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Beginn der Entscheidung

Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 30.04.2003
Aktenzeichen: 1 U 682/02
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 142
ZPO § 142 Abs. 1
ZPO § 142 Abs. 2
ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 1
ZPO § 538 Abs. 2 HS 2
ZPO § 540 Abs. 1 Nr. 1
BGB § 810
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SAARLÄNDISCHES OBERLANDESGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 682/02

Verkündet am 30.4.2003

hat der 1. Zivilsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Theis, den Richter am Oberlandesgericht Dr. Gehrlein und die Richterin am Oberlandesgericht Fritsch-Scherer

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird das am 5. November 2002 verkündete Urteil des Landgerichts in Saarbrücken - 16 O 184/01 - einschließlich des ihm zugrundeliegenden Verfahrens aufgehoben und die Sache an das Gericht des ersten Gerichtszuges zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens vorbehalten bleibt.

2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

3. Der Wert der durch diese Entscheidung begründeten Beschwer der Parteien wird auf 52.129,19 € festgesetzt.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Wegen anhaltender Schmerzen im Bereich des Oberbauches wurde der Kläger am 25. April 1999 im dessen Träger die Beklagte ist, stationär aufgenommen. Mit Hilfe einer Ultraschalluntersuchung des Bauchraums konnten im Bereich der Gallenblase mehrere kleine Steine festgestellt werden. Aufgrund dieses Befunds wurde dem Kläger am 27. April 1999 die Gallenblase im Wege einer laparoskopischen Cholezystektomie entfernt. Da sich der postoperative Verlauf komplikationsfrei gestaltete, wurde der Kläger am 1. Mai 1999 aus der stationären Behandlung entlassen.

Am 5. Mai 1999 begab sich der Kläger, der über schwere Schmerzen im Oberbauch klagte, abermals in die stationäre Behandlung des. Eine körperliche Untersuchung des Klägers, eine Röntgenübersichtsaufnahme und ein Ultraschall des Abdomens sowie die erhobenen Laborwerte begründeten bereits am Aufnahmetag die Diagnose einer akuten Pankreatitis. Der Kläger wurde nunmehr intensivmedizinisch mit Nahrungskarenz, Infusionstherapie und Schmerztherapie sowie mit Medikamenten behandelt, welche die Sekretion der Bauchspeicheldrüse hemmen und den Gallenfluss positiv beeinflussen. Eine am 6. Mai 1999 vorgenommene röntgenologische Darstellung des Gallenganges blieb ohne Ergebnis. Schließlich erfolgte am 7. Mai 1999 eine ERCP (Endoskopische retrograde Darstellung der Gallengänge) und eine Computertomographie.

Da ausgedehnte Nekrosen im Pankreaskopf und Korpusbereich auf eine foudroyant verlaufende Pankreatitis hindeuteten, wurde der Kläger am 7. Mai 1999 in die Universitätsklinik verlegt, wo eine Laparotomie mit Lavage (Spülung) des Bauchraums stattfand und verschiedenen Drainagen angelegt wurden. Die Nekrosen wurden entfernt und der Bauchraum am 10. Mai 1999 verschlossen. Am 26. Juni 1999 wurde der Kläger zur Rehabilitation entlassen.

Der Kläger hat vorgetragen,

er sei im fehlerhaft behandelt worden. Im Anschluss an die erneute stationäre Aufnahme vom 5. Mai 1999 sei die akute Pankreatitis verspätet erkannt und zögerlich behandelt worden. Deshalb sei ihm in der Universitätsklinik im Rahmen einer Notoperation fast die gesamte Bauchspeicheldrüse bis auf einen unbedeutenden Rest entfernt worden. Sein materieller Schaden belaufe sich auf insgesamt 4.562,30 DM. Angesichts Dauer und Schwere der Schäden und der noch zu befürchtenden körperlichen Folgen sei ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 100.000 DM. angemessen. Überdies sei als möglicher Zukunftsschaden eine Diabetes mellitus zu befürchten.

Der Kläger hat beantragt (Bl. 134, 129, 2 d.A.),

1. den Beklagten zu verurteilen an ihn einen Betrag in Höhe von 4.562,30 DM nebst 4 % Zinsen ab Klagezustellung zu zahlen,

2. den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld für den Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu bezahlen nebst 4 % Zinsen ab Klagezustellung,

3. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, soweit sie nach der letzten mündlichen Verhandlung entstehen, aus dem Schadenereignis vom 5. Mai 1999 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Der Beklagte hat beantragt (Bl. 134,129 f., 47 d.A.)

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat einen Behandlungsfehler in Abrede gestellt und sich darauf berufen, der Kläger sei stets situationsgerecht entsprechend dem Verlaufsbild behandelt worden.

Das Landgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil (Bl. 143 -154 d.A.), auf dessen tatsächliche Feststellung nach § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, nach Einholung eines Sachverständigengutachtens (Bl. 85 - 98 d.A.) und mündlicher Anhörung des Sachverständigen (Bl. 130 - 134 d.A.) abgewiesen. Den behandelnden Ärzten kann nach Ansicht der Erstrichterin ein fehlerhaftes Verhalten nicht zur Last gelegt werden: Gegen das am 18. November 2002 zugestellte (Bl. 162 d.A.) Urteil richtet sich die am 5. Dezember 2002 eingegangene (Bl. 169 d.A.) und nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 17. Februar 2003 (Bl. 176 d.A.) am 17. Februar 2003 begründete (Bl. 179 d.A.) Berufung.

Der Kläger macht zur Rechtfertigung seines Rechtsmittels geltend, das Landgericht habe seinen Beweisantrag, die in der Universitätsklinik tätigen Ärzte zum Erfordernis einer durch Behandlungsfehler der Beklagten bedingten Notoperation zu vernehmen, nicht berücksichtigt. Das von dem Sachverständigen Prof. Dr. gefertigte Gutachten sei zur gerichtlichen Überzeugungsbildung nicht geeignet, weil der Sachverständige bei seiner Begutachtung die Krankenunterlagen des und der Universitätsklinik nicht verwertet habe. Trotz entsprechender Anregung habe das Landgericht von der ihm durch § 142 ZPO eingeräumten Befugnis, die Krankenunterlagen von Amts wegen beizuziehen, keinen Gebrauch gemacht.

Der Kläger beantragt (Bl. 231, 180, 230 d.A), in Abänderung der angefochtenen Urteils

1. den Beklagten zu verurteilen an ihn einen Betrag in Höhe von 4.562,30 -DM nebst 4 % Zinsen ab Klagezustellung zu zahlen,

2. den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld für den Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu bezahlen nebst 4 % Zinsen ab Klagezustellung,

3. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, soweit sie nach der letzten mündlichen Verhandlung entstehen, aus dem Schadenereignis vom 5. Mai 1999 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

4. vorsorglich und hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landgericht Saarbrücken zurück zu verweisen.

Der Beklagte beantragt (Bl. 231, 174 d.A.),

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung. Die von dem Kläger gerügten Verfahrensmängel lägen nicht vor. Auch bei anderer Handhabung des Verfahrens hätte das Gericht keinen anderen Sachverhalt als entscheidungserheblich feststellen können.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sach- und Streitstands auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte sowie ordnungsgemäß begründete Berufung ist zulässig. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung als verfahrensfehlerhaft und Zurückweisung der Sache an das Landgericht (§ 538 Abs. 2 ZPO).

I.

Aufgrund der Neufassung des § 538 Abs. 2 HS 2 ZPO ist das Berufungsgericht im Unterschied zum früheren Rechtszustand nicht mehr befugt, von Amts wegen eine Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges zurück zu verweisen. Vielmehr ist eine Zurückverweisung nur auf Antrag einer Partei möglich. Ein solcher Antrag muss nicht bereits in der Berufungsbegründung gestellt werden, sondern kann noch nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nachgeholt werden. Ferner bestehen keine Bedenken, den Aufhebungsantrag hilfsweise neben dem Sachantrag zu stellen (Senat OLG Report Saarbrücken 2003, 142; Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform 2002, § 538 Rdnr. 7). Der Kläger hat hier mit Schriftsatz vom 4. April 2003 (Bl. 230, 233 d A) hilfsweise einen Aufhebungsantrag gestellt.

II.

Die angefochtene Entscheidung ist durch Verfahrensfehler beeinflusst, weil das Landgericht zum einen den Sachverhalt auf der Grundlage eines ohne Berücksichtigung der Krankenunterlagen erstellten Sachverständigengutachtens gewürdigt und zum anderen entscheidungserheblichen, durch Zeugenbeweis unterlegten Sachvortrag übergangen hat. Diese Verfahrensfehler wurden von dem Kläger ordnungsgemäß gerügt (§ 529 Abs. 2 ZPO).

1.

Das Landgericht durfte sich nicht mit einer Begutachtung des Sachverhalts durch den Sachverständigen Prof. Dr. ohne Verwertung der Krankenunterlagen der begnügen.

a)

Der Kläger ist nicht verpflichtet, seinerseits die Krankenhausunterlagen beizuziehen und sie bei Klageeinreichung dem Gericht zur Verfügung zu stellen (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, E Rdnr. 3). Die Beiziehung von Krankenunterlagen ist vielmehr Ausfluss der Prozessförderungspflicht des Gerichts, das die Krankenunterlagen bei der zuständigen Stelle anzufordern und dem Sachverständigen zur Fertigung des Gutachtens zu überlassen hat (Geiß/Greiner a.a.O., E Rdnr. 4). Das Gericht hat nach Eingang des Gutachtens zu prüfen, ob der Sachverständige den Sachverhalt vollständig ausgewertet hat. In diesem Rahmen hat das Gericht auch dafür Sorge zu tragen, dass der Sachverständige die ihm überlassenen Krankenakten bei der Gutachtenerstellung tatsächlich verwendet (Geiß/Greiner, a.a.O., E Rdnr. 15).

b)

Der Pflicht zur Auswertung der Patientenakten hat der Sachverständige nicht genügt. Im Rahmen seiner mündlichen Anhörung hat der Sachverständige Prof. Dr. ausdrücklich erklärt, bei seiner Begutachtung lediglich die anwaltlich gewechselten Schriftsätze sowie die in der Gerichtsakte enthaltenen Aufzeichnungen der Kliniken benutzt zu haben. In die Krankenunterlagen der Kliniken habe er indessen keinen Einblick genommen (Bl. 130 d.A.). Diese Verfahrensweise ist fehlerhaft, zumal dem Sachverständigen in dem Beweisbeschluss (Bl. 71 d.A.) die Auswertung der Klinikakten aufgegeben worden war-(§ 404 a ZPO). Die fehlerhafte Vorgehensweise hat der Kläger sowohl erstinstanzlich (Bl. 103 f., 138 d.A.) als auch in der Berufungsbegründung (Bl. 183 d.A.) gerügt.

2.

Ebenso bedeutet es einen Verfahrensfehler, dass das Landgericht die ihm durch § 142 ZPO eröffneten prozessualen Möglichkeiten im Bezug auf die Krankenunterlagen der am vorliegenden Rechtsstreit unbeteiligten Universitätsklinik nicht bedacht hat.

a)

Schon unter Geltung des früheren Rechts wurde der Antrag einer Partei als erheblich erachtet, Krankenunterlagen eines ausserhalb des Rechtsstreits stehenden Arztes oder einer solchen Klinik beizuziehen (BGB NJW 1989, 1533 f.). Dem von dem Kläger wiederholt gestellten (Bl. 11, 63 d.A.) Antrag hat das Landgericht nicht entsprochen. Eine entsprechende Rüge ist in der Berufungsbegründung enthalten (Bl. 184 d.A.).

b)

Im Rahmen der ZPO-Reform hat der Gesetzgeber erstmals durch § 142 Abs. 1 und 2 ZPO eine Vorlegungspflicht für Dritte statuiert, sofern eine schlüssige Klage vorliegt, ihnen eine Vorlegung unter Berücksichtigung ihrer berechtigten Interessen zumutbar ist und kein Zeugnisverweigerungsrecht besteht. Auf der Grundlage dieser Vorschrift können regelmäßig die Krankenunterlagen bei Dritten, am Rechtsstreit nicht beteiligten Ärzten oder Kliniken angefordert werden. Diese Stellen sind nämlich nach § 810 BGB ohnehin verpflichtet, dem Patienten Einsicht in seine Krankenunterlagen zu gewähren (vgl. BGHZ, 85, 327, 334; 85, 339, 342; Bamberger/Roth/Gehrlein, BGB, § 810 Rdnr. 6). Da das Landgericht die Möglichkeit, gegenüber der Universitätsklinik einer Anordnung nach § 142 ZPO zu treffen, nicht einmal ins Auge gefasst hat, liegt ein Verfahrensfehler vor (vgl. BGH NJW 1992, 2019 f.).

3.

Schließlich hat das Landgericht verfahrensfehlerhaft von der Vernehmung der Zeugen Prof. Dr. Prof. Dr. und Dr. abgesehen.

a)

Es kann einen wesentlichen Verfahrensfehler im Sinne des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO darstellen, wenn das erstinstanzliche Gericht den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) dadurch verletzt hat, dass es den Kern ihres Vorbringens verkannt und daher eine entscheidungserhebliche Frage verfehlt oder einen wesentlichen Teil des Parteivortrags übergangen hat. Bei diesen Gegebenheiten wird also ein wesentlicher Teil des tatsächlichen Vorbringens entweder nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen und dadurch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Dies gilt zumal dann, wenn auch notwendige Beweise nicht erhoben worden sind (Senat VersR 2002, 1378; NZBau 2001, 329 = OLG Report 2001, 49; NJW-RR 2000, 138 = OLG Report 1999, 288).

b)

Der Kläger hat vorgetragen, ihm sei als Folge der verzögerlichen Behandlung durch die nach seiner Verlegung in die Universitätsklinik im Rahmen einer Notoperation die Bauspeicheldrüse bis auf einen kleinen Rest entfernt worden. Diesen Tatsachenvortrag hat der Kläger durch die Zeugen Prof. Dr. Prof. Dr. und Dr. unter Beweis gestellt (Bl. 4, 11 63 f. d.A.). Dieses Vorbringen hat das Landgericht - wie die Berufung zutreffend rügt (Bl 184 d.A.) - übergangen. Dieses Vorbringen war entgegen der Auffassung des Landgerichts (Bl. 154 d.A.) erheblich, weil es an Aufzeichnungen über die dem Kläger in der Universitätsklinik zuteil gewordene Behandlung gerade fehlt.

4.

Der Senat sieht von einer Eigenentscheidung ab und verweist die Sache an das Landgericht zurück, weil das Ersturteil an erheblichen Verfahrensfehlern leidet, die eine aufwendige Beweisaufnahme notwendig machen (§ 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

Zunächst hat das Landgericht die Krankenunterlagen der Universitätsklinik in beizuziehen. Anschließend ist abzuklären, ob der Kläger seine Anträge auf Vernehmung der Zeugen Prof. Dr. Prof. Dr. und Dr. aufrecht erhält. Sodann hat das Landgericht für eine ergänzende oder neue Begutachtung auf der Grundlage der Krankenunterlagen der und der Universitätsklinik Sorge zu tragen. Da es gegenwärtig an einer auch nur ansatzweise tragfähigen Beweisgrundlage fehlt, erscheint dem Senat eine Zurückverweisung an das Landgericht sachgerecht.

Ende der Entscheidung

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