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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 28.10.2005
Aktenzeichen: 34 Wx 124/05
Rechtsgebiete: GG, PAG, FreihEntzG


Vorschriften:

GG Art. 104 Abs. 2
PAG Art. 18 Abs. 1 Satz 1
PAG Art. 18 Abs. 1 Satz 2
FreihEntzG § 5
FreihEntzG § 6
Die Verfahrensvorschriften bei Freiheitsentziehungen, zu denen insbesondere Anhörungs- und Prüfungspflichten des Richters gehören, gelten auch dann, wenn die Anordnung der Freiheitsentziehung kurzfristig und nur für kurze Zeit erfolgt. Sind wegen des kurzen Zeitraums der Freiheitsentziehung keine der Pflichten für den Richter erfüllbar, trifft die Polizei eigenverantwortlich nach Art. 18 Abs. 1 Satz 2 PAG die Entscheidung über die Freiheitsentziehung.
Tatbestand:

Am Samstag, den 7.5.2005 fanden im Stadtgebiet von P. anlässlich des Kriegsendes vor 60 Jahren Gedenkveranstaltungen statt. Unter anderem waren ab 9.30 Uhr die Enthüllung eines Straßenschildes in der G.-straße und ab 10.30 Uhr eine zentrale Gedenkfeier am Mahnmal der Opfer des Nationalsozialismus geplant. Zu den Veranstaltungen wurden amerikanische Kriegsveteranen und Überlebende des Holocaust erwartet.

Kurz vor Beginn der Enthüllungsfeierlichkeiten wurden der Betroffene und eine weitere Person in der G.-straße in der Nähe des Veranstaltungsortes von der Polizei angetroffen. Beide Personen trugen Plakattafeln mit folgenden Aufschriften: "Amerika, no thank you, wir fordern ein Ende des amerikanischen Kulturimperialismus in Deutschland und Europa" und "Good bye Amerika, wir fordern den Abzug der noch verbliebenen 70.000 amerikanischen Besatzungssoldaten aus Deutschland". Die Polizei nahm beide Personen gegen 9.20 Uhr in Gewahrsam und erstattete Anzeige wegen einer Ordnungswidrigkeit nach Art. 18, 66 Ziffer 2 Bayerisches Straßen- und Wegegesetz (unbefugter Ge- brauch einer Straße zu Sondernutzungen). Anschließend führte die Polizei mit dem Bereitschaftsrichter des örtlichen Amtsgerichts ein Telefongespräch über die Maßnahme. Am 7.5.2005 um 12 Uhr wurde der Betroffene nach Aushändigung einer Rechtsbehelfsbelehrung aus dem polizeilichen Gewahrsam entlassen.

Mit Schreiben vom 31.5.2005, beim Amtsgericht eingegangen am gleichen Tag, hat der Betroffene die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung am 7.5.2005 beantragt. Das Amtsgericht hat das Schreiben, ausgehend von der Stellungnahme der Polizei, wonach vor der Entlassung des Betroffenen telefonisch eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung ergangen sei, als sofortige Beschwerde gegen die richterliche Anordnung angesehen und mit der Verfügung vom 13.6.2005, dass der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen werde, die Akten dem Landgericht vorgelegt. Mit Beschluss vom 29.7.2005 hat das Landgericht Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gewährt und die sofortige Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.

Gegen die am 26.8.2005 zugestellte landgerichtliche Entscheidung hat der Betroffene am 1.9.2005 sofortige weitere Beschwerde eingelegt. Er macht geltend, seine Ingewahrsamnahme am 7.5.2005 sei weder unerlässlich noch verhältnismäßig gewesen. Die Beschwerde führte zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

Gründe:

Das Rechtsmittel ist zulässig.

1. Die sofortige weitere Beschwerde ist nach Art. 18 Abs. 3 Satz 3 PAG, § 7 Abs. 1, § 3 Satz 2 FreihEntzG, §§ 22 Abs. 1, 27, 29 Abs. 1 und 4 FGG statthaft und form- und fristgerecht eingelegt worden. Da das Landgericht in seiner Entscheidung vom Vorliegen einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung ausgegangen ist, hängt die Zulässigkeit der sofortigen weiteren Beschwerde nicht von einer Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache ab (Art. 18 Abs. 2 Satz 4 PAG).

2. Die sofortige weitere Beschwerde ist auch begründet, denn das Landgericht hat den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (§ 12 FGG). Der Senat kann die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen, daher ist die Sache unter Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses zurückzuverweisen (vgl. 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO, siehe Meyer-Holz in Keidel/Kuntze/Winkler FGG 15. Aufl. § 27 Rn. 58).

Das Landgericht hat ausgeführt, dass die Ingewahrsamnahme des Betroffenen richterlich bestätigt worden sei. Grundlage für diese Feststellung ist der Aktenvermerk eines Polizeibeamten, wonach der Bereitschaftsrichter des Amtsgerichts telefonisch über den Sachverhalt informiert worden sei und die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung bis zum Ende der Veranstaltung um 12 Uhr bestätigt habe. Aufgrund der Aktenlage konnte jedoch das Landgericht nicht ohne weitere Feststellungen von der Existenz einer richterlichen Entscheidung ausgehen.

a) Art. 104 Abs. 2 GG bestimmt, dass über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung der Richter zu entscheiden hat. Die richterliche Entscheidung ist grundsätzlich vor der Freiheitsentziehung herbeizuführen. Sie ist unverzüglich nachzuholen, wenn sie nicht bereits zum Zeitpunkt der Einweisung oder der Festnahme einer Person vorliegt (Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG). Die nähere verfahrensrechtliche Ausgestaltung ist einem Ausführungsgesetz vorbehalten.

Rechtsgrundlage für die Ingewahrsamnahme einer Person durch die Polizei ist in Bayern das Polizeiaufgabengesetz (PAG), in dem entsprechend Art. 104 GG zwischen der auf richterlicher und der auf polizeilicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung unterschieden wird. Hat die Polizei eine Person aufgrund eigener Machtvollkommenheit in Gewahrsam genommen, muss sie nach Art. 18 Abs. 1 Satz 1 PAG unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeiführen. Ausnahmsweise ist die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung entbehrlich, wenn anzunehmen ist, dass die richterliche Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der polizeilichen Maßnahme ergeht (Art. 18 Abs. 1 Satz 2 PAG). Der Polizei obliegt insoweit eine Prognose, ob ein Richterspruch noch vor der Entlassung des Betroffenen voraussichtlich erlangt werden kann (Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner/Roese PAG Art. 18 Rn. 11).

Zu berücksichtigen ist dabei, dass das Freiheitsentziehungsgesetz zwingende verfahrensmäßige Anforderungen an eine richterliche Entscheidung über eine Freiheitsentziehung stellt (Art. 18 Abs. 3 Satz 3 PAG in Verbindung mit §§ 5 ff. FreihEntzG). So ist der Betroffene vor Erlass der Entscheidung vom Haftrichter mündlich anzuhören (§ 5 Abs. 1 FreihEntzG). Dies gilt auch im Fall einer einstweiligen Anordnung nach § 11 FreihEntzG. Eine vorherige Anhörung kann nur bei Gefahr im Verzug unterbleiben; sie ist jedoch unverzüglich nachzuholen. Die Regelungen dienen der Wahrung des verfassungsrechtlich geschützten Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG).

Allein auf das Vorbringen der Polizei darf die richterliche Entscheidung nicht gestützt werden. Denn der Richter hat nach Art. 104 Abs. 2 GG über die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung selbst zu entscheiden und die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass der Gewahrsam zum Erreichen des Gesetzeszwecks unerlässlich ist. Die richterliche Entscheidung ist konstitutiv und nicht nur eine Genehmigung oder Bestätigung einer vorgängigen Verwaltungsentscheidung. Der Richter muss deshalb selbst die Tatsachen feststellen, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen. Als Mittel eigener richterlicher Aufklärung stehen bei eilbedürftigen Entscheidungen neben der persönlichen Anhörung des Betroffenen insbesondere die Akten, sichergestellte Sachen und Aussagen beteiligter Beamter zur Verfügung (vgl. Berner/Köhler PAG 16. Aufl. Art. 18 Rn. 11). Der Richter entscheidet über die Freiheitsentziehung durch einen Beschluss, der mit Gründen zu versehen und dem Betroffenen bekannt zu machen ist (§ 6 FreihEntzG). Er muss dementsprechend schriftlich ergehen (vgl. Meyer-Holz in Keidel/Kuntze/Winkler Vorb. §§ 8 - 16 Rn. 16 und 17).

Soll eine richterliche Entscheidung über eine von der Polizei durchgeführte Ingewahrsamnahme herbeigeführt werden, ist das nach dem Freiheitsentziehungsgesetz vorgegebene Verfahren einzuhalten. Der Betroffene ist dem Haftrichter vorzuführen und ihm sind die zur Prüfung der Haftfrage erforderlichen Aktenbestandteile vorzulegen. Erscheint dies in der Kürze der Zeit bis zum Ende der beabsichtigten Freiheitsentziehung nicht möglich, kann die Polizei nach Art. 18 Abs. 1 Satz 2 PAG von der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung absehen mit der Folge, dass sie die angeordnete Ingewahrsamnahme selbst zu verantworten hat.

b) Vorliegend fehlt es an einer Klärung, ob die vom Betroffenen angefochtene Freiheitsentziehung aufgrund richterlicher Entscheidung oder aufgrund polizeilicher Anordnung durchgeführt wurde. Soweit ersichtlich hat weder eine Vorführung des Betroffenen stattgefunden noch wurde er vom Haftrichter angehört. Auch liegt kein den Anforderungen des § 6 FreihEntzG entsprechender schriftlicher Beschluss des Amtsgerichts oder ein Vermerk oder eine dienstliche Erklärung des Richters zum Erlass einer Haftanordnung vor. Auch von einem Vorgang oder Aktenzeichen beim Amtsgericht ist bislang nichts bekannt. Sollte der Bereitschaftsrichter tatsächlich auf Anfrage der Polizei in einem Telefonat mündlich einen Beschluss erlassen haben, wonach der Betroffene bis um 12 Uhr in polizeilichem Gewahrsam zu verblieben habe, ließe sich diese Vorgehensweise ersichtlich nicht in Einklang mit dem Freiheitsentziehungsgesetz bringen. In Betracht kommt allerdings auch, dass sich die Polizei nur über die zu erwartende rechtliche Beurteilung seitens des zuständigen Richters informiert hat und die Ingewahrsamnahme des Betroffenen bis 12 Uhr aufgrund polizeilicher Anordnung stattgefunden hat. In diesem Fall müsste zunächst das Amtsgericht nach Art. 18 Abs. 2 PAG über den Antrag des Betroffenen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme entscheiden. Die Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts ersetzt nicht die notwendige Ausgangsentscheidung (Karl in Keidel/ Kuntze/Winkler § 19 Rn. 5). Das Landgericht wird die hierzu erforderlichen Feststellungen nach § 12 FGG zu treffen haben.

Ende der Entscheidung

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