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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 27.02.2008
Aktenzeichen: 10 ZB 07.1644
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 124 a Abs. 4 Satz 4
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils kann auch auf neue Tatsachen gestützt werden, die sich innerhalb der zweimonatigen Begründungsfrist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO abzeichnen und erst nach deren Ablauf eintreten. Mit ihnen muss sich das Berufungsgericht befassen, wenn im Zulassungsantrag auf sie hingewiesen wird und wenn sie bis zur Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten sind.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

10 ZB 07.1644

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Ausweisung;

hier: Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Mai 2007,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 10. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Simmon, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Häußler

ohne mündliche Verhandlung am 27. Februar 2008

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Die Berufung wird zugelassen.

II. Der Streitwert wird vorläufig auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Parteien streiten um die Zulassung der Berufung.

1. Der in Deutschland geborene und aufgewachsene Kläger ist albanischer Volkszugehöriger. Seine Familie stammt aus dem Kosovo. Er wurde wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten ohne Bewährung verurteilt und deswegen von der Beklagten mit Bescheid vom 8. September 2006 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Die dagegen gerichtete Anfechtungsklage blieb ohne Erfolg, weil ein Regelausweisungsgrund vorliege.

2. Mit dem fristgerecht eingegangenen Antrag auf Zulassung der Berufung macht der Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend. Das Verwaltungsgericht habe dem Kläger zu Unrecht die Stellung eines faktischen Inländers versagt. Außerdem beabsichtige der Kläger, eine deutsche Staatsangehörige zu heiraten. Nach Ablauf der Begründungsfrist heiratete der Kläger und legte einen Nachweis über die Eheschließung vor.

3. Die Landesanwaltschaft hat als Vertreter des öffentlichen Interesses vorgetragen, dass die Zulassungsgründe innerhalb der Monatsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht hinreichend dargelegt worden seien. Außerdem sei die Eheschließung deswegen nicht zu berücksichtigen, weil sie nicht innerhalb der zweimonatigen Begründungsfrist erfolgt sei. In der Sache sei die Ausweisung nicht zu beanstanden, da die Ehe in Kenntnis der Ausweisung geschlossen worden sei. Die Beklagte zieht das Vorhandensein einer ehelichen Lebensgemeinschaft in Zweifel.

II.

Die Berufung ist nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, da ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen.

1. Das Vorbringen des Klägers genügt noch dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Das Darlegungsgebot des § 124 a VwGO dient zum einen der Entlastung der Gerichte durch eine Beschränkung des Prüfprogramms im Zulassungsverfahren. Es verfolgt zum anderen den Zweck, den Kläger in die Prüfung der Berufungswürdigkeit der Sache einzubeziehen. Es hält ihn an, sorgfältig zu prüfen, ob die für eine Berufung vorgeschriebenen Zulassungsgründe vorliegen und ob es unter diesen Umständen aus seiner Sicht sinnvoll ist, das Rechtsmittel überhaupt einzulegen. Aus diesem Grund muss der Kläger in der Begründung seines Antrags entweder ausdrücklich oder zumindest in der Sache einen der gesetzlichen Zulassungsgründe benennen und dazu substantielle Ausführungen machen (vgl. Happ in Eyermann VwGO, 12. Aufl. 2006, RdNr. 54, 57 und 59 zu § 124a).

Der sehr knapp gehaltene Zulassungsantrag des Klägers entspricht diesen Anforderungen gerade noch, weil er eine Prüfung der Zulassungsgründe und der Zulassungschancen erkennen lässt. Er nimmt Bezug auf den Zulassungsrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und setzt sich insofern mit den Gründen des verwaltungsgerichtlichen Urteils auseinander, als er die Behandlung des Klägers als faktischen Inländer einfordert. Auch wenn der Klägervertreter diese Gegenargumentation in rechtlicher Hinsicht nicht vertieft hat, wird damit in ausreichender Weise auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 Abs. 1 EMRK bei der Ausweisung von Ausländern der zweiten Generation Bezug genommen (vgl. EGMR vom 28.06.2007 InfAuslR 2007, 325 m.w.N.). Auch hat der Kläger die neue Tatsache der beabsichtigten Eheschließung hinreichend konkret dargelegt, indem er innerhalb der Begründungsfrist Name und Adresse der Verlobten sowie die Anmeldung der Eheschließung beim Standesamt München angegeben hat. Eine darüber hinausgehende Glaubhaftmachung ist von § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht geboten und wurde auf Aufforderung des Berichterstatters nach § 87 b VwGO nachgeholt.

2. Entgegen der Ansicht der Landesanwaltschaft kann der Zulassungsantrag auch auf neue Tatsachen gestützt werden, die sich innerhalb der zweimonatigen Begründungsfrist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO abzeichnen und erst nach deren Ablauf eintreten. Die Berufung hat nach wie vor die Aufgabe einer zweiten Tatsacheninstanz. Das Berufungsgericht hat deshalb neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen (§ 128 Satz 2 VwGO). Der Zweck des Berufungsverfahrens gebietet es daher, auch bei der Auslegung der Zulassungsvoraussetzungen die Möglichkeit neuen Tatsachenvortrags zu berücksichtigen (vgl. BVerwG vom 14.6.2002 NVwZ-RR 2002, 894). Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist für die Berücksichtigung neuen Vorbringens offen. Zweck dieser Zulassungsvorschrift ist es, die Richtigkeit verwaltungsgerichtlicher Urteile im Einzelfall zu sichern. Es kommt also nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht angesichts der ihm erkennbaren Tatsachen- und Rechtsgrundlagen subjektiv richtig entschieden hat. Maßgeblich ist vielmehr, ob sich die Entscheidung auch bei Berücksichtigung des dem Berufungsgericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials und bei Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Rechtsänderungen als objektiv richtig erweist oder ob daran ernstliche Zweifel bestehen (vgl. BVerwG vom 14.6.2002 NVwZ-RR 2002, 894 und vom 15.12.2003 NVwZ 2004, 744).

Maßgeblich ist in zeitlicher Hinsicht die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der berufungsgerichtlichen Entscheidung über den Zulassungsantrag (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, RdNr. 81 zu § 124a). Zwar schränkt die zweimonatige Zulassungsbegründungsfrist die Möglichkeit der antragstellenden Prozesspartei ein, auf neue tatsächliche und rechtliche Entwicklungen hinzuweisen. Sie begründet jedoch nur eine formelle Schranke und ändert an der materiellen Pflicht des Berufungsgerichts, auch nach diesem Zeitpunkt eingetretene Rechtsänderungen zu berücksichtigen, nichts. Dies folgt schon daraus, dass die Zwei-Monats-Frist nur Möglichkeiten des Rechtsmittelführers zum Vortrag neuer tatsächlicher und rechtlicher Gesichtspunkte beschneidet, nicht aber die Rechte des Rechtsmittelgegners. Daher muss das Berufungsgericht auch solche nach materiellem Recht entscheidungserhebliche und innerhalb der Antragsfrist vorgetragenen Rechtsänderungen berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bis zur Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten sind (vgl. BVerwG vom 15.12.2003 NVwZ 2004, 744; BayVGH vom 25.9.2007, 24 ZB 07.1643, juris RdNr. 7). Für die Berücksichtigung neuer Tatsachen kann nichts anderes gelten. Auch mit ihnen muss sich das Berufungsgericht befassen, wenn im Zulassungsantrag auf sie hingewiesen wird und wenn sie bis zur Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten sind.

Daher konnte der Kläger in seinem Zulassungsantrag als neue Tatsache vortragen, dass er eine schutzwürdige Beziehung zu einer deutschen Staatsangehörigen hat und dass eine Eheschließungsabsicht besteht. Soweit die Landesanwaltschaft einwendet, dass die Eheschließung selbst nicht berücksichtigt werden könne, weil sie nicht innerhalb der Zweimonatsfrist geschlossen worden sei, überzeugt eine solche zeitliche Begrenzung der Berücksichtigung neuer Tatsachen nicht. Denn § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO stellt wie oben dargestellt nur eine formelle und keine materielle Präklusionsfrist für das Vorbringen neuer Tatsachen in der Berufungsinstanz dar (vgl. Happ in Eyermann, VwGO § 124 RdNr. 22).

3. Es bestehen auch ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Das Verwaltungsgericht München hat die Ausweisung des Klägers ohne Ermessensentscheidung der Behörde aufgrund der Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zugelassen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger als Ausländer der zweiten Generation und als Ehegatte einer deutschen Staatsangehörigen zu der Fallgruppe gehört, bei der eine Ausweisung nur nach Ermessen unter besonderer Berücksichtigung des Art. 8 Abs. 2 EMRK möglich ist (vgl. BVerwG vom 23.10.2007 1 C 10.07 <juris>). Ob der Kläger deswegen einen geringeren Schutz genießt, weil die Ehe in Kenntnis der Ausweisung geschlossen worden ist oder weil eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht besteht, bedarf der weiteren Aufklärung und genaueren rechtlichen Prüfung.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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