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Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 17.04.2008
Aktenzeichen: VII-Verg 15/08 (1)
Rechtsgebiete: ZPO, GWB, BGB, VOL/A, SGB V


Vorschriften:

ZPO § 148
GWB § 97
GWB § 97 Abs. 3
GWB § 98 Nr. 2
GWB § 100 Abs. 2
GWB § 114 Abs. 1 S. 2
GWB § 116 Abs. 4
GWB § 121
GWB § 121 Abs. 1 S. 1
BGB §§ 339 ff.
BGB § 340
BGB § 341
BGB § 342
BGB § 343
VOL/A § 5 Nr. 1
VOL/A § 12
VOL/A § 14
VOL/A § 16 Nr. 1
SGB V § 33 Abs. 1 S. 5
SGB V § 126
SGB V § 127
SGB V § 127 Abs. 1
SGB V § 127 Abs. 1 S. 2
SGB V § 139
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

1. Auf den Antrag der Antragsgegnerin wird im Vergabeverfahren zur Beschaffung von Inkontinenzartikeln (2007/S 195-2372000 - Nr. 0001-Inkonti-2007), und zwar hinsichtlich der Lose 1, 10, 12, 13 und 14, der weitere Fortgang des Verfahrens und der Zuschlag gestattet.

2. Die Antragstellerin wird aufgefordert, dem Gericht bis zum 16. Mai 2008 mitzuteilen, ob und gegebenenfalls mit welchen Anträgen das Rechtsmittel aufrechterhalten wird.

3. Die Verfahrensbeteiligten werden darauf hingewiesen, dass im Fall einer Aufrechterhaltung der sofortigen Beschwerde mit Blick auf das Vorabentscheidungsersuchen des Senats an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften durch Beschluss vom 23. Mai 2007 (VII-Verg 50/06) entsprechend § 148 ZPO eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs beabsichtigt ist.

Gründe:

I. Die Antragsgegnerin, eine gesetzliche Krankenkasse, schrieb den Abschluss auf zwei Jahre befristeter Rahmenverträge über die Versorgung ihrer Versicherten mit Inkontinenzhilfen in 20 Losen aus. Die Antragstellerin reichte Angebote zu fünf Losen ein (Lose 1, 10, 12, 13 und 14), sollte aber nicht den Zuschlag erhalten. Im darauf eingeleiteten Nachprüfungsverfahren verpflichtete die zuständige Vergabekammer des Bundes die Antragsgegnerin, den Bietern für die Lose 1, 10, 12, 13 und 14 nach Vornahme bestimmter Änderungen an den Ausschreibungsbedingungen Gelegenheit zur Anpassung ihrer Angebotspreise zu geben. Dagegen haben sowohl die Antragstellerin als auch die Antragsgegnerin und die Beigeladene zu 5 sofortige Beschwerde eingelegt. Die Antragstellerin strebt eine Aufhebung des Vergabeverfahrens an; die Antragsgegnerin begehrt Zurückweisung des Nachprüfungsantrags, wohingegen die Beigeladene zu 5 meint, dass mit einer Wiederholung der Angebotswertung auszukommen sei.

Die Antragsgegnerin beantragt, ihr nach § 121 GWB die Fortsetzung des Vergabeverfahrens und die Erteilung des Zuschlags zu gestatten. Sie begründet dies mit der Eilbedürftigkeit der Auftragsvergabe und führt dazu aus: Ein weiteres Zuwarten beim Zuschlag lasse nicht nur deutliche Mehrkosten, sondern auch nicht vertretbare Unterschiede bei der Versorgung benachbarter Versorgungsgebiete entstehen. Zudem hat nach ihrer Ansicht der Nachprüfungsantrag keinen Erfolg und sei ihre, der Antragsgegnerin, sofortige Beschwerde begründet.

Die Antragstellerin tritt dem Antrag entgegen. Sie spricht der Beschwerde der Antragsgegnerin eine Erfolgsaussicht ab und meint, bei der auf den Eilantrag vorzunehmenden Interessenabwägung komme ihren Belangen ein höheres Gewicht als dem Interesse an einer möglichst raschen Auftragsvergabe zu. Durch die Gestattung eines Zuschlags würden vollendete Tatsachen geschaffen und ihr, der Antragstellerin, berechtigte Zuschlagschancen genommen. Eine besondere Dringlichkeit der Auftragsvergabe sei von der Antragsgegnerin nicht schlüssig dargelegt worden. Einschränkungen bei der Versorgung der Versicherten seien nicht zu besorgen. Dabei entstehende Mehrkosten seien hinzunehmen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze und auf die vorgelegten Anlagen Bezug genommen.

II. Der Antrag auf Vorabentscheidung über den Zuschlag ist begründet.

Auf Antrag des Auftraggebers kann das Beschwerdegericht nach § 121 Abs. 1 S. 1 GWB unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der sofortigen Beschwerde den weiteren Fortgang des Vergabeverfahrens und den Zuschlag gestatten. Nach Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift kann das Gericht den Zuschlag auch gestatten, wenn unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen sowie des Interesses der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zur Entscheidung über die Beschwerde die damit verbundenen Vorteile überwiegen. Vorrangiges Entscheidungskriterium ist danach die Erfolgsaussicht der Beschwerde. Dies bedeutet, dass dem Antrag nach § 121 GWB in der Regel stattzugeben ist, wenn die sofortige Beschwerde des Auftraggebers gegen die Entscheidung der Vergabekammer begründet erscheint oder zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Erfolg der Beschwerde besteht (vgl. Senat, Beschl. v. 20.11.2001 - Verg 33/01; BayObLG, Beschl. v. 13.8.2001 - Verg 10/01, NZBau 2001, 643, 633 = VergabeR 2001, 401, 404; OLG Bremen, Beschl. v. 20.7.2000 - Verg 1/2000; OLG Celle, Beschl. v. 14.3.2000 - 13 Verg 2/00; Jaeger in Byok/Jaeger, Kommentar zum Vergaberecht, 2. Aufl., § 121 GWB Rn. 1215), und wenn ferner der Grund für die Eilbedürftigkeit feststeht oder glaubhaft gemacht worden ist (Vgl. OLG Celle, a.a.O.; Senat, Beschl. v. 21.8.2002 - Verg 39/02). Dabei sind an die Eilbedürftigkeit umso geringere Anforderungen zu stellen, je wahrscheinlicher der Erfolg der Beschwerde ist. An diesem Vorverständnis gemessen hat der Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags Erfolg.

1. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig. Dann ist es auch der Eilantrag der Antragsgegnerin nach § 121 GWB.

Der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf ist das für den Sitz der Vergabekammern des Bundes zuständige Beschwerdegericht (§ 116 Abs. 1, 3 GWB). Seine Zuständigkeit knüpft in Verbindung mit der aufgrund von § 116 Abs. 4 GWB ergangenen Konzentrationsverordnung der Landesregierung allein daran an, dass eine Vergabekammer mit Sitz im Land Nordrhein-Westfalen entschieden hat und dagegen von einem Verfahrensbeteiligten sofortige Beschwerde eingelegt worden ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Nachprüfungsantrag zulässig, d.h. der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen eröffnet ist, weil durch einen öffentlichen Auftraggeber (§ 98 GWB) ein öffentlicher Auftrag (§ 99 GWB), der den maßgebenden Schwellenwert erreicht oder überschreitet und nicht den Ausnahmetatbeständen des § 100 Abs. 2 GWB unterliegt, erteilt werden soll. Dies ist erst im Rahmen der Begründetheit der Beschwerde, und zwar der Statthaftigkeit und Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags zu überprüfen. Erweist sich in diesem Zusammenhang der Nachprüfungsantrag als unstatthaft oder unzulässig, ist er - gegebenenfalls unter Aufhebung der Entscheidung der Vergabekammer - vom Beschwerdegericht (als unzulässig) zu verwerfen, wenn nicht eine Verweisung an das zuständige Gericht in Betracht kommt. Als zuständiges Beschwerdegericht hat der Senat auch über den von der Antragsgegnerin angebrachten Eilantrag nach § 121 GWB zu befinden.

2. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist wahrscheinlich auch begründet.

a) Dabei unterstellt der Senat, dass der Nachprüfungsantrag statthaft ist und sich insbesondere gegen einen öffentlichen Auftraggeber im Sinne des § 98 Nr. 2 GWB richtet. Die Frage, ob gesetzliche Krankenkassen wie die Antragsgegnerin nach dieser Bestimmung als öffentliche Auftraggeber anzusehen sind, ist Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens des Senats an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (vgl. Senatsbeschluss v. 23.5.2007 - VII-Verg 50/06, VergabeR 2007, 622). Infolgedessen sieht sich der Senat daran gehindert, diese Rechtsfrage im Streitfall abschließend zu entscheiden. Das Beschwerdeverfahren soll voraussichtlich entsprechend § 148 ZPO bis zur Entscheidung des Gerichtshofs ausgesetzt werden.

Ob die Antragsgegnerin öffentlicher Auftraggeber ist, muss in einem Eilverfahren nach § 121 BGB freilich nicht entschieden werden, sondern kann - zumal die Verfahrensbeteiligten im vorliegenden Verfahren darüber nicht streiten und die Entscheidung des Senats über den Eilantrag keine materielle Rechtskraftwirkung entfaltet - zu Gunsten der Antragstellerin als richtig unterstellt werden, was zugleich die Möglichkeit eröffnet, auf einen Antrag des Auftraggebers nach § 121 GWB im Interesse der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens das durch die Zustellung des Nachprüfungsantrags eingetretene Zuschlagsverbot dann nicht weiter andauern zu lassen (vgl. § 115 Abs. 1, § 118 Abs. 3 GWB), wenn der Nachprüfungsantrag in der Sache selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos ist. Diese Sachbehandlung erscheint dem Senat mit Blick darauf, dass so unter Umständen lang anhaltende Verzögerungen der Auftragsvergabe durch eine Aussetzung des Vergabeverfahrens vermieden werden können, sachgerecht. Steht mit der im Eilverfahren erforderlichen Gewissheit fest, dass der Nachprüfungsantrag unbegründet ist, wäre es sinnwidrig, den Auftraggeber weiter an einem Zuschlag zu hindern. Der unterlegene Verfahrensbeteiligte wird dadurch nicht gesetzwidrig beschwert, da die Eilentscheidung nicht in Rechtskraft erwächst. Zwar geht der Auftrag verloren. Doch beruht dies auf der nach den einleitend dargestellten Maßstäben zu treffenden Eilentscheidung.

b) Die vorstehenden Überlegungen treffen im Streitfall zu. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin hat nach Lage der Dinge keine Aussicht auf Erfolg. So hat überwiegend auch die Vergabekammer entschieden. Ihrer Entscheidung ist lediglich in einigen Punkten nicht zuzustimmen.

aa) Die begehrte Aufhebung des Vergabeverfahrens kann die Antragstellerin auf der Grundlage ihres eigenen Vortrags nicht erlangen. Die Antragstellerin stützt sich dazu auf den angeblichen Mangel der Ausschreibungsreife nach § 16 Nr. 1 VOL/A. Sie verneint eine Ausschreibungsreife, da die Antragsgegnerin während der Frist für die Angebotsabgabe mehrfach die Verdingungsunterlagen geändert hat. Diese Vorgänge geben indes keine Veranlassung zu einer Aufhebung des Vergabeverfahrens, da die Verdingungsunterlagen aufgrund der angebrachten Änderungen nunmehr, d.h. in dem der Entscheidung zugrundezulegenden Zeitpunkt, jedenfalls vollständig, klar und eindeutig sind. Dies stellt die Antragstellerin nicht in Abrede. Mit dem Nachprüfungsantrag kann sie danach allenfalls erreichen, dass sie - wie die Vergabekammer im angefochtenen Beschluss, wenn auch aus anderen Gründen, in etwa ausgesprochen hat - Gelegenheit erhält, ihr Angebot in Kenntnis gegebenenfalls zu korrigierender Verdingungsunterlagen zu erneuern. Im Hinblick auf die von der Antragsgegnerin veranlassten Änderungen ist derartiges jedoch nicht gerechtfertigt. Die wiederholte Änderung der Verdingungsunterlagen ist - so mit Recht auch die Vergabekammer - vergaberechtlich nicht zu beanstanden. Die Antragsgegnerin hat an den Ausschreibungsbedingungen keine grundlegenden oder umfangreichen Änderungen vorgenommen. Die von ihr für zweckmäßig gehaltenen Korrekturen hat sie den Bietern, namentlich der Antragstellerin, in einem transparenten und diskriminierungsfreien Verfahren mitgeteilt. Auf den Gegenstand der Änderung ist in Anschreiben deutlich hingewiesen worden. Darüber hinaus waren geänderte Textbestandteile in den mit der Bekanntmachung übersandten Verdingungsunterlagen farblich und infolgedessen hinreichend rasch und sicher auffindbar unterlegt.

In diesem Zusammenhang sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass die vorliegende Ausschreibung, die die Beschaffung von Hilfsmitteln im Sinne der §§ 126, 127 SGB V durch eine gesetzliche Krankenkasse betrifft, möglicherweise nicht oder nicht ausschließlich der von den Verfahrensbeteiligten diskutierten Anwendung des § 97 GWB und der VOL/A unterliegt, sondern in erster Linie den Bestimmungen, die § 127 Abs. 1 SGB V für diesbezügliche Auftragsvergaben aufstellt (vgl. insoweit auch Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.2.2008 - L 5 KR 508/08 W-A, BA 52 ff., 59). Was insbesondere die Ausschreibungs- und Vergabeprinzipien sowie die Verfahrensregeln anbelangt, kann § 127 Abs. 1 SGB V und können sonstige Bestimmungen des Sozialrechts vorrangig vor den Regelungen des § 97 GWB und der bei Lieferungen ansonsten einschlägigen Verdingungsordnung anzuwenden sein.

bb) Bei mehreren behaupteten Vergaberechtsverstößen lässt der eigene Vortrag der Antragstellerin außerdem nicht auf eine in ihrer Person eingetretene oder zu befürchtende Rechtsverletzung und eine Beeinträchtigung ihrer Zuschlagschancen schließen. In derartigen Fällen ist den Vergabenachprüfungsinstanzen nach § 114 Abs. 1 S. 2 GWB verwehrt, auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einzuwirken. Im Streitfall betrifft dies die Bindung der Ausschreibung an das Angebot der im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V aufgeführten Inkontinenzartikel sowie die in den Ausschreibungsbedingungen an einen Nachunternehmereinsatz und das Eingehen von Bietergemeinschaften gerichteten Anforderungen.

(1.) Die Bindung an das Hilfsmittelverzeichnis für Inkontinenzhilfen schränkt auf der Grundlage des eigenen Vortrags der Antragstellerin nicht deren Angebotsmöglichkeiten und die Chancen auf einen Zuschlag, sondern nur die Bezugsmöglichkeiten der Versicherten ein. Nur in dem zu den Versicherten bestehenden Rechtsverhältnis der gesetzlichen Krankenkassen, wie der Antragsgegnerin, ist darauf abzustellen, ob eine Bindung an das Hilfsmittelverzeichnis hinzunehmen ist. Allein darüber verhält sich auch die von der Vergabekammer herangezogene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urt. v. 3.8.2006 - B 3 KR 25/05 R).

Eine Bindung an das Angebot der in das Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V aufgenommenen Inkontinenzartikel ist auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer grundsätzlich unzulässigen produktspezifischen Ausschreibung nicht zu bemängeln. Die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis steht nach einer Qualitätsprüfung jedem Hersteller von Inkontinenzhilfen offen (vgl. § 139 Abs. 3, 4, 7 SGB V). Dass dieser Vorgang wettbewerbswidrigen Marktzugangsbeschränkungen unterliege, macht die Antragstellerin nicht geltend.

(2.) Auch was die beim Einsatz von Nachunternehmern sowie der Eingehung von Bietergemeinschaften von der Antragsgegnerin gestellten Anforderungen anbelangt, ist die Antragstellerin offensichtlich nicht in Bieterrechten verletzt. Sie hat nicht geltend gemacht, Nachunternehmer einsetzen zu wollen und infolge der von der Antragsgegnerin getroffenen Bestimmung daran gehindert worden zu sein. Genauso wenig ist die Antragstellerin bei der Angebotslegung in einer Bietergemeinschaft aufgetreten oder behauptet sie, bei der Eingehung einer Bietergemeinschaft und infolgedessen verbesserter Zuschlagschancen durch die von der Antragsgegnerin vorgegebenen Bedingungen tatsächlich persönlich eingeschränkt worden zu sein.

cc) Die von der Antragstellerin an den Vergabeunterlagen vorgebrachten Beanstandungen sind unbegründet.

(1.) Das Leistungsverzeichnis weist keine ungewöhnlichen Wagnisse auf (§ 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A). Die Versorgungsanteile an den Untergruppen von Inkontinenzartikeln, die Anzahl von Versorgungsfällen in Pflegeheimen sowie Art und Umfang an die Versicherten zu liefernder Produktmuster mussten in den Verdingungsunterlagen nicht genannt oder näher beschrieben werden. Was die Anteile der im Übrigen überschaubar verschiedenen Produktuntergruppen anbetrifft, steht nicht unter Beweis, dass die Antragsgegnerin über die von der Antragstellerin geforderten Daten verfügt. Dass die AOK N. solche Daten erhebt, indiziert nicht, so sei es auch bei der Antragsgegnerin. Davon ausgehend konnte die Antragsgegnerin im Leistungsverzeichnis nur die Anzahl der Versicherten angeben, die in den jeweiligen Gebietslosen mit Inkontinenzartikeln zu versorgen sind. Jene Angaben bildeten eine hinreichende Grundlage für die Preisermittlung. Die Antragstellerin konnte dafür die in ihrem Unternehmen vorhandenen Erfahrungswerte ergänzend heranziehen und Kalkulationslücken schließen. Dass dies unmöglich gewesen sei, behauptet die Antragstellerin nicht. Die für eine Versorgung mit Inkontinenzartikeln in Betracht kommenden Alten- und Pflegeheimfälle sind vernachlässigbar gering. Sie sind von der Ausschreibung im Prinzip ausgenommen und sollen nur auf eine im Einzelfall ergehende Anordnung der Antragsgegnerin erfolgen. Dass solche Einzelfälle nicht kalkulierbar seien, hat die Antragstellerin nicht nachvollziehbar dargelegt. Über die den Versicherten zur Verfügung zu stellenden Produktmuster konnte die Antragsgegnerin in der Leistungsbeschreibung schließlich keine Angaben machen, wenn ihr unbekannt ist, welche Versorgungsanteile auf die Produktuntergruppen bei Inkontinenzhilfen entfallen. Solche Angaben hätten zudem irreführend sein können, denn was an Produktmustern zusammengestellt werden soll, entscheidet sich nach der Leistungsbeschreibung beratungsabhängig in jedem Einzelfall.

Soweit die Antragsgegnerin vorgeschrieben hat, der Leistungserbringer sei auf eine medizinische Begründung des Arztes (Notwendigkeitsbescheinigung) verpflichtet, ein bestimmtes Hilfsmittel zu liefern, wird Bietern kein Wagnis aufgebürdet. An keiner Stelle der Verdingungsunterlagen ist vorgesehen, Leistungserbringer hätten später das Risiko zu tragen, dass sich die medizinische Indikation als unzutreffend erweist. Der Vorgabe der Antragsgegnerin zufolge kommt es nur darauf an, dass ärztlicherseits eine Notwendigkeitsbescheinigung ausgestellt worden ist.

Dass die Antragsgegnerin von den Leistungserbringern erwartet, dass Rechtsformänderungen mitgeteilt und während der Dauer des Vertrages die die Eignung betreffenden Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen für das Unternehmen eingehalten werden, begründet weder ein Wagnis, noch sind darin ansonsten unzumutbare Ausschreibungsbedingungen zu erkennen. Während der Vertragslaufzeit haben die Leistungserbringer Rechtsformänderungen und den Eintritt die Eignung beeinflussender Umstände selbst in der Hand. Sie sind für die Antragsgegnerin nicht prognostizierbar. Genauso wenig kann ihr freilich verwehrt werden, derartige Veränderungen zum Anlass für eine Überprüfung der Eignung des Leistungserbringers sowie gegebenenfalls für vertragsgestaltende Erklärungen zu nehmen.

(2.) Die Regelung von Aufzahlungen der Versicherten beim Bezug bestimmter Hilfsmittel in den Verdingungsunterlagen befindet sich im Einklang mit der gesetzlichen Regelung in § 33 Abs. 1 S. 5 SGB V. Die Antragsgegnerin fordert vom Leistungserbringer zusätzlich nur eine Beratung der Versicherten. Dazu ist sie durch die in § 127 Abs. 1 S. 2 SGB V geregelten Anforderungen an die Versorgung der Versicherten legitimiert.

(3.) Die Antragstellerin beanstandet zu Unrecht auch die in den Vergabeunterlagen vorgesehene Sicherheitsleistung und die Vertragsstrafe. Die geforderte Bürgschaft soll als Sicherheit für die Vertragserfüllung gestellt werden. Ein derartiges Verlangen des Auftraggebers ist legitim, und die Erfüllung ist für den späteren Leistungserbringer nicht unzumutbar. Das Sicherungsbedürfnis des Auftraggebers umfasst selbstverständlich auch etwaige Schadensersatzansprüche. Die ausbedungene Sicherheitsleistung ist Leistungserbringern der Höhe nach zuzumuten. Sie soll fünf Prozent der pauschal zu zahlenden monatlichen Vergütung betragen. Dies scheint nicht unangemessen.

An der Bestimmung einer Vertragsstrafe für den Fall, dass Leistungserbringer organisatorische oder strukturelle Veränderungen in ihrem Unternehmen oder Änderungen in der Zusammensetzung einer Auftragnehmergemeinschaft nicht oder nicht rechtzeitig mitteilen, ist - ebenfalls im Gegensatz zur Rechtsauffassung der Vergabekammer - nichts auszusetzen. Die Antragsgegnerin will sich während der Vertragslaufzeit über Veränderungen im Unternehmen der Leistungserbringer unterrichtet halten, welche die Fachkunde, die Leistungsfähigkeit oder die Zuverlässigkeit beeinträchtigen können. Dazu ist sie bei dem für mehrere Jahre einzugehenden Dauerschuldverhältnis berechtigt. Ebenso wenig kann davon gesprochen werden, die von der Antragsgegnerin getroffene Vertragsstrafenregelung bleibe hinter den gesetzlichen Anforderungen an Vertragsstrafen nach den §§ 339 ff. BGB zurück oder überbürde dem Leistungserbringer zu Unrecht den Nachweis, dass ihn an einem Vertragsverstoß kein Verschulden trifft. Die Bestimmungen der §§ 339 bis 343 BGB sind auf die in Vertragsbedingungen des Auftraggebers geregelten Vertragsstrafen ohne Weiteres anzuwenden (so auch Vavra in Kulartz/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zur VOL/A, § 12 Rn. 5). Was einen Verzug mit der ihm obliegenden Vertragsleistung und das Verschulden anbelangt, obliegt dem Schuldner nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch ohnedies der Entlastungsbeweis (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 67. Aufl., § 286 BGB Rn. 39; ders./Grüneberg, § 339 BGB Rn. 15 jeweils m.w.N.). An der Höhe der Vertragsstrafen ist nichts auszusetzen.

Bei der vorstehenden Auseinandersetzung hat der Senat zu Gunsten der Antragstellerin angenommen, dass die §§ 12 (Vertragsstrafen) und 14 (Sicherheitsleistungen) VOL/A insofern einen bieterschützenden Charakter aufweisen, als in den Fällen, in denen der Auftraggeber dem Auftragnehmer bereits in den Vergabeunterlagen diesbezüglich unangemessen benachteiligende und deswegen nicht zumutbare Vertragsbedingungen stellt, Bietern zur Vermeidung eines die Verdingungsunterlagen ändernden und zum Wertungsausschluss führenden Angebots sowie einer unbotmäßigen Beschränkung des Wettbewerbs gestattet sein muss, die vorgegebenen Vertragsbedingungen in einem Nachprüfungsverfahren zur Überprüfung zu stellen. So liegt der Regelung von Vertragsstrafen und Sicherheitsleistungen in der Verdingungsordnung auch die Vorstellung des Verdingungsausschusses zugrunde, dass die Vergabestelle verpflichtet ist zu prüfen, ob Sicherheitsleistungen und/oder Vertragsstrafenabreden erforderlich sind, um eine sach- und fristgemäße Vertragsausführung abzusichern (vgl. die Erläuterungen zu § 14 VOL/A). Derartige in den Vergabeunterlagen enthaltene Regelungen können am Auftrag interessierte Unternehmen davon abhalten, sich mit einem Angebot an der Ausschreibung zu beteiligen. Dies widerspricht dem vergaberechtlichen Wettbewerbsprinzip (§ 97 Abs. 1 GWB). Es spricht allerdings manches dafür, der Vergabestelle bei der Festlegung einer Sicherheitsleistung oder Vertragsstrafenregelung eine Einschätzungsprärogative einzuräumen, deren Ausübung nur im Rahmen der dafür gezogenen rechtlichen Grenzen überprüfbar und im Streitfall nicht überschritten worden ist. Eine unterschiedliche rechtliche Behandlung von Sicherheitsleistungen und Vertragsstrafeversprechen scheint indes nicht angezeigt. Im Übrigen weist auch die Kommentarliteratur den §§ 12 und 14 VOL/A überwiegend einen bieterschützenden Charakter zu (vgl. Hausmann in Kulartz/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zur VOL/A, § 14 Rn. 30; Müller-Wrede in ders., VOL/A, 2. Aufl., § 14 Rn. 22; Lux in Müller-Wrede, VOL/A, § 12 Rn. 32; Raufeisen in Willenbruch/Bischoff, Kompaktkommentar Vergaberecht, S. 497, 503; Kraus/Stolz, Bauvergaberecht, S. 80, unter Hinweis auf KG, Beschl. v. 5.1.2000 - KartVerg 11/99, BauR 2000, 1579 zur bieterschützenden Natur einer Festlegung von Ausführungsfristen; a.A. Vavra in Kulartz/Marx/Portz/ Prieß, Kommentar zur VOL/A, § 12 Rn. 12).

(4.) Die Angebotsfrist war nicht zu kurz bemessen. Der Begründung der Vergabekammer ist insofern nichts hinzuzufügen. Darauf wird verwiesen (VKB 20 f.).

(5.) Auch der von der Antragsgegnerin festgelegte Zeitraum zwischen Zuschlag und Ausführungsbeginn (drei Wochen) ist nicht zu bemängeln. Dazu hat die Vergabekammer bereits alles Notwendige gesagt. Auf die Gründe ihrer Entscheidung wird Bezug genommen (VKB 23 f.). Der Umstand, dass die Antragstellerin die Ausführungsfrist beanstandet, ist allenfalls geeignet, Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit zu begründen. Sofern die Antragstellerin innerhalb der bestimmten Frist mit der Vertragsausführung nicht beginnen kann, hätte Anlass bestanden, von einer Bewerbung im Umfang des Angebots (fünf Gebietslose betreffend) abzusehen.

dd) Die Angebotswertung ist nicht mit Erfolg zu bemängeln. Die Wertungsmatrix nebst Unterkriterien und Gewichtungskoeffizienten ist den Bietern mit den an den Verdingungsunterlagen vorgenommenen Änderungen jeweils erneut mitgeteilt worden. Auch an der Wertungsmethode und am Wertungsvorgang ist im Ergebnis nichts zu erinnern. Die Antragstellerin ist dadurch ebenso wenig in Bieterrechten verletzt. Die Vergabekammer hat mittelständische Interessen bei der Wertung in der Weise berücksichtigt sehen wollen, dass nur die zu den einzelnen Gebietslosen eingegangenen Angebote miteinander verglichen werden, Angebote, die Loskombinationen (und entsprechende Rabattierungen) vorsehen, aus Gründen des Mittelstandsschutzes hingegen nicht gewertet werden dürften. Die einem Mittelstandsschutz geltenden Erwägungen entfalten für die Antragstellerin jedoch keinen Bieterschutz. Die Antragstellerin bedarf eines solchen Schutzes auch nicht, denn sie hat sich mit einem kombinierten Angebot bei fünf Gebietslosen beworben. Eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle hat im Nachprüfungsverfahren zu unterbleiben. Was einen Mittelstandsschutz bei der Ausschreibung von Hilfsmittellieferungen durch gesetzliche Krankenkassen betrifft, sind die diesbezüglichen §§ 97 Abs. 3 GWB und 5 Nr. 1 VOL/A im Übrigen auch nicht ohne weiteres anzuwenden. § 127 SGB V stellt andere und spezielle Vergabegrundsätze für die Beschaffung von Hilfsmitteln durch gesetzliche Krankenkassen auf. So werden Zusammenschlüsse auf Nachfrager- wie auf Bieterseite, mithin Konzentrationen, ausdrücklich zugelassen. Die Auftragsvergabe selbst soll unter den Gesichtspunkten der Qualität der Hilfsmittel und der Beratung der Versicherten erfolgen; sie soll für eine wohnortnahe Versorgung der Versicherten sorgen. Auf spezifische Belange des Mittelstandsschutzes ist danach keine Rücksicht zu nehmen. Dass - wie die Vergabekammer meint - in diesem Punkt zwischen den Vorgaben des Vergaberechts und des Sozialrechts eine "praktische Konkordanz" herzustellen sei, ist so aus dem Gesetz nicht abzulesen.

Was den Wertungsvorgang anbetrifft, sind die Vorgaben der Antragsgegnerin allerdings problematisch. Die preisliche Bewertung kombinierter Angebote und ein bloßer Vergleich mit den Preisen der zu den Gebietslosen eingegangenen Einzelangebote verkürzt die Angebotswertung auf einen reinen Preisvergleich, wohingegen die als Zuschlagskriterien benannten Qualitätsmerkmale eines Angebots dann unberücksichtigt bleiben. Dies gibt indes keine Veranlassung, durch Anordnungen in das Vergabeverfahren einzugreifen. Denn die Antragstellerin ist auch insoweit nicht in Bieterrechten verletzt. Wie außer Streit steht, kommt ihr Angebot auch bei einer auf die einzelnen Gebietslose bezogenen Wertung für die Erteilung eines Zuschlags nicht in Betracht.

c) Ein Eilbedürfnis ist nicht zu verneinen. Infolge einer Aussetzung des Nachprüfungsverfahrens bis zur Vorabentscheidung des EuGH würde die Antragsgegnerin voraussichtlich noch längere Zeit daran gehindert, das wettbewerbliche Ergebnis der Ausschreibung zu verwerten. Die Beschaffungsstrukturen bei Hilfsmitteln wären zudem stark uneinheitlich, je nachdem, ob die Gebietslose betreffend Nachprüfungsverfahren anhängig sind. Auch die Versorgung der Versicherten würde davon abhängig nach unterschiedlichen Maßstäben erfolgen. Bei dieser Sachlage darf dem Vergabeverfahren Fortgang gegeben und der Zuschlag erteilt werden. Mit Blick darauf, dass der Nachprüfungsantrag wahrscheinlich unbegründet, die Beschwerde der Antragsgegnerin hingegen erfolgreich ist, sind an die Eilbedürftigkeit der Beschaffung auch keine allzu hohen Anforderungen zu stellen.

Eine Kostenentscheidung ist im Verfahren nach § 121 GWB nicht zu treffen. Sie bleibt der Beschwerdeentscheidung vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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