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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 29.11.2006
Aktenzeichen: 1 CS 06.2717
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB, BayBO


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80 a Abs. 3
BauGB § 34 Abs. 1
BayBO Art. 6
Ein vor die Außenwand tretender Bauteil oder Vorbau ist auch dann abstandsflächenrechtlich wie ein versetzter ("fiktiver") Außenwandteil (Art. 6 Abs. 3 Satz 3 BayBO) zu behandeln, wenn er bei der Berechnung der Abstandsflächen nur deswegen nicht nach Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO außer Betracht bleibt, weil er den 2 m-Abstand von den Grundstücksgrenzen nicht einhält.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

1 CS 06.2717

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Anfechtung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Wohnhausanbaus und eines Carports auf Fl.Nr. ***/* Gemarkung ****** (Antrag gemäß § 80 a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO);

hier: Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 4. September 2006,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Langer

ohne mündliche Verhandlung am 29. November 2006

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Nrn. I und II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 4. September 2006 werden geändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamts ****** vom 28. Juni 2006 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 9. August 2006 wird angeordnet. II. Die Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht tragen der Antragsgegner und die Beigeladenen je zur Hälfte; die Beigeladenen tragen ihren Kostenanteil als Gesamtschuldner. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.

Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen selbst.

III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung.

1. Die Antragsteller sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. ***/24 Gemarkung ******. Das Grundstück grenzt mit seiner Westseite an das ebenfalls mit einem Wohngebäude sowie mit einer Garage bebaute Grundstück Fl.Nr. ***/3 der Beigeladenen, das wiederum im Nordosten auf zwei Seiten an das circa 30 m² große, mit einer Garage bebaute und im Eigentum der Antragsteller stehende Grundstück Fl.Nr. ***/20 grenzt. Nach den vorliegenden Plänen steht die Garage der Antragsteller auf ihrer Ostseite mit einer Fläche von circa 0,75 m² auf dem Grundstück der Beigeladenen.

Mit Bescheid vom 28. Juni 2006 erteilte das Landratsamt ****** den Beigeladenen im vereinfachten Genehmigungsverfahren die Baugenehmigung für die Errichtung eines Wohnhausanbaus und eines Carports auf dem Grundstück Fl.Nr. ***/3. Geplant ist ein dreigeschossiger Gebäudeteil mit quadratischem Grundriss (6,99 m × 6,99 m), der nordöstlich des Wohnhauses und östlich der Garage der Beigeladenen sowie südöstlich der Garage der Antragsteller errichtet werden soll. Nach den genehmigten Planzeichnungen wird ein etwa 0,10 m breiter Teil der westlichen Außenwand des Anbaus in einer Entfernung von 0,53 m dem Garagengrundstück der Antragsteller - nicht ganz parallel - gegenüberstehen. Die 0,53 m breite Lücke zwischen dem Anbau und der Garage der Beigeladenen, die an der Grenze zu dem Garagengrundstück der Antragsteller steht und an deren Garage angebaut ist, soll nach den Bauvorlagen mit einer "Vermauerung" geschlossen werden. Der Anbau soll ein Zeltdach mit einer Dachneigung von 18 ° erhalten. Auf allen Seiten ist ein Dachüberstand mit einer Tiefe von 1,00 m (bezogen auf die Außenwände des Erd- und des ersten Obergeschosses) bzw. 1,15 m (bezogen auf die Außenwände des zweiten Obergeschosses) geplant.

Mit Bescheid vom 9. August 2006 ergänzte das Landratsamt die Baugenehmigung um zwei Abweichungen von den Abstandsflächenvorschriften. Zum einen wurde "von der Einhaltung der nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsfläche zum Grundstück Fl.Nr. ***/20" dispensiert. Nach den Gründen des Bescheids erfasst diese Abweichung die in den Bauzeichnungen dargestellte Überschreitung durch den 0,10 m breiten Teil der vor der westlichen Außenwand des Anbaus anfallenden Abstandsfläche. Die andere Abweichung betrifft die auf der Nordseite der "Vermauerung" anfallende Abstandsfläche. Die Antragsteller erhoben gegen die Baugenehmigung und den Ergänzungsbescheid Widerspruch und beantragten beim Verwaltungsgericht München die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Rechtsbehelfe. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 4. September 2006 ab, weil die Baugenehmigung keine nachbarschützenden Vorschriften verletze. Das bauplanungsrechtlich nach § 34 Abs. 1 BauGB zu beurteilende Vorhaben der Beigeladenen füge sich der Nutzungsart nach ohne weiteres in die nähere Umgebung ein. Ob es sich auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung einfüge, könne offen bleiben. Es verstoße jedenfalls nicht zu Lasten der Antragsteller gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Von einer erdrückenden, einmauernden oder abriegelnden Wirkung des Anbaus könne angesichts des Abstands zum Wohngebäude der Antragsteller von circa 25 m keine Rede sein. Die Abstandsflächenvorschriften seien ebenfalls eingehalten. Soweit bezüglich des Garagengrundstücks Fl.Nr. ***/20 eine geringfügige Überdeckung der Abstandsflächen vorliege, sei eine Abweichung erteilt worden. Dabei seien die nachbarlichen Interessen der Beigeladenen hinreichend berücksichtigt worden. Eine Verschlechterung der Belichtungs- und Belüftungsverhältnisse sei nicht erkennbar. Sollte sich im Hauptsacheverfahren herausstellen, dass das Hineinragen des Dachüberstandes in den Luftraum des Garagengrundstücks nicht hinnehmbar sei, könne noch ein Rückbau erfolgen. Im Übrigen werde der Dachüberstand nach Mitteilung der Beigeladene von 1,15 m auf 0,80 m verringert. Eine Verletzung sonstiger nachbarschützender Vorschriften sei nicht ersichtlich.

2. Mit der Beschwerde machen die Antragsteller geltend: Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts verletze ihren Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs, weil sie keine Gelegenheit erhalten hätten, zu dem Schriftsatz der Beigeladenen vom 31. August 2006, der ihnen erst am Tag der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugestellt worden sei, Stellung zu nehmen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts füge sich das Bauvorhaben der Beigeladenen außerdem nicht in die Eigenart der Umgebung ein. Vielmehr weiche der Baukörper vollkommen von der umliegenden Bebauung ab. Der Anbau habe eine abriegelnde und erschlagende Wirkung. Das Verwaltungsgericht habe die Steilheit des Baugrundstücks und die bestehende Höhendiffenz zu ihrem Wohngrundstück nicht berücksichtigt. Außerdem verfüge das Baugrundstück über keine Niederschlagswasserbeseitigungseinrichtung. Schließlich seien die Abstandsflächen nicht eingehalten. Ihr Garagengrundstück werde durch den Dachüberstand des geplanten Anbaus überbaut. Eine Abweichung komme insoweit nicht in Betracht, weil die Antragsteller hierdurch benachteiligt würden. Ein Rückbau des Daches scheide schon aus technischen Gründen aus. Dass der Dachvorsprung inzwischen verringert worden sei, sei unzutreffend. Ein entsprechender Tekturantrag der Beigeladenen liege nicht vor.

Die Antragsteller beantragen sinngemäß,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 4. September 2006 zu ändern und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts ****** vom 28. Juni 2006 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 9. August 2006 anzuordnen sowie dem Antragsgegner aufzugeben, gegenüber den Beigeladenen die Einstellung der Bauarbeiten zu verfügen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 4. September 2006 die Sache zur Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften liege nicht vor. Das Bauvorhaben füge sich nach der Art der baulichen Nutzung in die Umgebung ein. Das Maß der baulichen Nutzung sei nicht nachbarschützend. Die Abstandflächen seien eingehalten. Die Überbauung im Bereich der Grenzgarage sei unerheblich, weil die Baugenehmigung unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt werde. Es bleibe dem Nachbarn unbenommen, Ansprüche im ordentlichen Rechtsweg geltend zu machen.

Die Beigeladenen wenden sich gegen den Antrag und schließen sich den Ausführungen des Antragsgegners an.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

1. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts muss geändert und die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller gegen die Baugenehmigung vom 28. Juni 2006 und den Ergänzungsbescheid vom 9. August 2006 angeordnet werden, weil die Widersprüche aussichtsreich erscheinen. Zwar stehen den Antragstellern mit großer Wahrscheinlichkeit keine Abwehrrechte gegen das Bauvorhaben wegen eines Verstoßes gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot oder wegen einer unzureichenden Erschließung des Baugrundstücks zu. Die Baugenehmigung verletzt die Antragsteller aber in ihren Rechten, weil der geplante Anbau gegen die im vereinfachten Genehmigungsverfahren zu prüfenden, auch dem Schutz der Antragsteller dienenden Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO verstößt (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 BayBO, § 80 a Abs. 3, § 80 Abs. 5, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

a) Das in bauplanungsrechtlicher Hinsicht nach § 34 BauGB zu beurteilende Vorhaben verstößt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu Lasten der Antragsteller gegen das im Begriff des "Einfügens" im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme (vgl. BVerwG vom 11.1.1999 NVwZ 1999, 879).

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es sich hinsichtlich aller vier Zulässigkeitskriterien innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Auch ein den Rahmen wahrendes Vorhaben ist ausnahmsweise unzulässig, wenn es nicht die gebotene Rücksicht auf die Bebauung in der Nachbarschaft nimmt. Umgekehrt ist ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben ausnahmsweise zulässig, wenn es trotz der Überschreitung keine "städtebauliche Spannungen" hervorruft (vgl. BVerwG vom 26.5.1978 BVerwGE 55, 369 f.). Das Einfügungsgebot dient grundsätzlich nur allgemein der städtebaulichen Ordnung und nicht auch dem Schutz der Nachbarn (BVerwG vom 23.6.1995 NVwZ 1996, 170; vom 28.4.2004 NVwZ 2004, 1244). Nachbarrechte werden durch einen Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nur dann verletzt, wenn die ausnahmsweise Unzulässigkeit eines den Rahmen einhaltenden Vorhabens darauf beruht, dass es sich auf ein Nachbargrundstück unzumutbar auswirkt, oder wenn die von einem den Rahmen überschreitenden Vorhaben hervorgerufenen "städtebaulichen Spannungen" gerade in solchen Auswirkungen bestehen (BVerwG vom 6.12.1996 NVwZ-RR 1997, 516).

Nach diesem Maßstab sind Rechte der Antragsteller voraussichtlich nicht verletzt. Ob sich das Bauvorhaben hinsichtlich des durch die Beschwerde allein in Frage gestellten Maßes der baulichen Nutzung, insbesondere im Hinblick auf die Höhe des Anbaus (vgl. § 16 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO, § 18 Abs. 1 BauNVO in entsprechender Anwendung), in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, muss nicht geklärt werden. Aus dem Beschwerdevorbringen geht jedenfalls nicht hervor, dass eine Überschreitung des zulässigen Maßes unzumutbare Auswirkungen auf das Grundstück der Antragsteller hätte. Es ist nicht anzunehmen, dass der dreigeschossige Anbau an der Stelle des Baugrundstücks, an der er geplant ist, eine "abriegelnde" oder "erdrückende Wirkung" auf das Wohngrundstück Fl.Nr. ***/24 der Antragsteller haben wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen "übergroßen" Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG vom 13.3.1981 DVBl 1981, 928: zwölfgeschossiges Gebäude in Entfernung von 15 m zum Nachbarwohnhaus; vom 23.5.1986 DVBl 1986, 1271: drei 11,50 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem Wohnanwesen). Auch unter Berücksichtigung der Geländeverhältnisse - einem "Bestandsplan" zufolge, der sich bei den Bauakten befindet, steigt das Gelände allein im Bereich des Baugrundstücks um mehr als 5 m von Osten nach Westen an - ist jedoch weder zu erwarten, dass der dreigeschossige Anbau mit dem flachgeneigten Zeltdach für sich betrachtet "erdrückend" auf das Anwesen der Antragsteller wirken wird, noch wird der einschließlich Anbau in Nord-Süd-Richtung knapp 18 m lange "Gesamtbaukörper" diese Wirkung haben. Für diese Beurteilung sprechen der Standort des Anbaus nordwestlich des Wohnhauses der Antragsteller, die Entfernung von etwa 25 m von diesem Wohnhaus und von etwa 12 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze sowie die Tatsache, dass der Blick der Antragsteller in südwestlicher und westlicher Richtung nicht geschmälert wird.

b) Auch hinsichtlich der Niederschlagwasserbeseitigung verletzt die Baugenehmigung die Antragsteller nicht in ihren Rechten. Zwar ist nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ein Vorhaben im Innenbereich nur dann zulässig, wenn auch die Erschließung gesichert ist. Hierzu gehört auch eine ordnungsgemäße Niederschlagswasserbeseitigung. Die Anforderungen an eine gesicherte Erschließung bestehen aber grundsätzlich nur im öffentlichen Interesse und dienen nicht auch dem Nachbarschutz. Etwas anderes kann - unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebots - ausnahmsweise dann gelten, wenn durch die unzureichende Erschließung unmittelbar Nachbargrundstücke betroffen sind, etwa wenn das Niederschlagswasser auf das Grundstück des Nachbarn abgeleitet wird und es dadurch zu Überschwemmungen auf dem Nachbargrundstück kommt. Dass solche Umstände bei dem Grundstück der Antragsteller gegeben sind, haben diese weder geltend gemacht noch ist dies sonst ersichtlich.

c) Die Baugenehmigung verstößt jedoch gegen die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO.

aa) Abstandsflächenrecht wird allerdings nicht schon dadurch verletzt, dass das Garagengrundstück Fl.Nr. ***/20 durch die Dachüberstände des Anbaus überbaut würde (vgl. § 912 BGB). Da eine Baugenehmigung unbeschadet privater Rechte Dritter erteilt wird (Art. 72 Abs. 4 BayBO), gibt der Genehmigungsbescheid den Beigeladenen nicht das Recht, das Grundstück der Antragsteller zu überbauen; vielmehr könnten sich diese gegen einen Überbau mit den Mitteln des Zivilrechts zur Wehr setzen (BayVGH vom 19.2.2004 - 26 ZB 03.1559 - Juris; vom 8.9.1998 BayVBl. 1999, 215; VGH BW vom 4.3.1996 NJW 1996, 3429).

bb) Eine Rechtsverletzung liegt aber - auch wenn man die Dachvorsprünge zunächst außer Acht lässt - schon deswegen vor, weil ein zwischen 0,10 m und 0,20 m breiter sowie 8,46 m tiefer Teil der vor der westlichen Außenwand des Anbaus anfallenden Abstandsfläche auf dem Garagengrundstück der Antragsteller liegt. Dies widerspricht Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO, dem zufolge die Abstandsflächen grundsätzlich auf dem Baugrundstück liegen müssen. Ein Ausnahmetatbestand, dem zufolge sich die Abstandsflächen auf ein Nachbargrundstück erstrecken dürfen, ist nicht erfüllt. Das Garagengrundstück der Antragsteller ist zwar nur etwa 30 m² groß. Es handelt sich aber nicht um ein Grundstück, das im Sinne von Art. 7 Abs. 5 Satz 1 Alternative 2 oder 3 BayBO nicht überbaut werden kann (vgl. BayVGH vom 15.5.2006 - 1 B 04.1893 - Juris). Unerheblich ist, dass es sich um eine geringfügige, den Nachbarn tatsächlich nur geringfügig beeinträchtigende Überschreitung handelt (Dhom in Simon/Busse, BayBO, Art. 6 RdNr. 307 mit weiteren Nachweisen).

Durch die nachträglich zugelassene Abweichung (Art. 70 Abs. 1 BayBO) wurde der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO nicht ausgeräumt; vielmehr dürfte die Abweichung rechtswidrig sein. Das Instrument der Abweichung ist kein beliebig heranzuziehendes Reparaturmittel für Gesetzesverstöße. Eine Abweichung ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn nachbarliche Belange nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt sind, weil sich die Belichtung und Lüftung des Nachbargrundstücks (vgl. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 BayBO) nicht verschlechtert. Die Zulassung einer Abweichung setzt, worauf das Verwaltungsgericht nicht eingegangen ist, eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung voraus (vgl. BayVGH vom 14.12.1994 VGH n.F. 48, 24). Ein solcher Sonderfall liegt hier offensichtlich nicht vor. Der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO, den das Landratsamt mit der Abweichung heilen wollte, lässt sich nämlich - vorbehaltlich der im Folgenden zu erörternden abstandsflächenrechtlichen Auswirkungen der Dachüberstände - ohne weiteres dadurch vermeiden, dass die Grundfläche des Anbaus geringfügig verkleinert wird.

Dieser Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO ist im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen, obwohl er in der Beschwerdebegründung der Antragsteller nicht ausdrücklich angesprochen ist. Nach dem Wortlaut von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO prüft das Beschwerdegericht in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zwar nur die vom Beschwerdeführer dargelegten Gründe. Im Hinblick auf die dem Gericht obliegende Verpflichtung, durch eine in der Sache richtige Entscheidung effizienten Rechtsschutz zu gewährleisten (Art. 19 Abs. 4 GG), sind jedoch auch zwar nicht dargelegte, aber ohne weiteres zu erkennende Mängel der angefochtenen Entscheidung jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn sie Gesichtspunkte betreffen, die "im Ansatz" bereits in das Verfahren eingeführt sind (BayVGH vom 27.8.2002 BayVBl 2003, 304; vom 10.7.2006 - 1 CS 06.407 - Juris mit weiteren Nachweisen). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil der Verstoß gegen Art. 70 BayBO ohne weiteres zu ersehen ist und weil die Beschwerdebegründung hierzu zwar keine detaillierten Ausführungen enthält, aber die abstandsflächenrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens und die Rechtmäßigkeit der Abweichungen allgemein in Frage stellt. cc) Die Baugenehmigung verstößt ferner wegen der auf der Nord- und auf der Westseite des Anbaus geplanten Dachvorsprünge insoweit gegen die Abstandsflächenvorschriften, wie diese Vorsprünge den Grenzen des Garagengrundstücks der Antragsteller gegenüberliegen. Insoweit sind die Voraussetzungen, unter denen Dachvorsprünge nach Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht bleiben, nicht erfüllt. Für die Berechnung der auf der westlichen und der nördlichen Gebäudeseite einzuhaltenden Abstandsflächen sind deshalb insoweit nicht die (reale) westliche und nördliche Außenwand, sondern jeweils ein "fiktiver" Außenwandteil auf Höhe der Außenkante (Traufkante) der Dachvorsprünge maßgebend. Die vor diesen "fiktiven" Außenwandteilen anfallenden Abstandsflächen liegen - unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO - jeweils zu einem nicht unerheblichen Teil auf dem Grundstück Fl.Nr. ***/20 der Antragsteller.

Nach Art. 6 Abs. 3 Satz 3 BayBO ist die für die Berechnung der Abstandsfläche maßgebende Wandhöhe (Art. 6 Abs. 3 Satz 1 BayBO) bei Gebäuden oder Gebäudeteilen mit versetzten Außenwandteilen für jeden Wandteil in derselben Weise zu ermitteln wie für eine nicht gegliederte Außenwand. Bei der Abstandsflächenberechnung unberücksichtigt bleiben jedoch vor die Außenwand tretende Bauteile und Vorbauten, wie (u. a.) Dachvorsprünge, wenn sie im Verhältnis zu der ihnen zugehörigen Außenwand untergeordnet sind, nicht mehr als 1,50 m vortreten und von den Grundstücksgrenzen mindestens 2 m entfernt bleiben (Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO). Der 2 m-Abstand ist nicht nur von der Grenze einzuhalten, die der zugehörigen Außenwand gegenüberliegt, sondern auch von seitlichen Grundstücksgrenzen (es sei denn, dass nach planungsrechtlichen Vorschriften an diese Grenzen gebaut werden darf [Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO]). Ist eine der drei Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO nicht erfüllt, findet Art. 6 Abs. 3 Satz 3 BayBO Anwendung mit der Folge, dass für die vorderen und seitlichen Außenwandteile des Bauteils bzw. Vorbaus die Abstandsfläche jeweils gesondert zu berechnen ist. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift gilt dies auch für den 2 m-Abstand von den Grundstücksgrenzen (vgl. VGH BW vom 30.10.1985 BRS 44, Nr. 102; Rauscher in Simon/Busse, BayBO, Art. 6 RdNrn. 155 und 209). Hat ein vortretender Bauteil bzw. Vorbau, der nicht außer Betracht bleiben darf, selbst keine "realen" Außenwände, dann sind der Abstandsflächenberechnung - in der Flucht der Außenkanten des Bauteils/Vorbaus - anzuordnende "fiktive" (vordere und seitliche) Wände zugrunde zu legen, so wie bei einem auf einer Seite offenen Gebäude eine "fiktive" Wand mit den Maßen, die eine "reale" Wand an dieser Stelle hätte, zugrunde gelegt wird (vgl. BayVGH vom 13.4.2005 - 1 B 04.636 - Juris; vom 30.8.1984 BayVBl 1985, 153 = NVwZ 1984, 430; Koch/Molodovsky/Famers, BayBO, Art. 6 Anm. 2.3.; Dhom in Simon/Busse, BayBO, Art. 6 RdNr. 11).

Nach diesem Maßstab sind die Dachvorsprünge auf der West- und der Nordseite bei der Abstandsflächenberechnung zu berücksichtigen, soweit sie dem Grundstück Fl.Nr. ***/20 der Antragsteller gegenüberliegen. Es kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO bei dem 1 m x 1 m großen Teil des Vordaches an der Nordwestecke des Gebäudes schon deswegen nicht erfüllt sind, weil sich dieser Teil des um die Ecke geführten Vordachs weder vor der westlichen noch vor der nördlichen Außenwand befindet, sondern nur vor gedachte Linien in Verlängerung der westlichen und nördlichen Außenwand tritt (vgl. OVG NW vom 17.11.2000 BRS 63, Nr. 145 [zu einem um die Hausecke geführten Balkon]). Auch wenn man Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO in dem nordwestlichen Eckbereich des Vordaches nicht schon aus diesem Grund für unanwendbar hält, sondern, was nach Auffassung des Senats näher liegt, diesen Teil des Vordaches, je nachdem, um welche Gebäudeseite es geht, dem Dachvorsprung vor der nördlichen oder der westlichen Außenwand zuordnet, sind die Voraussetzungen der Vorschrift nicht erfüllt. Zwar treten die Dachvorsprünge jeweils nur 1,00 m vor die ihnen zugehörigen Außenwände; die Vorsprünge erscheinen auch untergeordnet. Sie dürfen bei der Berechnung der Abstandsflächen aber nicht "außer Betracht bleiben", weil ihre Außenkanten in dem Bereich, in dem die Dachvorsprünge dem Garagengrundstück der Antragsteller gegenüberliegen, nicht den erforderlichen Abstand von mindestens 2 m von der südlichen und der östlichen Grenze dieses Grundstücks einhalten (die Dachvorsprünge ragen teilweise sogar in den Luftraum des Garagengrundstücks hinein).

Sind die dem Grundstück der Antragsteller gegenüberliegenden Abschnitte der Dachüberstände aber abstandsflächenrechtlich zu berücksichtigen, dann sind für die Berechnung der Abstandsflächen insoweit nicht die realen Außenwände des Anbaus maßgebend, sondern - nach Art. 6 Abs. 3 Satz 3 BayBO - fiktive Außenwandteile in der Flucht der Außenkanten der Dachüberstände (VGH BW vom 30.10.1985 BRS 44, Nr. 102; Rauscher in Simon/Busse, BayBO, Art. 6 RdNrn. 155 und 209). Die so berechneten Abstandsflächen erstrecken sich unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO in westlicher Richtung mit einer Breite von 1 m und in nördlicher Richtung mit einer Breite 0,47 m auf das Garagengrundstück der Antragsteller.

d) Die Nichteinhaltung der Abstandsflächenvorschriften führt dazu, dass die aufschiebende Wirkung der Widersprüche in vollem Umfang anzuordnen ist. Eine teilweise Anordnung kommt nicht in Betracht, weil die Baugenehmigung insoweit nicht teilbar erscheint. Die Beigeladenen müssen als Bauherren selbst entscheiden, ob sie die Verstöße gegen Art. 6 BayBO - neben der wohl unumgänglichen geringfügigen Verkürzung der westlichen Außenwand des Anbaus - durch einen vollständigen Verzicht auf Dachvorsprünge oder durch eine Veränderung des Grundrisses des Anbaus ausräumen wollen, die es ermöglicht, (verkürzte) Dachvorsprünge so anzuordnen, dass sie nicht dem Grundstück der Antragsteller gegenüberliegen oder von dessen Grenzen 2 m entfernt bleiben.

3. Einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte der Antragsteller anzuordnen (§ 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO), erscheinen nicht veranlasst, weil es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Beigeladenen die aufschiebende Wirkung nicht beachten würden und dass das Landratsamt auf eine Nichtbefolgung nicht mit den gebotenen bauaufsichtlichen Maßnahmen reagieren würde.

4. Der Antragsgegner ist als Unterlegener kostenpflichtig (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht trägt er - gemäß § 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO zu gleichen Teilen - gemeinsam mit den gleichfalls unterlegenen Beigeladenen. Diesen dürfen insoweit Kosten auferlegt werden, weil sie in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht einen Antrag gestellt haben (§ 154 Abs. 3 VwGO). Die Beigeladenen haften für ihren Kostenanteil als Gesamtschuldner (§ 159 Satz 2 VwGO). Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsgegner allein zu tragen, weil die Beigeladenen in diesem Verfahren keinen Antrag gestellt haben. Dass die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen, erscheint schon deswegen als billig (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil sie unterlegen sind.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 3 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nrn. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2004 (NVwZ 2004, 1327).

Ende der Entscheidung

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