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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 01.12.1999
Aktenzeichen: 1 Ws 932/99
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 55
StGB § 56a
StGB § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
StPO § 311 Abs. 2
StPO § 460
StPO § 467 Abs. 1
StGB §§ 55, 56a, 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1; StPO § 460

Die Aussetzung der Vollstreckung einer nachträglich durch Beschluß nach § 460 StPO verhängten Gesamtfreiheitsstrafe kann nur dann wegen erneuter Straffälligkeit des Verurteilten widerrufen werden, wenn die neue Straftat innerhalb der mit der Rechtskraft des Gesamtstrafenbeschlusses in Lauf gesetzten (neuen) Bewährungszeit begangen worden ist. Frühere, innerhalb der für die in die nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe einbezogenen Freiheitsstrafen bewilligten Bewährungszeiten verübte Straftaten reichen hierzu nicht aus.

OLG Düsseldorf, 1. Strafsenat, Beschluß vom 01.12.1999 - 1 Ws 932/99 -


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF

BESCHLUSS

1 Ws 932/99 97 VRs 1163/98 StA Wuppertal

In der Bewährungssache

gegen

wegen Diebstahls

hat der 1. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht S sowie die Richter am Oberlandesgericht H und S auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten gegen den Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Krefeld vom 21. September 1999 - 32 StVK 219/99 - nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft am 1. Dezember 1999 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.

Die Kosten der sofortigen Beschwerde und die der Verurteilten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin ist wie folgt rechtskräftig verurteilt worden:

- Vom Amtsgericht Wuppertal am 23. Juli 1997 - 8 Ds 32 Js 1259/97 - wegen eines am Vortage, dem 22. Juli 1997, begangenen Ladendiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, deren Vollstreckung auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde,

- vom Amtsgericht Wuppertal am 12. Dezember 1997 - 23 (21) Ds 32 Js 1710/97 - wegen eines am 10. Mai 1997 begangenen Ladendiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, deren Vollstreckung auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde, und

- vom Amtsgericht Düsseldorf am 16. November 1998 - 126 Ds 907 Js 889/98 - wegen eines am 5. Februar 1998 begangenen Ladendiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung. Diese Freiheitsstrafe hat die Beschwerdeführerin inzwischen restlos verbüßt.

Mit Beschluß vom 24. Juli 1998, rechtskräftig seit dem 11. August 1998, führte das Amtsgericht Wuppertal in dem Verfahren 25 (23) (21) Ds 32 Js 1710/97 die Einzelfreiheitsstrafen aus den Entscheidungen vom 23. Juli und 12. Dezember 1997 im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 460 StPO auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten zurück, deren Vollstreckung es bis zum 11. Dezember 2000 zur Bewährung aussetzte.

Durch den angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungskammer im Hinblick auf die dem Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 16. November 1998 zugrunde liegenden Tat vom 5. Februar 1998 die der Probandin durch Gesamtstrafenbeschluß des Amtsgerichts Wuppertal vom 24. Juli 1998 bewilligte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen und zur Begründung ausgeführt:

"Die Verurteilte hat sich erneut strafbar gemacht. Sie ist durch Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 16. November 1998 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Die Verurteilte hat durch die während des Laufes der Bewährungszeit begangene Straftat gezeigt, daß sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zur Bewährung zugrunde gelegen hat, nicht erfüllt hat."

Gegen diese Entscheidung der Strafvollstreckungskammer wendet sich die Verurteilte mit ihrer sofortigen Beschwerde.

II.

Das formgerecht und rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegte Rechtsmittel ist begründet.

1. Gemäß § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung zur Bewährung, wenn der Proband in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. An diesen Voraussetzungen fehlt es hier.

a) Zwar hat die Verurteilte am 5. Februar 1998, also innerhalb des Laufes der ihr am 23. Juli und 12. Dezember 1997 jeweils vom Amtsgericht Wuppertal bewilligten Strafaussetzungen zur Bewährung,wiederum einen Diebstahl begangen. Das reicht jedoch für den von der Strafvollstreckungskammer ausgesprochenen Widerruf der Strafaussetzung aus dem Gesamtstrafenbeschluß des Amtsgerichts Wuppertal vom 24. Juli 1998 nicht aus.

b) Mit der am 11. August 1998 eingetretenen Rechtskraft des nach § 460 StPO erlassenen Gesamtstrafenbeschlusses und der damit verbundenen neuen Sachentscheidung über die Bewährung verloren die einbezogenen Freiheitsstrafen ihre selbständige Bedeutung; die Bewährungen aus den zugrundeliegenden Entscheidungen wurden ohne weiteres gegenstandslos (vgl. BGHSt 7, 180 ff. und 8, 254, 260; Senat OLGSt StGB § 56 f. Nr. 4 sowie StV 1991, 30; ferner Senatsbeschluß vom 27. Februar 1997 - 1 Ws 171 - 172/97; OLG Hamm NStZ 1987, 382 und 1991, 559; OLG Koblenz MDR 1987, 602; OLG Stuttgart MDR 1989, 282 f., sämtlich m. w. N.; Schönke/Schröder/Stree, StGB, 25. Aufl., § 58 Rdnr. 8; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 56 f. Rdnr. 3 a, ebenfalls m. w. N.). Maßgebend war ab diesem Zeitpunkt nur noch der Gesamtstrafenbeschluß. Denn mit seiner Rechtskraft wurde die neue Bewährungszeit in Lauf gesetzt. Deshalb konnte auch nur eine während dieser Bewährungszeit begangene Straftat den Widerruf der durch den Gesamtstrafenbeschluß bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung auslösen, nicht aber mehr eine solche, die die Probandin zwar während der früheren Bewährungszeit (en), aber noch vor der Entscheidung über die Gesamtstrafe begangen hat (vgl. dazu Senatsbeschlüsse, a. a. O.; ferner OLG Hamm und OLG Stuttgart, a. a. O.; Schönke/Schröder/Stree, a. a. O., alle m. w. N.). Hiernach ist die Strafvollstreckungskammer zu Unrecht von einer neuen innerhalb der Bewährungszeit verübten Straftat ausgegangen.

c) Soweit gemäß § 56 f Abs. 1 Satz 2 die Widerrufsregelung des Satzes 1 Nr. 1 dieser Vorschrift entsprechend gilt, wenn der Proband in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft wieder straffällig geworden ist (vgl. dazu OLG Stuttgart MDR 1992, 1067), rechtfertigt dies vorliegend keine andere Beurteilung. Denn das Amtsgericht Wuppertal hat den seit dem 11. August 1998 rechtskräftigen Gesamtstrafenbeschluß am 24. Juli 1998 erlassen. Die Beschwerdeführerin hatte die Anlaßtat jedoch bereits am 5. Februar 1998, also lange vor dem genannten Zeitraum, begangen.

2. Der Senat verkennt nicht, daß die hier mit der herrschenden Meinung vertretene Rechtsauffassung ersichtlich zu einem unbefriedigenden Ergebnis führt, weil sich die Verurteilte durch ihre neuerliche Straftat innerhalb zweier ihr ehemals gewährten, jedoch durch den späteren Gesamtstrafenbeschluß gegenstandslos gewordenen Bewährungszeiten als Bewährungsversagerin erwiesen hat. Das muß jedoch wegen der gesetzlichen Regelung über die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe hingenommen werden.

a) Eine Änderung des gemäß § 460 StPO erlassenen Gesamtstrafenbeschlusses deshalb, weil mit der Tat der Beschwerdeführerin und ihrer Aburteilung nachträglich Umstände bekanntgeworden sind, die - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Versagung der Bewährung im Gesamtstrafenbeschluß geführt hätten, und eine neue Sachentscheidung nach § 460 StPO über die Bewährung sind aus Rechtsgründen nicht möglich. Der formell und materiell rechtskräftige Gesamtstrafenbeschluß entscheidet über die Gesamtstrafe und die Bewährung ebenso unabänderlich wie ein Urteil nach § 55 StGB und genießt daher grundsätzlich den gleichen Bestandsschutz (vgl. Senat OLGSt, a. a. O.; KK-Fischer, StPO, 4. Aufl., § 460 Rdnr. 33 a sowie Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 460 Rdnr. 26, alle m. w. N.).

b) Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift des § 56 g Abs. 2 StGB zur Regelung des Widerrufs eines Straferlasses unter bestimmten Voraussetzungen kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil sich dies zum Nachteil der Beschwerdeführerin auswirken würde und deshalb gegen den sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Grundsatz des Analogieverbots verstieße.

c) Für Fälle der hier vorliegenden Art, daß nämlich der Proband sich durch eine neuerliche Straftat innerhalb einer ihm früher gewährten, jedoch durch einen späteren Gesamtstrafenbeschluß gegenstandslos gewordenen Bewährungszeit als Bewährungsversager erwiesen hat, besteht hinsichtlich der Widerrufsmöglichkeit eine Gesetzeslücke, die nur der Gesetzgeber durch eine entsprechende Regelung schließen kann. Die Problematik war bei den Beratungen des 23. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 13. April 1986, durch das die Vorschrift des § 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB eingefügt wurde (vgl. BGBl. I 393), bekannt. Die Begründung des Gesetzesentwurfs sah auch eine Regelung vor, die die Beseitigung des "kriminalpolitisch verfehlten derzeitigen Rechtszustandes" bewirken sollte (vgl. BT-Drucks. 10/2720 S. 11). Der Bundesrat strebte mit seiner Stellungnahme zu diesem Entwurf (vgl. BT-Drucks. 10/2720 S. 22) eine Erweiterung der Widerrufsmöglichkeit durch Einfügung des nachfolgenden Satzes in § 56 f Abs. 1 StGB an:

"Satz 1 Nr. 1 gilt entsprechend, wenn die Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft oder bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in den einbezogenen Urteilen und der Rechtskraft des Gesamtstrafenbeschlusses begangen worden ist."

Zutreffend wurde eine solche Erweiterung der Widerrufsmöglichkeit damit begründet, bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung entfalle nach einhelliger Meinung die selbständige Bedeutung der Bewährungszeiten aus den einbezogenen Urteilen. Maßgeblich sei dann nur noch der Gesamtstrafenbeschluß, so daß lediglich innerhalb einer dort angeordneten Bewährungszeit begangene neue Straftaten einen Widerruf auslösen könnten. Gleichwohl führte dieser Vorschlag nicht zu einer entsprechenden Neuregelung. Sie wurde für entbehrlich gehalten, weil bei jeder nachträglichen Gesamtstrafenbildung stets neu entschieden werden müsse, ob die Voraussetzungen einer Strafaussetzung zur Bewährung erfüllt seien oder nicht (vgl. OLG Stuttgart, a. a. O.; Tröndle/Fischer a. a. O., § 56 f. Rdnr. 3 a). Dabei wurde indessen übersehen, daß es in der Praxis nicht selten Fälle gibt, in denen - wie hier - vor der Gesamtstrafenbildung begangene Straftaten, die den Widerruf der Strafaussetzung gerechtfertigt hätten, erst nach dem Erlaß des Gesamtstrafenbeschlusses bekannt werden und dessen Rechtskraftwirkung die Korrektur einer ersichtlich verfehlten Gesamtstrafenentscheidung ausschließt (so zutreffend OLG Stuttgart, MDR 1989, 282). Der Gesetzgeber mag sich dieser Konsequenzen nicht bewußt gewesen sein. Gleichwohl hat er in Kenntnis der Problematik eine Entscheidung getroffen, nach der in Fällen des Bewährungsversagens vor dem Erlaß eines nachträglichen Gesamtstrafenbeschlusses ein Widerruf der mit diesem Beschluß bewilligten Strafaussetzung nicht möglich ist. Dieser nach wie vor "kriminalpolitisch verfehlte" Rechtszustand kann nur im Wege der Gesetzesänderung, nicht aber durch eine erweiternde Auslegung des § 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB oder analoge Anwendung des § 56 g Abs. 2 StGB beseitigt werden.

Der Senat weist allerdings darauf hin, daß die hier zu ziehende unbefriedigende und mit dem Zweck der Vorschrift des § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB kriminalpolitisch nicht zu vereinbarende Konsequenz bei der gebotenen sorgfältigen und zeitangemessenen Bearbeitung unschwer hätte vermieden werden können. Es ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen dem Amtsgericht Wuppertal erst am 16. Februar 1999 eine Ausfertigung des Urteils des Amtsgerichts Düsseldorf vom 16. November 1998, betreffend die Tat vom 5. Februar 1998, zugegangen ist, obgleich aus den Gründen der letztgenannten Entscheidung ersichtlich ist, daß die Beschwerdeführerin aus den beiden Urteilen des Amtsgerichts Wuppertal vom 23. Juli und 12. Dezember 1997 wegen Freiheitsstrafen von vier Monaten und fünf Monaten unter Bewährung stand.

III.

Die Kosten der nach alledem erfolgreichen sofortigen Beschwerde der Verurteilten und die ihr im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen sind in entsprechender Anwendung der Vorschrift des § 467 Abs. 1 StPO der Staatskasse aufzuerlegen.



Ende der Entscheidung

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