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Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 05.12.2005
Aktenzeichen: 1 B 03.2608
Rechtsgebiete: BayBO, BauGB
Vorschriften:
BayBO Art. 82 Satz 2 | |
BauGB § 34 Abs. 1 Satz 1 | |
BauGB § 34 Abs. 2 |
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes
In der Verwaltungsstreitsache
wegen Nutzungsuntersagung betr. Fl.Nr. ******* Gemarkung ********* (***);
hier: Berufung der Kläger gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts ******* vom 24. Juli 2003,
erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,
durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Priegl
aufgrund mündlicher Verhandlung vom 22. November 2005
am 5. Dezember 2005
folgendes Urteil:
Tenor:
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 24. Juli 2003 wird geändert.
Die Nr. 4 des Bescheids des Landratsamts *** ******************* vom 1. Oktober 2001 (Nutzungsuntersagung gegenüber den Klägern) und die Nr. 5 dieses Bescheids (Zwangsgeldandrohung), soweit sie sich auf die Nr. 4 bezieht, sowie der Widerspruchsbescheid der Regierung von ********** vom 7. Mai 2002 werden aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht und die bis zur Beiladung der Gemeinde ******* angefallenen Kosten des Berufungsverfahrens. Die nach der Beiladung angefallenen Kosten tragen der Beklagte und die Beigeladene je zur Hälfte.
Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren durch die Kläger war notwendig. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte und die Beigeladene dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des zu vollstreckendes Betrags abwenden, sofern nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Kläger wenden sich gegen eine Nutzungsuntersagung.
Die Kläger sind Mieter einer Wohnung auf dem Grundstücks Fl.Nr. ******* Gemarkung *******. Das Grundstück liegt im unbeplanten Innenbereich am südlichen Ortsrand von ******* zwischen der Isar im Westen und der Bundesstraße ** im Osten. Das Gebiet ist im Flächennutzungsplan der Beigeladenen von 1971 als Gewerbegebiet dargestellt.
Mit Bescheid vom 24. März 1999 erhielt die Grundstückseigentümerin die Baugenehmigung zum Neubau eines Bürogebäudes mit fünf "Gewerbeeinheiten" und einer Betriebswohnung auf einer Teilfläche des damals noch ungeteilten Grundstücks Fl.Nr. ******* (jetzt Fl.Nr. *******). In einer Nebenbestimmung ist angeordnet, dass die Wohnung(en) nur von Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie vom Betriebsinhaber oder Betriebsleiter genutzt werden dürfen und dass eine Vermietung oder Überlassung an einen anderen Personenkreis unzulässig ist.
Bei einer Baukontrolle stellte das Landratsamt *** ******************* fest, dass die Grundstückseigentümerin drei "Gewerbeeinheiten" für Wohnzwecke vermietet hatte, darunter auch die "Gewerbeeinheit 5" im Dachgeschoss an die Kläger. Mit Bescheid vom 1. Oktober 2001 untersagte das Landratsamt jeweils binnen eines Monats ab Bestandskraft des Bescheids der Grundstückseigentümerin als Vermieterin die Nutzung (Eigennutzung, Abschluss neuer Mietverträge und sonstiger Überlassungsverträge) der "Gewerbeeinheiten 1, 2 und 5" als Wohnungen (Nr. 1 des Bescheids) und den Klägern als Mietern die Nutzung der Gewerbeeinheit 5 als Wohnung (Nr. 4 des Bescheids). Für den Fall der Nichtbeachtung der Nutzungsuntersagungen wurde jeweils ein Zwangsgeld von 5.000 DM angedroht (Nr. 5 des Bescheids).
Am 24. Oktober 2001 erhoben die Kläger Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Mai 2002, zugestellt am 14. Mai 2002, wies die Regierung von ********** den Widerspruch zurück. Für den Erlass der Nutzungsuntersagung genüge bereits der Verstoß gegen formelles Recht. Die Nutzung der "Gewerbeeinheiten" als Wohnungen stelle eine nicht genehmigte Nutzungsänderung dar. Die Wohnnutzung sei aber auch materiell rechtwidrig. Die Eigenart der näheren Umgebung des Grundstücks entspreche einem Gewerbegebiet. In diesem seien nur betriebliche Wohnungen zulässig. Der Gleichheitssatz sei nicht verletzt. Bei den von der Klägerin angeführten Bezugsfällen handle es sich ausschließlich um Betriebsleiterwohnungen. Dass die Räume für gewerbliche Zwecke schwer zu vermieten seien, sei unerheblich.
Am 17. Juni 2002 erhoben die Kläger Klage. Das Verwaltungsgericht ******* wies die Klage mit Urteil vom 24. Juli 2003 im Wesentlichen mit folgender Begründung ab: Die Klage sei zwar zulässig, aber nicht begründet. Den Klägern sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da die Versäumung der Klagefrist auf einem dem Bevollmächtigten der Kläger nicht zurechenbaren Verschulden seiner Kanzleiangestellten beruhe. Die Nutzungsuntersagung sei rechtmäßig, weil die Änderung der Büronutzung in eine Wohnnutzung genehmigungspflichtig, die beantragte Baugenehmigung aber nicht erteilt worden sei. Die Nutzungsänderung sei auch nicht offensichtlich genehmigungsfähig. Der Ausgang des Widerspruchs- bzw. Klageverfahrens bezüglich der Baugenehmigung sei offen. Auf Grund des gerichtlichen Augenscheins könne nicht zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass die Umgebungsbebauung einem Mischgebiet und damit einem Gebiet entspreche, in dem auch Wohnungen zulässig seien. Auf die Frage der mangels Kanalanschluss erschwerten Vermietbarkeit der Gewerbeeinheiten komme es nicht an. Der Gleichheitssatz sei nicht verletzt. Bei den angeführten Bezugsfällen handle es sich um Betriebsleiterwohnungen. Bei dem offensichtlich teilweise zweckentfremdeten Wohnhaus auf dem Grundstück Fl.Nr. ******* (****) sei die Beschränkung auf Wohnungen für Betriebsleiter sogar durch Grunddienstbarkeit abgesichert worden. Auch die Zwangsgeldandrohung sei rechtmäßig.
Hiergegen richtet sich die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 4. November 2004 zugelassene Berufung der Kläger. Zur Begründung führen die Kläger aus: Die Nutzungsuntersagung sei unverhältnismäßig und ermessensfehlerhaft. Die Mieter einer Wohnung seien Eigentümern gleichgestellt. Die formelle Rechtswidrigkeit der Nutzung reiche wegen der mit einer Beseitigung vergleichbaren Situation nicht aus. Die wirtschaftliche Belastung der Kläger durch die Anordnung sei enorm, da in der Nähe zum Arbeitsplatz der Klägerin zu 2 ein vergleichbar günstiger Wohnraum für die Kläger nicht zu mieten sei. Aufgrund dieser Auswirkungen hätte das Landratsamt als weniger einschneidende Maßnahme zumindest eine befristete Duldung bis zur Entscheidung über den Bauantrag treffen müssen. Die Nutzungsuntersagung widerspreche auch dem Gleichheitssatz, weil das Landratsamt gegen die Wohnnutzung auf dem Nachbargrundstück Fl.Nr. ******* (****) nicht eingeschritten sei. Die Wohnnutzung sei materiell rechtmäßig. Die maßgebliche Umgebungsbebauung entspreche nicht einem Gewerbegebiet; es handle sich um ein Mischgebiet oder um eine Gemengelage. Auf dem nördlichen Nachbargrundstück Fl.Nr. ******* (****) befänden sich ein genehmigtes Wohnhaus, über der Werkstatt zwei Wohneinheiten und zwischen dem Wohnhaus und dem Werkstattgebäude ein weiteres kleines Wohnhaus. Auf dem nordöstlichen Grundstück Fl.Nr. ******* ("****-Haus") befinde sich ein Wohnbereich von ca. 250 m², der nicht nur als Betriebswohnung genutzt werde. Die Räumungsfrist von einem Monat ab Bestandskraft sei unangemessen, da die Kläger innerhalb dieser Frist keinen vergleichbaren Wohnraum anmieten könnten. Angemessen wäre allenfalls eine der gesetzlichen Kündigungsfrist entsprechende Frist.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
das Urteil des Verwaltungsgerichts ******* vom 24. Juli 2003 zu ändern und Nr. 4 des Bescheids des Landratsamts *** ******************* vom 1. Oktober 2001 und Nr. 5 des Bescheids, soweit sie sich auf die Nr. 4 bezieht, sowie den Widerspruchsbescheid der Regierung von ********** vom 7. Mai 2002 aufzuheben.
Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung führt der Beklagte aus: Die Nutzungsuntersagung sei formell und materiell rechtmäßig. Es genüge, dass die Wohnnutzung nicht genehmigt und auch nicht offensichtlich genehmigungsfähig sei, weil der Charakter der Umgebungsbebauung des Grundstücks Fl.Nr. ******* nicht eindeutig zu bestimmen sei. Die nähere Umgebung entspreche wohl einem Mischgebiet. Die Bundesstraße ** habe wohl keine trennende Funktion mehr, nachdem der Verkehr seit Anfang 2005 aufgrund eines auf österreichischer Seite verhängten Transitverbots für LKW stark zurückgegangen sei. Verneine man die trennende Wirkung, dann könnten in dem Gebäude der Klägerin allenfalls 30 % der Fläche für Wohnzwecke genehmigt werden, um in dem Gebiet ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Wohnen und Gewerbe zu erhalten. Bejahe man die trennende Wirkung, käme eine Wohnnutzung von etwa 40 % der Fläche in Betracht. Für die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagung sei dies aber unerheblich. Ermessensfehler lägen nicht vor. Auf dem Grundstück Fl.Nr. ******* (****) sei eine Betriebsleiterwohnung genehmigt; wegen der nicht genehmigten Nutzung einer Ferienwohnung laufe bereits seit Jahren ein Verfahren. Im Dachgeschoss des Betriebsgebäudes sei nach Aufteilung des Betriebs eine weitere Betriebswohnung genehmigt worden, die auch als solche genutzt werde. In dem Gebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. ******* ("****-Haus") seien 552 m² Fläche für Werkstatt und Verkauf sowie ca. 300 m² Fläche für die Wohnnutzung der beiden Betriebsinhaber genehmigt.
Die Beigeladene hält die Wohnraumnutzung ebenfalls für nicht (offensichtlich) genehmigungsfähig. Das Grundstück liege in einem faktischen Gewerbegebiet. Der Flächennutzungsplan stelle das Gebiet westlich der Bundesstraße **, in dem ursprünglich ausschließlich Gewerbebetriebe angesiedelt gewesen seien, als Gewerbegebiet dar. Wohnnutzungen seien nur als Betriebswohnungen genehmigt worden. In dem Gebiet befänden sich großenteils Betriebe, die das Wohnen wesentlich störten und die somit in einem Mischgebiet nicht zulässig seien. Die Bundesstraße ** habe zweifellos trennende Funktion. Sie weise innerörtlich dieselbe Ausbaubreite von 7,60 m bis 7,80 m auf wie außerhalb des Ortes. Der Verkehr sei im gesamten Ortsdurchfahrtsbereich vorfahrtsberechtigt. Auch gebe es in diesem Bereich keine Ampel und keinen Zebrastreifen. Die Behauptung, dass die Verkehrsbedeutung nachgelassen habe, sei unzutreffend. Die Veränderungen des Transitverkehrs in Österreich spielten nur eine untergeordnete Rolle. Es handle sich bei der Straße nicht um eine "normale" Ortsdurchfahrt, sondern um die Fortsetzung einer "Schnellstraße". Messungen hätten ergeben, dass Geschwindigkeitsüberschreitungen die Regel seien.
Der Verwaltungsgerichtshof hat am 19. April 2005 durch einen Augenschein Beweis erhoben.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die vom Beklagten vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung hat Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Sie ist zulässig (A.) und begründet (B.).
A. Die Klage ist zulässig.
Zwar wurde die Klage nicht innerhalb der Frist des § 74 Abs. 1 VwGO erhoben. Den Klägern war aber, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat und nicht mehr streitig ist, gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil das Fristversäumnis auf einem den Klägern nicht zurechenbaren Verschulden einer Kanzleiangestellten ihres Bevollmächtigen beruhte.
B. Die Klage ist auch begründet.
Die Nutzungsuntersagung unter Nr. 4 des Bescheids des Landratsamts *** ******************* vom 1. Oktober 2001 (1.) und die Zwangsgeldandrohung unter Nr. 5 des Bescheids, soweit sie sich auf Nr. 4 bezieht (2.), sowie der diese Anordnungen bestätigende Widerspruchsbescheid der Regierung von ********** vom 7. Mai 2002 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Nutzungsuntersagung ist rechtswidrig, weil sie nicht durch die allein in Betracht kommende Befugnisnorm des Art. 82 Satz 2 BayBO gedeckt ist. Nach dieser Regelung kann die Benutzung von Anlagen untersagt werden, wenn sie öffentlich-rechtlichen Vorschriften widerspricht. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ist diese Voraussetzung bei einer Nutzungsuntersagung gegenüber den Bewohnern von Wohnraum, der für diese den alleinigen Mittelpunkt ihrer privaten Existenz bildet, in der Regel nur erfüllt, wenn die Wohnnutzung (auch) materiell rechtswidrig ist (a). Danach durfte den Klägern die Nutzung der "Gewerbeeinheit 5" zu Wohnzwecken nicht untersagt werden, weil diese Nutzung materiellen öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht widerspricht (b).
a) Ein Rechtsverstoß im Sinn von Art. 82 Satz 2 BayBO, der den Erlass einer Nutzungsuntersagung rechtfertigt, liegt bei einem genehmigungspflichtigen Vorhaben grundsätzlich schon dann vor, wenn das Vorhaben ohne Baugenehmigung ausgeführt wird. Da die Nutzungsuntersagung - insofern der Baueinstellung (Art. 81 Abs. 1 BayBO) entsprechend - in erster Linie die Funktion hat, den Bauherrn auf das Genehmigungsverfahren zu verweisen, muss grundsätzlich nicht geprüft werden, ob das Vorhaben auch gegen materielles Recht verstößt und somit nicht genehmigungsfähig ist. Allerdings darf eine wegen Verstoßes gegen die Genehmigungspflicht formell rechtswidrige Nutzung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich nicht untersagt werden, wenn sie offensichtlich genehmigungsfähig ist. Auch wenn die Folgen einer Nutzungsuntersagung für den Betroffenen in der Regel weniger gravierend sind als die einer Beseitigungsanordnung, ist es im allgemeinen unverhältnismäßig, eine offensichtlich materiell legale Nutzung zu untersagen, ohne den Bauherrn vorher - vergeblich - gemäß Art. 82 Satz 3 BayBO aufgefordert zu haben, einen Bauantrag zu stellen (BayVGH vom 4.8.2004 BayVBl 2005, 369; vom 23.3.1992 2 B 89.818; vom 29.9.1981 BayVBl 1982, 51; OVG RhPf vom 22.5.1996 BRS 58 Nr. 202).
Wenn gegenüber den Bewohnern die Nutzung von Wohnraum untersagt werden soll, der für diese den alleinigen Mittelpunkt ihrer privaten Existenz bildet, ist bei der Prüfung, ob die durch die Nutzungsuntersagung verursachten Nachteile in einem angemessenen Verhältnis zu dem Erfolg der Maßnahme stehen (vgl. Art. 8 Abs. 2 LStVG), die besondere Bedeutung der Wohnung zu berücksichtigten, die das Bundesverfassungsgericht veranlasst hat, das Besitzrecht der Mieter von Wohnraum als Eigentum im Sinn von Art. 14 Abs. 1 GG anzusehen (BVerfG vom 26.5.1993 BVerfGE 89, 1 = NJW 1993, 2035). Durch die Nutzung der Wohnung werden elementare Lebensbedürfnisse der Bewohner befriedigt. Die Wohnung ist eine wichtige Grundlage für die Sicherung der persönlichen Freiheit und die Entfaltung der Persönlichkeit der Bewohner. Eine erzwungene Aufgabe der Wohnung hat regelmäßig auch dann weit reichende Folgen für die persönliche Lebensführung, wenn die Wohnung nur vorübergehend verlassen werden muss. Wegen dieser Bedeutung wird die Untersagung der Nutzung von Wohnraum, der für die Bewohner den alleinigen Mittelpunkt ihrer privaten Existenz bildet, ohne vorangegangene vergebliche Aufforderung, einen Bauantrag zu stellen, in der Regel nicht schon dann verhältnismäßig sein, wenn die Nutzung nicht offensichtlich genehmigungsfähig ist, sondern nur dann, wenn sie materiell rechtswidrig ist.
b) Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Nutzungsuntersagung rechtswidrig. Die Nutzung der als Büro genehmigten "Gewerbeeinheit 5" als Wohnung ist zwar gemäß Art. 62, Art. 63 Abs. 4 Nr. 1 BayBO genehmigungspflichtig, weil für die Wohnnutzung andere bauordnungsrechtliche (z. B. Art. 46 BayBO) und bauplanungsrechtliche Anforderungen (z. B. im Hinblick auf das Einfügen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) gelten als für die gewerbliche Büronutzung. Da die Wohnnutzung materiell legal ist (aa) und besondere Umstände, die eine Ausnahme von dem vorstehend dargelegten Grundsatz rechtfertigen, nicht zu ersehen sind (bb), durfte das Landratsamt die Nutzung aber trotz ihrer formellen Illegalität nicht untersagen. Die Behörde hätte das bauaufsichtliche Verfahren gegen die Mieter aussetzen können, bis über den Antrag der Grundstückseigentümerin auf nachträgliche Genehmigung der Wohnnutzung entschieden worden ist. Da die Behörde jedoch die Prüfung der materiellen Zulässigkeit der Wohnnutzung im Genehmigungsverfahren nicht abgewartet hat, hätte sie unter den hier gegebenen Umständen die materielle Zulässigkeit im bauaufsichtlichen Verfahren abschließend prüfen und zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Wohnnutzung nicht untersagt werden darf, weil sie materiell rechtmäßig ist. Die Belange der Beigeladenen werden dadurch gewahrt, dass diese im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften die Rechtslage durch das Aufstellen eines Bebauungsplans ändern und damit nicht nur eine nachträgliche Genehmigung eines ihren ortsplanerischen Vorstellungen zuwiderlaufenden Vorhabens verhindern, sondern auch den Anlass für ein neues bauaufsichtliches Verfahren geben kann.
aa) Die Nutzung der "Gewerbeeinheit 5" für allgemeine Wohnzwecke ist entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen materiell zulässig.
Die allein fragliche bauplanungsrechtliche Zulässigkeit beurteilt sich nach § 34 BauGB, weil das Gebäude, in dem sich die Wohnung befindet, innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils steht, für den kein Bebauungsplan erlassen wurde. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Entspricht die Eigenart der Umgebung einem der in der Baunutzungsverordnung aufgeführten Baugebiete, ist hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nur maßgeblich, ob das Vorhaben nach der Baugebietsvorschrift zulässig ist (§ 34 Abs. 2 BauGB). Hier ist für die Beurteilung des Vorhabens hinsichtlich der allein strittigen Art der baulichen Nutzung § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB heranzuziehen. Die Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 BauGB sind nicht erfüllt, weil die maßgebliche Umgebung (aaa) keinem der in der Baunutzungsverordnung bezeichneten Baugebiete entspricht (bbb). Nach dem Maßstab von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist die Wohnnutzung zulässig (ccc). aaa) Nähere Umgebung im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist die Bebauung in der Nachbarschaft des Baugrundstücks, auf die sich das geplante Vorhaben in städtebaulicher Hinsicht auswirken kann und die ihrerseits das Baugrundstück prägt (BVerwG vom 26.5.1978 BVerwGE 55, 369). Danach ist nur die Bebauung zwischen der Bundesstraße ** im Osten und dem Isarwerkskanal im Westen und Südwesten maßgeblich. Die Bebauung östlich der Bundestrasse zählt nicht zur Umgebung, weil diese Straße nach dem Ergebnis des Augenscheins vor allem wegen der Breite des Straßenraums (die Fahrbahnbreite liegt zwischen 7,6 m und 7,8 m) und wegen ihrer Funktion als Durchgangsstraße eine trennende Wirkung hat. In nördlicher Richtung endet die Umgebung mit der Bebauung auf dem Grundstück Fl.Nr. *******. Die hieran nördlich anschließende anders strukturierte, nämlich aus großen gewerblichen Gebäuden bestehende Bebauung prägt den Bereich beidseits der Erschließungsstraße, in dem sich das Grundstück Fl.Nr. ******* befindet, nicht mehr.
bbb) Die in dieser Umgebung vorhandene Bebauung entspricht keinem der in der Baunutzungsverordnung bezeichneten Baugebiete.
Entgegen der Auffassung der Beigeladenen handelt es sich nicht um ein "faktisches" Gewerbegebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit § 8 BauNVO). Zwar befinden sich in dem Gebiet überwiegend Gewerbebetriebe (Büro, Schulungsräume auf dem Grundstück Fl.Nr. ****, Designerunternehmen, Telefondienst und Lagerräume auf Fl.Nr. ******** "****-Haus" auf Fl.Nr. *******, Zimmerei auf Fl.Nr. *******, Medizintechnikunternehmen auf Fl.Nr. *******). Es sind aber auch nicht für betriebliche Zwecke genutzte Wohnungen vorhanden, die in einem Gewerbegebiet nicht zulässig wären (Wohnung der ehemaligen Betriebsinhaber der Zimmerei, die nach dem Ausscheiden aus dem Betrieb nicht mehr zum Kreis der nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO begünstigten Personen zählen [Stock in König/Roeser/Stock, BauNVO, § 8 RdNr. 41] in dem "Blockhaus" auf Fl.Nr. *******; Wohnung der Mutter der Klägerin auf Fl.Nr. *******) Ob diese Wohnungen als Betriebsleiterwohnungen genehmigt worden sind, ist unerheblich. Denn jedenfalls die Nutzung des "Blockhauses", das nach dem beim Augenschein gewonnenen Eindruck in dem Gebiet nicht als "Fremdkörper" wirkt, zu Wohnzwecken wird vom Landratsamt seit längerem geduldet und ist damit als vorhanden anzusehen (BVerwG vom 26.5.1978 BVerwGE 55, 369). Ebenfalls unerheblich ist, dass das Gebiet im Flächennutzungsplan als Gewerbegebiet dargestellt ist (BVerwG vom 3.4.1981 BVerwGE 62, 151).
Die vorhandene Bebauung entspricht auch nicht einem Mischgebiet im Sinn von § 6 BauNVO. Zum einen fehlt wegen des deutlichen Übergewichts der gewerblichen Nutzung das für ein Mischgebiet typische etwa gleichgewichtige Nebeneinander von Wohnungen und gewerblichen Nutzungen. Zum anderen wäre die Zimmerei auf dem Grundstück Fl.Nr. ******* als störender Gewerbebetrieb in einem Mischgebiet nicht zulässig (vgl. § 6 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 BauNVO).
ccc) Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist die Wohnnutzung zulässig.
Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn es sich innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Ein solches Vorhaben ist nur dann - ausnahmsweise - unzulässig, wenn es nicht die nach den Umständen des einzelnen Falls gebotene Rücksicht auf die benachbarte Bebauung nimmt (vgl. BVerwG vom 26.5.1978 BVerwGE 55, 369/386 f.).
Nach diesem Maßstab ist die Nutzung der "Gewerbeeinheit 5" als Wohnung zulässig. Sie hält sich im Rahmen des Vorhandenen, das, wie dargelegt wurde, von Wohnbebauung über das Wohnen nicht wesentlich störendes Gewerbe bis zu störendem Gewerbe reicht. Auch das Gebot der Rücksichtnahme ist nicht verletzt; insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Wohnnutzung unzumutbaren Lärmbelästigungen aus der Zimmerei auf dem Grundstück Fl.Nr. ******* ausgesetzt wäre (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 2 Alternative 2 BauNVO).
bb) Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kläger in rechtsmissbräuchlicher oder aus anderen Gründen in besonderem Maße zu missbilligender Weise über die baurechtlichen Vorschriften hinweggesetzt hätten und dass ihnen aus diesem Grund die Folgen der Nutzungsuntersagung schon deswegen zuzumuten waren, weil die materielle Legalität der Wohnnutzung nicht offensichtlich war, haben sich nicht ergeben. Vielmehr liegen bei den Klägern die Gründe vor, die dafür sprechen können, bei der Untersagung der Nutzung von Wohnraum die dargelegten strengeren Anforderungen zu stellen.
2. Da die Untersagung der Wohnnutzung gegenüber den Klägern rechtswidrig ist, ist auch die Zwangsgeldandrohung in Nr. 5 des Bescheids rechtswidrig, soweit sie sich auf diese Nutzungsuntersagung bezieht.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3, § 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 und 2 ZPO. Die mit ihrem Antrag - neben dem Beklagten - unterlegene Beigeladene ist nur an den nach ihrer Beiladung angefallenen Verfahrenskosten zu beteiligen. Infolge des Unterliegens entspricht es der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren durch die Kläger war notwendig (Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.
Beschluss:
Der Streitwert wird unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts ******* vom 24. Juli 2003 für beide Rechtszüge auf je 10.430,34 Euro festgesetzt.
Gründe:
Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf § 72 Nr. 1 Halbsatz 1 GKG n. F. und § 25 Abs. 2 Satz 1, § 14 Abs. 1 Satz 1 und § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a. F. und orientiert sich an Nr. II. 7.3 und I. 8. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 1996 (NVwZ 1996, 563). Bei der Klage gegen eine Nutzungsuntersagung richtet sich der Streitwert nach der Höhe des Schadens, des Ertragsverlustes oder der Aufwendungen. Maßgebend ist hier in entsprechender Anwendung von § 16 Abs. 1 und 2 GKG a. F. der Jahresnutzwert des Mietobjekts, weil die Bedeutung der Sache für den Kläger letztlich in der Erhaltung des Mietverhältnisses besteht (BayVGH vom 12.3.2003 2 C 02.1503; vom 21.10.1999 1 C 99.2231; OVG NRW vom 31.3.1089 NVwZ-RR 1990 110). Dementsprechend ist als Streitwert das zwölffach der Monatsmiete anzusetzen, mithin der vom Kläger angegebene und von den übrigen Beteiligten nicht in Frage gestellte Jahresmietbetrag von 10.430,34 Euro. Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung ist kein gesonderter Streitwert zu bestimmen, da diese mit der Grundverfügung (Nutzungsuntersagung) verbunden wurde und daher für die Kläger keine selbständige Bedeutung hat.
Die Abänderung des vom Verwaltungsgericht festgesetzten Streitwerts beruht auf § 25 Abs. 2 Satz 3 GKG a.F.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Ende der Entscheidung
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