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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Zweibrücken
Beschluss verkündet am 29.06.1999
Aktenzeichen: 6 UF 73/99
Rechtsgebiete: BGB, FGG


Vorschriften:

BGB § 1628
BGB § 1671
FGG § 50 b
Leitsätze

§§ 1628, 1671 BGB, 50 b FGG

1. Der Anwendungsbereich des § 1628 BGB ist auf situative Entscheidungen beschränkt; er betrifft nur Einzelfälle, in denen die Eltern konkrete Meinungsdifferenzen nicht allein zu überwinden vermögen.

2. Bei der im Rahmen des § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB n.F. vorzunehmenden prognostischen Beurteilung des Kindeswohls sind die von Rechtsprechung und Literatur zum bisherigen Sorgerecht entwickelten Grundsätze nach wie vor von Belang.

3. Im Rahmen der Kindeswohlprüfung hat der Kindeswille grundsätzlich eine doppelte Funktion. Zum einen ist er der verbale Ausdruck für die relativ stärkste Personenbindung, die das Kind empfindet; zum anderen ist er - ab einem gewissen Alter - ein Akt der Selbstbestimmung des Kindes als einer zur Selbständigkeit erzogenen und strebenden Person. Je älter das Kind wird, desto mehr tritt die zweite Funktion in den Vordergrund. In Analogie zu den §§ 50 b Abs. 2 Satz 1 FGG, 1671 Abs. 3 Satz 2 BGB a.F. ist als Durchschnittstypus für die kindliche Selbstbestimmungsfähigkeit erst die 14-Jahresgrenze anzusehen.


Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken Beschluss

Aktenzeichen: 6 UF 73/99 2 F 80/99 Amtsgericht Neustadt an der Weinstraße

Verkündet am: 29. Juni 2000

Bernd. Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

In der Familiensache

betreffend die Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts bei Getrenntleben der Eltern für die Kinder S und A S beide geboren am 1993, beide wohnhaft

hat der 6. Zivilsenat - Familiensenat - des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Morgenroth und die Richterinnen am Oberlandesgericht Euskirchen und Schlachter auf die befristete Beschwerde des Beteiligten zu 1) vom 20./21. Mai 1999 gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Neustadt an der Weinstraße vom 6. Mai 1999, dem Beteiligten zu 1) zugestellt am 19. Mai 1999, nach Anhörung der Beteiligten auf die mündliche Verhandlung vom 18. Mai 2000

beschlossen:

Tenor:

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Das Verfahren über die Beschwerde ist gerichtsgebührenfrei.

Der Antragsteller hat die der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren erwachsenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- DM festgesetzt.

Gründe:

Die befristete Beschwerde des Antragstellers ist statthaft und auch sonst in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden (§§ 621 e Abs. 1 und 3, 621 Abs. 1 Nr. 1, 516, 519 Abs. 1 und 2 ZPO, 19, 20 FGG).

In der Sache führt das Rechtsmittel allerdings nicht zu dem erstrebten Erfolg, weil die Entscheidung des Familiengerichts - Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Zwillinge S und A auf die Mutter - im Sinne des Wohls der Kinder einer Änderung nicht bedarf.

Rechtsgrundlage für die Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist - entgegen der Auffassung des Familiengerichts nicht die Bestimmung des § 1628 BGB, sondern diejenige des § 1671 BGB n. F.. Dessen Wortlaut erlaubt es nunmehr ausdrücklich, einen Teilbereich der elterlichen Sorge aus dem gemeinsamen Sorgerecht der Eltern herauszulösen und auf einen Elternteil allein zu übertragen, wenn insoweit eine Einigungsfähigkeit der Eltern nicht besteht; dies gilt namentlich für den wichtigen Teilkomplex des Aufenthaltsbestimmungsrechts (vgl. Schwab in FamRZ 1998, 457, 459).

Der Anwendungsbereich des § 1628 BGB ist dagegen auf situative Entscheidungen beschränkt; er betrifft nur Einzelfälle, in denen die Eltern konkrete Meinungsdifferenzen nicht allein zu überwinden vermögen (vgl. Beispielsfälle bei Palandt/Diederichsen, BGB, 58. Aufl., Rdnrn. 4 und 5 zu § 1628 BGB). Das gesetzliche Wertungssystem des Rechts der elterlichen Sorge gebietet eine restriktive Auslegung dieser Bestimmung (vgl. Diederichsen, aaO, Rdnr. 3 zu § 1628 BGB).

Nach § 1671 Abs. 1 BGB n. F. kann bei nicht nur vorübergehender Trennung jeder Elternteil verlangen, dass das Familiengericht ihm einen Teilbereich der bisher gemeinsam ausgeübten elterlichen Sorge allein überträgt. Diesem Antrag ist u. a. zu entsprechen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung eines Teilbereichs der elterlichen Sorge und Übertragung desselben auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Es hat also eine Prüfung in zwei Schritten zu erfolgen: Sowohl die Aufhebung eines Teilbereichs der elterlichen Sorge als auch dessen Übertragung gerade auf den Antragsteller muss für das Kind die beste Lösung darstellen.

Da die Eltern hier keine Einigung darüber erzielen können, bei welchem der Elternteile S und A zukünftig ihren Lebensmittelpunkt haben sollen - ob in beim Vater oder in bei der Mutter -, ist es zum Wohl der Kinder geboten, den Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung einem Elternteil allein zu übertragen. Beide Elternteile haben jeweils gegenläufige Anträge auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts - bei Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge im Übrigen - auf sich gestellt.

Bei der im Rahmen des § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB n. F. vorzunehmenden prognostischen Beurteilung des Kindeswohls sind die von Rechtsprechung und Literatur zum bisherigen Sorgerecht entwickelten Grundsätze nach wie vor von Belang (vgl. hierzu Schwab, aaO). Danach sind die Bindungen der Kinder, insbesondere an ihre Eltern, zu berücksichtigen. Andere gewichtige Gesichtspunkte für die zu treffende Regelung sind die Prinzipien der Förderung, der Kontinuität und der Kindeswille. Danach soll das Sorgerecht demjenigen Elternteil übertragen werden, der dem Kind voraussichtlich die besseren Entwicklungsmöglichkeiten vermitteln und ihm die meiste Unterstützung für den Aufbau seiner Persönlichkeit sowie eine gleichmäßige, stetige Betreuung und Erziehung geben kann. Neben den genannten Gesichtspunkten sind Erziehungsbereitschaft, häusliche Verhältnisse und das soziale Umfeld der Eltern mit in die Bewertung einzubeziehen. Alle diese Kriterien stehen letztlich nicht wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander; vielmehr kann jedes von ihnen im Einzelfall für die Bestimmung dessen, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht, mehr oder weniger bedeutsam sein (vgl. BGH FamRZ 1985, 169, 170, zu § 1671 BGB a. F.).

Der Senat ist nach eingehender Anhörung der Eltern und der Zwillinge S und A sowie unter Berücksichtigung des Ergebnisses des kinderpsychologischen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Psychologen L vom 22. November 1999 und dessen Erläuterung in der mündlichen Verhandlung am 13. Januar 2000 zu der Überzeugung gelangt, dass die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Mutter dem wohl der Kinder S und A am ehesten entspricht.

So hat der Sachverständige Dipl.-Psychologe L die mit Beweisbeschluss des Senats vom 8. Juli 1999 gestellte Frage, welcher der Elternteile zur Erziehung der Zwillinge besser geeignet erscheint, in seinem schriftlichen Gutachten dahin beantwortet, dass die Mutter die höhere Erziehungskompetenz habe. Aufgrund der psychischen Eigenproblematik des Vaters bestünden auf dessen Seite erhöhte Risiken, den Erziehungsanforderungen zeitweise nicht gerecht zu werden, weil er in seiner emotionalen Grundstimmung belastet sei und nur über eine unzureichende Bewältigungskompetenz für eigene Krisen und die der Kinder verfüge. Diese eher negative Bewertung des Charakters des Vaters hat der Sachverständige allerdings anlässlich der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens am 13. Januar 2000 vor dem Senat weitgehend relativiert und dem Vater abschließend gute Erziehungskompetenzen zugebilligt.

Der Senat vermag aufgrund der Anhörung der Eltern auch aus eigener Sachkunde zu beurteilen, dass die Mutter der Zwillinge - aus objektiver Sicht gesehen - über die höhere Erziehungseignung verfügt, weil sie einen weniger permissiven Erziehungsstil pflegt und eine realistischere Einstellung zu den alltäglichen Dingen des Lebens hat. Daher ist die Erwartung begründet, dass die Mutter den Zwillingen voraussichtlich die besseren Entwicklungsmöglichkeiten vermitteln und ihnen die größere Unterstützung für den Aufbau ihrer Persönlichkeit geben kann.

Dem Wunsch der Kinder, künftig beim Vater in Neustadt zu leben, misst der Senat demgegenüber nachranginge Bedeutung zu.

Im Rahmen der Kindeswohlprüfung hat der Kindeswille grundsätzlich eine doppelte Funktion. Zum einen ist er der verbale Ausdruck für die relativ stärkste Personenbindung, die das Kind empfindet; zum anderen ist er - ab einem gewissen Alter - ein Akt der Selbstbestimmung des Kindes als einer zur Selbständigkeit erzogenen und strebenden Person. Je älter das Kind wird, desto mehr tritt die zweite Funktion in den Vordergrund. Sie ist nicht nur aus psychologischen und erzieherischen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gerechtfertigt. Nach Art. 1 und 2 GG kommt schon dem Kind ein eigenes Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu. Daraus leitet das Bundesverfassungsgericht das verfassungsrechtliche Gebot ab, bei Sorgerechtsentscheidungen den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit dies mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl. Jaeger in Johannsen/Henrich, Eherecht, 3. Aufl., Rdnr. 79 zu § 1671 BGB).

Der Senat teilt die Auffassung der Antragsgegnerin, dass dem Aspekt der Selbstbestimmung hier schon im Hinblick auf das geringe Alter der Zwillinge keine maßgebliche Bedeutung zukommt; die Mehrheit in Rechtsprechung und Literatur befürwortet in Analogie zu den §§ 50 b Abs. 2 Satz 1 FGG, 1671 Abs. 3 Satz 2 BGB a. F. erst die 14-Jahresgrenze als Durchschnittstypus für die kindliche Selbstbestimmungsfähigkeit (vgl. Meinungsübersicht bei Jaeger, aaO, Rdnr. 81 zu § 1671 BGB).

In seiner erstgenannten Funktion - Ausdruck für die relativ stärkste Personenbindung des Kindes - hat der geäußerte Kindeswille die Bedeutung eines Indizes für die existente psychische Bindung, die insoweit das eigentliche Kindeswohlkriterium ist. Hierfür kommt es nicht auf eine schon weit entwickelte Vernünftigkeit oder einen fortgeschrittenen Reifestand des Kindes an, so dass besonders hier die Ziehung von festen Altersgrenzen verfehlt ist (vgl. Meinungsübersicht bei Jaeger, aaO, Rdnr. 80 zu § 1671 BGB).

Die Zwillinge S und A, beide sehr lebhaft und aufgeweckt, hegen zu beiden Elternteilen tiefe emotionale Bindungen. Ihr Wunsch, künftig beim Vater in zu leben, erlaubt zwar die Schlussfolgerung auf eine größere psychische Bindung an den Vater; der Senat misst diesem Umstand aber im Rahmen der Prüfung des Kindeswohls im Hinblick auf die bessere Erziehungsgeeignetheit der Mutter nachrangige Bedeutung zu. Hierbei hegt der Senat die Erwartung, dass die Mutter - wie auch bisher der Fall - der starken emotionalen Bindung der Kinder an den Vater durch die Beibehaltung des bisher praktizierten großzügigen Umgangsrechts des Vaters mit den Zwillingen Rechnung trägt.

Die Beschwerde ist gerichtsgebührenfrei (§ 13.1 Abs. 3 KostO). Die Anordnung der Kostenerstattung beruht auf § 13 a Abs. 1 Satz 2 FGG, die Festsetzung des Beschwerdewertes auf den §§ 131 Abs. 2, 30 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 KostO.

Ende der Entscheidung

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