IV/32.490 ° EUROTUNNEL) (ABl. L 354, S. 66) und, hilfsweise, auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung, soweit sie mit Bedingungen versehen ist (Artikel 2 Buchstabe A).

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am 20. März 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die SNCF weiterhin beantragt, den Vollzug des Artikels 2 Buchstabe A der angefochtenen Entscheidung auszusetzen.

3 Die British Railways Board (im folgenden: BR) hat mit Klageschrift, die am 8. März 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, gleichfalls gemäß Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der genannten Entscheidung und, hilfsweise, auf Nichtigerklärung ihres Artikels 2 Buchstabe A.

4 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die BR weiterhin beantragt, den Vollzug des Artikels 2 Buchstabe A der Entscheidung auszusetzen.

5 Die Kommission hat am 20. März 1995 eine schriftliche Stellungnahme zum Antrag auf einstweilige Anordnung in der Rechtssache T-80/95 R eingereicht. In der Rechtssache T-79/95 R hat sie ihre schriftliche Stellungnahme zum Antrag auf einstweilige Anordnung am 30. März 1995 eingereicht. Mit Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 31. März 1995 wurde der BR gestattet, in Erwiderung auf die Stellungnahme der Kommission weitere Beweisunterlagen zu den Akten zu reichen.

6 Die Parteien haben am 3. April 1995 mündliche Ausführungen gemacht. Bei dieser Anhörung wurde auch der SNCF und der Kommission die Einreichung einer Reihe von Schriftstücken gestattet. Der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung hat allen Beteiligten eine Frist bis zum 6. April 1995 gewährt, um zu dem neuen Sachvortrag der Gegenseite schriftlich Stellung zu nehmen. Die Antragstellerinnen und die Antragsgegnerin haben bei der Anhörung erklärt, sie hätten keine Einwände dagegen, daß über die in den beiden Verfahren der einstweiligen Anordnung gestellten übereinstimmenden Anträge durch einen einzigen Beschluß entschieden werde.

7 Vor Prüfung der Begründetheit der Anträge auf einstweilige Anordnung ist kurz der wesentliche Sachverhalt, der dem beim Gericht anhängigen Rechtsstreit zugrunde liegt, darzustellen, wie er sich aus den von den Parteien eingereichten Schriftsätzen und Schriftstücken sowie aus den mündlichen Darlegungen bei der Anhörung am 3. April 1995 ergibt.

8 Am 29. Juli 1987 schlossen die BR und die SNCF einerseits sowie die Gesellschaft englischen Rechts The Channel Tunnel Group Ltd und die Gesellschaft französischen Rechts France Manche SA (im folgenden gemeinsam als "Eurotunnel" bezeichnet) andererseits eine Betriebsvereinbarung für die unter dem Ärmelkanal gelegene feste Verkehrsverbindung zwischen dem Departement Pas-de-Calais in Frankreich und der Grafschaft Kent in England (im folgenden: Betriebsvereinbarung). Die Betriebsvereinbarung wurde im Rahmen und für die Geltungsdauer einer Konzession geschlossen, die dem Unternehmen Eurotunnel das Recht zur Planung und Finanzierung sowie zum Bau und Betrieb der festen Verkehrsverbindung ("Tunnel") einräumt und die ihm durch ein am 14. März 1986 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem Verkehrsminister des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und dem französischen Minister für Städtebau, Wohnungen und Verkehr verliehen wurde. Die ursprüngliche Geltungsdauer der Konzession von 55 Jahren wurde 1994 auf 65 Jahre verlängert.

9 Die Betriebsvereinbarung regelt im wesentlichen die zwischen Eurotunnel einerseits sowie der BR und der SNCF andererseits bestehenden Beziehungen und legt ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit dem Tunnelbetrieb fest. Sie bezieht sich auf die Umstände und Bedingungen, unter denen internationale Reise- und Güterzuege der BR und der SNCF den Tunnel benutzen können, sowie auf einen besonderen, von Eurotunnel betriebenen Shuttle-Dienst, mit dem verschiedene Arten von Kraftfahrzeugen und gegebenenfalls deren Insassen befördert werden. Nach Artikel 6.2 der Betriebsvereinbarung haben die BR und die SNCF jederzeit stundenweise und in jeder Richtung Anspruch auf 50 % der Tunnelkapazität. Die übrige Tunnelkapazität, die in Standard-Fahrplantrassen pro Stunde gemessen wird, verbleibt in der Verfügung des Unternehmens Eurotunnel, das die Infrastruktur betreibt. Für die Benutzung des Tunnels zahlen die BR und die SCNF an Eurotunnel degressiv bemessene Benutzungsgebühren, die aus einem während der ersten zwölf Betriebsjahre zahlbaren Festbetrag und einem ° nach Maßgabe des tatsächlichen Verkehrsumfangs ° partiell variablen Betrag bestehen. Gemäß Artikel 10 der Betriebsvereinbarung haben sie Eurotunnel weiterhin einen Teil der im Anhang V der Vereinbarung beschriebenen Betriebskosten für den Betrieb des Tunnels zu erstatten. Die Eisenbahnunternehmen haben sich ausserdem zu erheblichen Investitionen verpflichtet, mit denen die für den Tunnelbetrieb notwendigen Anpassungen ihrer jeweiligen Bahn-Infrastruktur realisiert und die für diesen Betrieb geeigneten speziellen Schienenfahrzeuge bereitgestellt werden sollen.

10 In Absprache mit der BR und der SNCF meldete Eurotunnel die Betriebsvereinbarung am 2. November 1987 bei der Kommission an, um eine Freistellung von Artikel 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1017/68 des Rates vom 19. Juli 1968 über die Anwendung von Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Strassen- und Binnenschiffsverkehrs (ABl. L 175, S. 1) zu erwirken. Nach Durchführung des Verfahrens gemäß Artikel 12 Absätze 2 und 3 dieser Verordnung gewährte die Kommission für die Betriebsvereinbarung eine Freistellung für drei Jahre bis zum 15. November 1991.

11 Auf den Antrag von Eurotunnel hin, die Freistellung zu verlängern, und nach Veröffentlichung einer Mitteilung gemäß Artikel 19 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), und Artikel 26 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1017/68 im Amtsblatt vom 30. Juli 1994 (ABl. C 210, S. 15) erließ die Kommission am 13. Dezember 1994 die angefochtene Entscheidung. Mit dieser werden Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag, Artikel 2 der Verordnung Nr. 1017/68 und Artikel 53 Absatz 1 des EWR-Abkommens auf die Betriebsvereinbarung für die Dauer von 30 Jahren, beginnend am 16. November 1991, für nicht anwendbar erklärt. Diese Freistellung ist mit Bedingungen und Auflagen versehen. Bei ersteren handelt es sich um die in Artikel 2 Buchstabe A der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Bedingungen, die Gegenstand der vorliegenden Anträge auf Aussetzung des Vollzugs sind.

12 Die streitigen Bedingungen lauten:

"a) Nach Artikel 6 Absatz 2 der Betriebsvereinbarung können BR und SNCF dem Tunnelbetreiber nicht verwehren, anderen Bahnunternehmen Fahrplantrassen für internationale Reise- und Güterzuege zu verkaufen.

b) BR und SNCF müssen jedoch während eines Zeitraums, der am 31. Dezember 2006 endet, über Fahrplantrassen für einen angemessenen Betrieb, also bis zu 75 % der Tunnelkapazität stuendlich und in jeder Richtung verfügen können. Diese Kapazität ist internationalen Reise- und Güterzuegen vorbehalten, die von den Bahnunternehmen selbst oder über Tochtergesellschaften eingesetzt werden.

c) Die anderen Eisenbahnunternehmen und internationale Gruppierungen von Eisenbahnunternehmen müssen während des Zeitraums gemäß Buchstabe b) die Möglichkeit haben, mindestens 25 % der Tunnelkapazität stuendlich und in beiden Richtungen für den Einsatz internationaler Reise- und Güterzuege zu nutzen.

d) Mit den Bedingungen der Buchstaben b) und c) darf nicht verhindert werden, daß BR und SNCF während des Zeitraums gemäß Buchstabe b) mehr als 75 % der Stundenkapazität nutzen, wenn die anderen Eisenbahnunternehmen nicht 25 % der restlichen Kapazität nutzen.

e) Mit den Bedingungen der Buchstaben b) und c) darf auch nicht verhindert werden, daß die anderen Eisenbahnunternehmen während des Zeitraums gemäß Buchstabe b) mehr als 25 % der Stundenkapazität nutzen, wenn BR und SNCF nicht 75 % der ihnen vorbehaltenen Kapazität nutzen.

f) BR und SNCF behalten jedoch auch bei einer Anpassung das Recht, während des Zeitraums gemäß Buchstabe b) bei Bedarf bis zu 75 % der für internationale Zuege vorbehaltenen Fahrplantrassen zu nutzen, ebenso wie die anderen Eisenbahnunternehmen ihre Nutzungsrechte für bis zu 25 % der Kapazität behalten.

g) Der Vorbehaltsanteil von BR und SNCF wird von der Kommission vor dem 31. Dezember 2006 erneut geprüft."

Entscheidungsgründe

13 Nach den Artikeln 185 und 186 EG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 4 des Beschlusses 88/591/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 319, S. 1) in der Fassung des Beschlusses 93/350/Euratom, EGKS, EWG des Rates vom 8. Juni 1993 (ABl. L 144, S. 21) kann das Gericht, wenn es dies den Umständen nach für nötig hält, den Vollzug der angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

14 Nach Artikel 104 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts müssen Anträge auf einstweilige Anordnungen im Sinne der Artikel 185 und 186 EG-Vertrag die Umstände anführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen. Die beantragten Maßnahmen müssen in dem Sinn vorläufig sein, daß sie die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen (vgl. zuletzt Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 26. Oktober 1994 in den Rechtssachen T-231/94 R, T-232/94 R und T-234/94 R, Transacciones Marítimas SA u. a., Slg. 1994, II-885, Randnr. 20).

Vorbringen der Parteien

15 Zur Glaubhaftmachung der Notwendigkeit, den Vollzug der streitigen Bedingungen auszusetzen, machen die Antragstellerinnen in erster Linie geltend, daß sich die Kommission auf eine verfehlte rechtliche Beurteilung des Zwecks und der Wirkungen der Betriebsvereinbarung gestützt habe. Die Festsetzung der fraglichen Bedingungen sei daher nach den anwendbaren Wettbewerbsregeln nicht gerechtfertigt. Die angefochtene Entscheidung sei somit wegen Verstosses gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages, gegen Artikel 2 der Verordnung Nr. 1017/68 und gegen Artikel 53 Absatz 1 des EWR-Abkommens rechtswidrig. Bei richtiger Auslegung der Betriebsvereinbarung und Berücksichtigung ihrer wettbewerbsfördernden Wirkungen seien eine Erklärung der Unanwendbarkeit des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages oder zumindest eine uneingeschränkte Anwendung seines Absatzes 3 gerechtfertigt. Die BR erinnert daran, daß die Kommission die Betriebsvereinbarung ohne Festsetzung von Bedingungen für einen Zeitraum von drei Jahren bis zum 15. November 1991 freigestellt habe und daß die Entscheidung keine wesentliche Änderung der Sachlage seit Gewährung dieser Freistellung erkennen lasse.

16 Entgegen der Ansicht der Kommission werde mit der Betriebsvereinbarung eine Aufteilung des Marktes zwischen dem von Eurotunnel betriebenen Shuttle einerseits und dem von der BR und der SNCF betriebenen Personen- und Güterverkehr mit der Bahn andererseits weder bezweckt noch bewirkt. Eurotunnel sei nicht daran gehindert, den in seiner Verfügung verbleibenden Teil der Tunnelkapazität für einen internationalen Personen- und Güter-Bahnverkehr zu nutzen. Ebensowenig seien die BR und die SNCF durch die Betriebsvereinbarung am Angebot von Shuttle-Diensten gehindert, da sich keine der Parteien hinsichtlich der Art der Nutzung der ihnen zustehenden Tunnelkapazität vertraglichen Beschränkungen unterworfen habe. Die SNCF weist darauf hin, daß die Kommission diese Gesichtspunkte in den Randnummern 75 bis 79 der Entscheidung anzuerkennen scheine, ohne jedoch die gebotenen Schlüsse hieraus zu ziehen. Die Antragstellerinnen verweisen weiter darauf, daß die Vereinbarung den Zugang Dritter zur Nutzung eines Teils der Tunnelkapazität nicht ausschließe. Diese Kapazität könne anderen Eisenbahnunternehmen in Einklang mit Artikel 10 der Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. L 237, S. 25) von Eurotunnel zur Verfügung gestellt werden. Wenn das Unternehmen Eurotunnel den ihm zustehenden Kapazitätsanteil von 50 % vollständig ausgeschöpft habe, könne es unter Berufung auf die in Artikel 6.2 der Betriebsvereinbarung enthaltene Klausel einen Teil der der BR und der SNCF zugeteilten Kapazität in Anspruch nehmen. Nach dieser Bestimmung dürften die BR und die SNCF den Verzicht auf einen Teil ihrer Rechte nicht ungerechtfertigt ablehnen. Soweit mit den festgesetzten Bedingungen das Recht dritter Eisenbahnunternehmen auf Nutzung eines Teils der Tunnelkapazität gesichert werden solle, seien sie überfluessig.

17 Die Antragstellerinnen machen zweitens geltend, die Kommission habe im vorliegenden Fall die ihr durch Artikel 8 der Verordnung Nr. 17 und durch Artikel 13 der Verordnung Nr. 1017/68 verliehene Befugnis überschritten, eine Freistellung mit Bedingungen zu verbinden. Die SNCF führt aus, durch die streitigen Bedingungen werde das vertragliche Gleichgewicht der Betriebsvereinbarung zerstört, das darin bestehe, daß die SNCF und die BR als Gegenleistung für die Verfügbarkeit von 50 % der Tunnelkapazität ihrerseits erhebliche finanzielle Verpflichtungen und Investitionen für die Realisierung des Vorhabens übernähmen. Indem die Kommission allein die Antragstellerinnen zur Abtretung eines Teils ihrer Rechte aus der Betriebsvereinbarung verpflichte, verschaffe sie Eurotunnel eine doppelte Gegenleistung für den Dritten vorbehaltenen Teil der Stundenkapazität des Tunnels: ein erstes Mal durch die von der SNCF und der BR zu tragenden Festkosten und Investitionen und ein zweites Mal durch die Gebührenzahlungen Dritter. Die BR macht darüber hinaus geltend, durch die Auferlegung der streitigen Bedingungen würden die Verpflichtungen, die Eurotunnel als Betreiber der Infrastruktur im Sinne der Richtlinie 91/440 oblägen, auf die Antragstellerinnen ausgeweitet; zudem habe die Kommission von ihren Befugnissen in einer Weise Gebrauch gemacht, die mit dieser Richtlinie, namentlich den darin den Mitgliedstaaten verliehenen Zuständigkeiten, unvereinbar sei. Nach Auffassung der BR sind die festgesetzten Bedingungen daher sowohl diskriminierend als auch rechtswidrig.

18 Drittens tragen die Antragstellerinnen vor, die angefochtene Entscheidung verletze die Grundsätze der Verhältnismässigkeit, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. Die SNCF führt aus, die streitigen Bedingungen wirkten sich dahin aus, daß den Antragstellerinnen rückwirkend ein Viertel der Rechte, die sie nach der Betriebsvereinbarung erworben hätten, genommen werde, während sie weiter ihren vollen Beitrag zur Entwicklung der in Frage stehenden neuen Verkehrsdienste leisteten. Die BR macht geltend, daß die Bedingungen gemessen an den von der Kommission behaupteten Wettbewerbsbeschränkungen unverhältnismässig seien und daß die Modalitäten für die praktische Durchführung der den Antragstellerinnen auferlegten Verpflichtungen vage und unklar seien.

19 Schließlich machen die Antragstellerinnen zur Begründung ihrer Klagen weitere Klagegründe geltend, mit denen sie eine Verletzung der Begründungspflicht, der Rechte der Verteidigung und des Grundsatzes der ordnungsgemässen Verwaltung durch die Kommission rügen.

20 Zur Dringlichkeit führen die Antragstellerinnen im wesentlichen aus, angesichts der Verkehrsleistungen, die sie gegenwärtig erbrächten, sowie derjenigen, die sie für die nahe Zukunft planten, seien sie vom Sommer 1996 an in der Lage, die ihnen durch die Betriebsvereinbarung zugeteilten Standard-Fahrplantrassen während bestimmter Tages- und Nachtstunden vollständig zu nutzen und damit die ihnen durch die streitigen Bedingungen auferlegte Begrenzung auf 37,5 % der Kapazität pro Stunde in beiden Richtungen zu überschreiten. In der Anhörung vom 3. April 1995 haben die Antragstellerinnen auf der Grundlage von Verkehrsprognosen für die nächsten drei Sommer, die sowohl die Verkehrsdienste von Eurotunnel als auch die der BR und der SNCF erfassen, eine Reihe von Argumenten vorgetragen, die auf eine Widerlegung des Vorbringens der Kommission zielen, wonach die streitige Begrenzung in Anbetracht des Umstandes gerechtfertigt sei, daß die Antragstellerinnen in den nächsten zwölf Jahren lediglich 75 % der ihnen zur Verfügung stehenden Tunnelkapazität in Anspruch zu nehmen planten.

21 Nach Auffassung der Antragstellerinnen ist es wichtig, zwischen Stunden- und Tageskapazität zu unterscheiden, da die Standard-Fahrplantrassen je nach Tages- oder Nachtstunde einen unterschiedlichen kommerziellen Wert hätten. Die Prognosen der SNCF und der BR, auf die sich die Kommission bei der Festlegung der streitigen Bedingungen gestützt habe, beträfen die Tageskapazität, wie aus dem Schreiben der SNCF an die Kommission und den Anlagen zu diesem Schreiben sowie aus der Stellungnahme der BR vor dem Erlaß der angefochtenen Entscheidung hervorgehe. Dagegen beziehe sich die den Antragstellerinnen von der Kommission auferlegte Begrenzung auf die Stundenkapazität des Tunnels in beiden Richtungen. Aus dem von ihnen vorgelegten Beweismaterial ergebe sich jedoch, daß zwar gegenwärtig, gemessen am Bedarf der Antragstellerinnen und von Eurotunnel, ein Überschuß bei der Gesamt- oder Tageskapazität bestehe, daß aber die BR und die SNCF kurzfristig während bestimmter Tages- und Nachtstunden entweder die gesamte für sie verfügbare Kapazität oder jedenfalls mehr als 75 % dieser Kapazität in Anspruch nehmen würden, um ihre eigenen Verkehrsleistungen zu erbringen und um ihre vertraglichen Pflichten gegenüber Dritten zu erfuellen. Wegen der Kapazitätseinschränkungen, die die Unterhaltungsarbeiten am Tunnel mit sich brächten, sei insbesondere für bestimmte Nachtstunden ein Mangel an Fahrplantrassen voraussehbar. Insoweit machen die Antragstellerinnen geltend, sie besässen keine Garantie dafür, daß die gegenwärtig siebenstuendige Dauer der Unterhaltungsarbeiten in naher Zukunft auf die in der Betriebsvereinbarung vorgesehenen vier Stunden gesenkt werde. Sie weisen das Vorbringen der Kommission zurück, wonach sie ihre Verkehrsdienste so reorganisieren könnten, daß sie unterhalb der festgesetzten Schwelle für die Nutzung blieben; ihre Fahrpläne seien Ergebnis umfassender, Jahre im voraus stattfindender Planungen, mit denen dem speziellen Bedarf ihrer Kunden, insbesondere der Nachfrage im internationalen Güterverkehr, Rechnung getragen werde und die zudem mit der Nutzung aller mit dem Tunnel verbundenen Streckennetze vereinbar sein müssten. Hinzu komme, daß ein grosser Teil der Eurotunnel vorbehaltenen Fahrplantrassen ungenutzt bleiben werde, während sie verpflichtet wären, einen Teil ihrer für die angemessene Erbringung von Verkehrsleistungen erforderlichen Kapazität für Dritte zu opfern.

22 Die Antragstellerinnen tragen weiter vor, daß ihnen infolge der streitigen Bedingungen ein schwerer und nach seiner Art voraussichtlich nicht wiedergutzumachender Schaden entstehe. Erstens müssten sie weiterhin ihren Verpflichtungen nachkommen, die Fest- und Grundgebühren zu zahlen sowie die Investitionen in die Infrastruktur und für die Schienenfahrzeuge zu erbringen, wofür als Gegenleistung das Recht zur Nutzung von 50 % der Tunnelkapazität ausgehandelt worden sei, während ihnen nur 37,5 % dieser Kapazität zur Verfügung stuenden und sie so daran gehindert seien, ihre Investitionen zu rentabilisieren. Zweitens sei die Erfuellung bestimmter bereits eingegangener Verpflichtungen gegenüber Dritten gefährdet, was für sie, abgesehen von der Rechtsunsicherheit für den Abschluß neuer Verträge, ebenfalls mit erheblichen finanziellen Folgen verbunden wäre. Schließlich tendiere die Marktsituation, die durch die Anwendung der streitigen Bedingungen geschaffen würde, zur Unumkehrbarkeit. Würden diese Bedingungen nämlich durch das Gericht für nichtig erklärt, so könnten sich dritte Eisenbahnunternehmen auf wohlerworbene Rechte und vor dem Erlaß des Urteils erbrachte Investitionen berufen, um den von ihnen zwischenzeitlich erworbenen Anteil an der Tunnelkapazität nicht an die Antragstellerinnen zurückgeben zu müssen.

23 Die Antragstellerinnen machen schließlich geltend, die Abwägung der beteiligten Interessen rechtfertige die beantragte Aussetzung des Vollzugs, denn die streitigen Bedingungen seien für den Schutz der Interessen der anderen Eisenbahnunternehmen nicht erforderlich. Etwaige interessierte Dritte, deren Existenz die Kommission im übrigen nicht nachgewiesen habe, könnten nämlich über den in Artikel 10 der Richtlinie 91/440 vorgesehenen Verfahrensweg Rechte zur Benutzung des Tunnels unmittelbar vom Betreiber der Infrastruktur, d. h. Eurotunnel, erlangen. Da es gegenwärtig keine Dritten gebe, die Nutzungsrechte erwerben wollten, sei auch nicht nachgewiesen, daß die unmittelbare Anwendung der Bedingungen im gemeinschaftlichen Allgemeininteresse liege. Ausserdem erlaubten es der Kommission bereits die ebenfalls in der Entscheidung vorgesehenen Auflagen, die Lage in angemessener Weise zu überwachen und tätig zu werden, falls sich die Ausübung der den Antragstellerinnen in der Betriebsvereinbarung eingeräumten Rechte als mit den gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln unvereinbar erweise.

24 Nach Auffassung der Kommission sind die für den Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben.

25 Hinsichtlich der Glaubhaftmachung, daß die beantragte Anordnung notwendig sei, weist sie darauf hin, daß die von den Antragstellerinnen vorgenommene Auslegung der Betriebsvereinbarung im Widerspruch zu der Auslegung zu stehen scheine, die in der förmlichen Anmeldung dieser Vereinbarung bei der Kommission vom 10. November 1987 vertreten worden sei. Dort hätten die Parteien ausgeführt, mit der Vereinbarung solle eine faire und realistische Aufteilung der Tunnelbenutzung zwischen dem Markt des Reise- und Güterverkehrs mit Zuegen auf der einen Seite und dem Markt des Autotransports mit einem speziellen Shuttle-Dienst auf der anderen Seite erreicht werden. Jedenfalls widerspreche die Auslegung des Artikels 6.2 durch die Antragstellerinnen ihrem Vorbringen, daß durch die streitigen Bedingungen eine Aufhebung des vertraglichen Gleichgewichts bewirkt werde, denn sie machten geltend, daß in diesem Artikel die Abtretung eines Teils ihrer Rechte zugunsten anderer Eisenbahnunternehmen bereits vorgesehen sei. Es sei daher unbegründet, wenn die Antragstellerinnen vortrügen, dadurch, daß ein Teil der für sie gegenwärtig verfügbaren Kapazität möglicherweise durch Dritte genutzt würde, würde die wirtschaftliche und finanzielle Lebensfähigkeit des Vorhabens gefährdet.

26 Die Antragsgegnerin führt weiter aus, daß seit der Gewährung der ersten Freistellung für die Betriebsvereinbarung eine grundsätzliche Änderung eingetreten sei, und zwar durch den Erlaß der Richtlinie 91/440. Mit dieser Richtlinie sei für den Eisenbahnverkehr ein völlig neuer rechtlicher und praktischer Rahmen geschaffen worden, der einen ersten Schritt zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit in diesem Bereich darstelle, da er bestimmten Gruppen von Leistungserbringern den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur sichere. Die Festlegung der streitigen Bedingungen werde durch das Bestreben gerechtfertigt, die Interessen Dritter zu schützen und der Richtlinie 91/440 volle Wirksamkeit zu verleihen, nachdem die Betriebsvereinbarung in dem vorher bestehenden Rahmen, für den die Monopolstellung der Eisenbahnunternehmen in ihrem jeweiligen Streckennetz kennzeichnend gewesen sei, ausgehandelt und abgeschlossen worden sei.

27 Zu der ihr zur Last gelegten Überschreitung ihrer Befugnisse verweist die Kommission zunächst darauf, daß sie dem Bedarf der Antragstellerinnen für die nächsten zwölf Jahre, wie er sich aus den von diesen selbst vorgelegten Prognosen ergebe, voll Rechnung getragen habe. Was weiterhin die von den Antragstellerinnen aufgeworfene Frage der von Eurotunnel bezogenen doppelten Gegenleistung angehe, so hänge sie von den vertraglichen Beziehungen zwischen den Beteiligten ab und hätte vorausgesehen werden müssen, da die BR und die SNCF der möglichen Rückübertragung eines Teils ihrer Rechte aus der Betriebsvereinbarung zugestimmt hätten. Im übrigen hätten die Vertreter von Eurotunnel der Kommission mitgeteilt, daß sie für den Fall einer Inanspruchnahme eines Teils der fraglichen Kapazität durch andere Unternehmen eine Ausgleichsregelung vorsähen. Bei der Anhörung vom 3. April 1995 hat die Kommission schließlich ausgeführt, daß sie die streitigen Bedingungen nicht zu Lasten von Eurotunnel habe festsetzen können, weil die Wettbewerbsbeschränkung, wie sie sich bei der Prüfung im Hinblick auf Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag ergeben habe, darin liege, daß 50 % der Tunnelkapazität für die Dauer von 65 Jahren den Antragstellerinnen zur ausschließlichen Verfügung überlassen worden seien. Der Umstand, daß sich der Betreiber der Infrastruktur den von ihm nicht abgegebenen Kapazitätsanteil vorbehalten habe, stelle keine Wettbewerbsbeschränkung dar; dies entbinde ihn indessen weder von seinen Verpflichtungen nach der Richtlinie 91/440, noch entziehe es ihn der Anwendung des Artikels 86 EG-Vertrag.

28 Auf die in der Anhörung gestellten Fragen hin hat die Antragsgegnerin weiter erläutert, daß sich die der BR und der SNCF auferlegte Begrenzung hinsichtlich der Stunden- und nicht der Tageskapazität des Tunnels zum einen durch einen logischen Zusammenhang mit dem Wortlaut der Betriebsvereinbarung, die sich auf 50 % der Tunnelkapazität pro Stunde und in beiden Richtungen beziehe, und zum anderen durch das Bestreben rechtfertige, zugunsten dritter Eisenbahnunternehmen zu gewährleisten, daß diese nicht nur zu den kommerziell am wenigsten interessanten Fahrplantrassen Zugang hätten. Die Kommission hat gegenüber dem Gericht ferner bestätigt, daß ihr bislang kein Drittunternehmen bekannt sei, das einen Teil der fraglichen Kapazität zu erwerben wünsche.

29 Zu der Frage, ob die Dringlichkeit begründende Umstände vorliegen, führt die Kommission aus, die Antragstellerinnen hätten nicht nachgewiesen, daß sie nicht den Ausgang des Hauptverfahrens abwarten könnten, ohne einen Schaden zu erleiden, der mit schweren und nicht wiedergutzumachenden Folgen verbunden wäre.

30 Die Kommission tritt erstens dem von den Antragstellerinnen aus den vorgelegten neuen Verkehrsprognosen gezogenen Schluß entgegen, daß in den nächsten drei Jahren ein Mangel an Fahrplantrassen zu befürchten sei. Bestimmte dieser Schätzungen würden von Eurotunnel nicht bestätigt, und allgemein hätten die Antragstellerinnen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit verkehrende Zugkombinationen zugrunde gelegt, durch die ein Maximum an Fahrplantrassen in Anspruch genommen werde. Durch die voraussehbaren Fortschritte im Bereich einer rationellen und optimalen Organisation der Tunnelnutzung sowie die Einführung modernerer, von der BR und der SNCF bereits bestellter Lokomotiven werde jedoch eine geringere Inanspruchnahme von Fahrplantrassen bewirkt und so die Gefahr einer Überlastung des Tunnels während bestimmter Tages- oder Nachtstunden vermieden werden. Im übrigen sei daran festzuhalten, daß den Antragstellerinnen die Möglichkeit offenstehe, für bestimmte ihrer Güterzuege die Fahrtzeiten zu verlegen, da die Pünktlichkeit bei dieser Art von Zuegen für die Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehungen zu den Verladern kein zwingendes Gebot sei, wie die seit Inbetriebnahme des Tunnels häufigen Verspätungen und die von der SNCF und der BR akzeptierten Fahrplanverschiebungen zeigten.

31 Zweitens weist die Kommission darauf hin, daß die streitigen Bedingungen insofern eine flexible Anwendung zuließen, als die festgelegten Kapazitätsschwellen nicht zwingend seien, sondern dem Bedarf der Betreiber angepasst werden könnten. Nach den in der Anhörung gegebenen Erläuterungen besteht diese Flexibilität zum einen im Verhältnis zwischen Eurotunnel und den Antragstellerinnen und zum anderen aufgrund der für die BR und die SNCF gegebenen Möglichkeit, die Grenze von 75 % zu überschreiten, soweit es nicht andere Unternehmen gebe, die zu einer Nutzung der restlichen 25 % der Reise- und Güterzuegen vorbehaltenen Kapazität in der Lage seien. Eine maximale Nutzung der Gesamtkapazität des Tunnels stelle das wirtschaftliche Hauptinteresse des Betreibers der Infrastruktur dar, der, wie aus der Randnummer 116 der angefochtenen Entscheidung hervorgehe, die Verteilung der verfügbaren Fahrplantrassen so rationell wie möglich organisieren könne. Die Nutzung des Tunnels durch Dritte beeinträchtige auch nicht die finanziellen Interessen der Antragstellerinnen, da mit ihr eine Senkung der gemäß Anhang VII der Betriebsvereinbarung an Eurotunnel zu zahlenden Gebühren erreicht werden könne.

32 Nach Auffassung der Antragsgegnerin sind schließlich auch die weiteren von den Antragstellerinnen zum Beleg eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens vorgetragenen Argumente nicht überzeugend. Dies gelte für die angebliche Aufrechterhaltung ihrer finanziellen Verpflichtungen gegenüber Eurotunnel, während ihnen nur noch ein Teil der ausgehandelten Kapazität zur Verfügung stehe, und für die mögliche Gefahr des Bruchs von Frachtverträgen. Der geltend gemachte Schaden sei allenfalls ein künftiger, sein Eintreten sei ungewiß und zufällig, und er vermöge nicht die Existenz von Eisenbahnunternehmen von der Grösse der BR und der SNCF zu gefährden.

33 Zur Interessenabwägung macht die Kommission geltend, daß die streitigen Bedingungen unerläßlich seien, um dritten Eisenbahnunternehmen den Zugang zu dem fraglichen Markt zu eröffnen. Dem öffentlichen Interesse an der Erhaltung eines echten Wettbewerbs und an der Beachtung des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Eisenbahn sei grösseres Gewicht beizumessen als dem von den Antragstellerinnen behaupteten Schadensrisiko. Eine Aussetzung der Bedingungen würde nicht nur die Benutzung des Tunnels durch Dritte um mehrere Jahre verzögern, sondern ließe den Antragstellerinnen zudem Zeit für die Festigung ihrer Stellung auf dem fraglichen Markt. Angesichts des Umfangs der für die Nutzung des Tunnels erforderlichen Investitionen würde der Zugang Dritter zu dem Markt durch die Unsicherheit über die Rechtslage und die von der BR und der SNCF zwischenzeitlich erworbene Stellung noch mehr erschwert werden.

Würdigung durch den Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung

34 Für die Prüfung, ob die Antragstellerinnen die Begründetheit ihrer Klagen glaubhaft gemacht haben, ist zunächst daran zu erinnern, daß sie im Rahmen der vorliegenden Verfahren der einstweiligen Anordnung lediglich die Aussetzung der Anwendung des Artikels 2 Buchstabe A der angefochtenen Entscheidung begehren. In dieser Bestimmung werden eine Reihe von Bedingungen aufgeführt, mit denen die von der Kommission gewährte Freistellung der Betriebsvereinbarung zwischen den Antragstellerinnen und Eurotunnel versehen ist. Die SNCF und die BR sind im wesentlichen der Auffassung, daß diese Bedingungen rechtswidrig seien und sie in ihren Interessen beeinträchtigten, weil sie zu einem Verzicht auf ein Viertel der ihnen durch die genannte Vereinbarung eingeräumten Nutzungsrechte am Tunnel zugunsten dritter Eisenbahnunternehmen verpflichtet würden.

35 Die Frage, ob die Kommission in Ausübung der ihr nach den anwendbaren Wettbewerbsregeln zustehenden Befugnisse zu dieser angeblichen Begrenzung der vertraglichen Rechte der Antragstellerinnen berechtigt war, ist schwierig und bedarf einer vertieften Prüfung im Verfahren zur Hauptsache. Der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung braucht die Rechtmässigkeit der streitigen Bedingungen unter diesen Umständen nicht näher zu prüfen, sondern hat zur Prüfung der Frage überzugehen, ob die für den Erlaß der von den Antragstellerinnen begehrten einstweiligen Anordnung erforderliche Dringlichkeit besteht.

36 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. Beschluß in der Rechtssache Transacciones Marítimas u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 41) bemisst sich die Dringlichkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung nach der Notwendigkeit, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, damit der Antragsteller keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet. Die Partei, die die Aussetzung des Vollzugs einer angefochtenen Entscheidung beantragt, ist dafür beweispflichtig, daß sie die Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne einen Schaden zu erleiden, der schwere und nicht wiedergutzumachende Folgen hätte.

37 Die Antragstellerinnen stützen sich für ihr Vorbringen, die Dringlichkeit begründende Umstände lägen vor, auf eine Auslegung der streitigen Bedingungen, die für sie besonders nachteilig ist und deren Richtigkeit von der Kommission bestritten wird. Die Antragsgegnerin hat gegenüber dem Gericht insoweit auf die Flexibilität der festgelegten Bedingungen verwiesen, wobei sie insbesondere auf die Randnummer 116 der Entscheidung und auf das im Wortlaut des Artikels 2 Buchstabe A selbst hervorgehobene Ziel, der BR und der SNCF einen angemessenen Betrieb zu ermöglichen, Bezug genommen hat. Weiterhin ergibt sich aus den Akten, daß, sieht man von den Prognosen der Antragstellerinnen für den Verkehr zu bestimmten Tages- und Nachtstunden mit Spitzenbelastung ab, ein beträchtlicher Teil der verfügbaren Fahrplantrassen von der BR und der SNCF noch nicht genutzt wird und auch kurzfristig nicht genutzt werden wird. Gleichwohl vertreten die Antragstellerinnen die Auffassung, daß die Anwendung der Grenze von 75 % der gegenwärtig internationalen Zuegen vorbehaltenen Stundenkapazität des Tunnels in beiden Richtungen bereits jetzt mit den Verkehrsleistungen unvereinbar sei, deren Erbringung sie vom Sommer 1996 an vorsähen.

38 Zwar erscheint die in der vorstehenden Randnummer angesprochene flexible Formulierung der streitigen Bedingungen, nach der die BR und die SNCF "mehr als 75 % der Stundenkapazität nutzen" können, "wenn die anderen Eisenbahnunternehmen nicht 25 % der restlichen Kapazität nutzen", nicht zur Vermeidung jedes ernsten Nachteils für die Antragstellerinnen geeignet, da sie eine Ungewißheit über Umfang und Dauer der ihnen eingeräumten Nutzungsrechte schafft. Insoweit kann der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung weder das Vorbringen der BR und der SNCF, daß für den Zugverkehr durch den Tunnel eine umfassende und langfristige Planung erforderlich sei, noch die weiteren Umstände ausser acht lassen, daß die mit Dritten geschlossenen Frachtverträge in der Regel eine Laufzeit zwischen drei und fünf Jahren haben und daß die Einhaltung einer sich auf die Stundenkapazität beziehenden Nutzungsgrenze die Antragstellerinnen in ihrer Flexibilität stärker einschränkt als dies bei Auferlegung einer sich auf die Gesamt- oder Tageskapazität beziehenden Begrenzung der Fall wäre.

39 Die Kommission und die Antragstellerinnen haben jedoch eingeräumt, daß es nach ihrer Kenntnis keine Eisenbahnunternehmen gebe, die am Erwerb des Rechts auf Nutzung eines Teils der Tunnelkapazität interessiert seien. Die Kommission hat insoweit klargestellt, daß sie mit der Aufstellung der streitigen Bedingungen in der angefochtenen Entscheidung das Ziel verfolgt habe, die Möglichkeit des Wettbewerbs zu erhalten und die Dienstleistungsfreiheit in diesem Bereich zu verwirklichen.

40 Unter den hier gegebenen Umständen ist festzustellen, daß nur eine zumindest vorhersehbare oder wahrscheinliche Existenz von an der Nutzung der Tunnelkapazität interessierten Dritten geeignet wäre, die Gefahr des schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens, der nach Darstellung der Antragstellerinnen aus der sofortigen Geltung der in der Freistellungsentscheidung enthaltenen Bedingungen entstuende, zu konkretisieren. Die Antragstellerinnen haben jedoch nichts für die Konkretisierung der Gefahr vorbringen können, daß es kurzfristig zu einer Abtretung eines Teils der Stundenkapazität, die gemäß Artikel 2 Buchstabe A der Entscheidung Dritten vorbehalten sei, oder dieser Kapazität insgesamt an Dritte kommen und ihnen hieraus ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen werde.

41 Diese Feststellung wird auch dadurch bestätigt, daß die Antragstellerinnen selbst vorgetragen haben, die streitigen Bedingungen seien nicht erforderlich, weil es wegen des Fehlens Dritter, die an der Nutzung der Tunnelkapazität interessiert seien, keinen zu schützenden potentiellen Wettbewerb gebe.

42 Nach alledem ergibt die vom Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung vorzunehmende Abwägung der beteiligten Interessen, daß das von den Antragstellerinnen geltend gemachte Schadensrisiko zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu ungewiß und zufallsbedingt ist, als daß es die Interessen überwiegen könnte, die die Kommission mit der Festlegung der streitigen Bedingungen verfolgt, d. h. die Erhaltung eines echten Wettbewerbs und die Beachtung des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit im Bereich des Eisenbahnverkehrs. Die Anträge auf Aussetzung des Vollzugs dieser Bedingungen sind daher zurückzuweisen.

43 Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß ein Beschluß im Verfahren der einstweiligen Anordnung gemäß Artikel 108 der Verfahrensordnung jederzeit wegen veränderter Umstände abgeändert oder aufgehoben werden kann. Gegebenenfalls wird es Sache der Antragsteller sein, das Gericht anzurufen, wenn ihnen durch eine bevorstehende Vergabe von ihnen bereits genutzter Fahrplantrassen an dritte Eisenbahnunternehmen ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht. Sie müssten dann aber vor dem Richter der einstweiligen Anordnung belegen, daß die fragliche Abgabe von Kapazitäten ihnen die Erfuellung ihrer Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Tunnelnutzung, insbesondere die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung eines angemessenen Betriebs, sofort unmöglich machen würde oder daß sie im Fall ihres Obsiegens im Verfahren zur Hauptsache die zwischenzeitlich an Dritte abgegebene Kapazität von diesen nicht mehr zurückerlangen könnten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

beschlossen:

1) Die Anträge auf einstweilige Anordnung werden zurückgewiesen.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 12. Mai 1995

Ende der Entscheidung

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