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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 28.09.2006
Aktenzeichen: 12 B 04.1266
Rechtsgebiete: SGB VIII, SGB I


Vorschriften:

SGB VIII § 86
SGB VIII § 89 c Abs. 1
SGB I § 30 Abs. 3 S. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 B 04.1266

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder- und Jugendhilfe;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. März 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 27. September 2006

am 28. September 2006

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. März 2004 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt vom Beklagten Kostenerstattung für die den Eltern von Andreas B. in der Zeit vom 23. Mai 2001 bis zum 23. März 2003 gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung.

Das Kind, für das die elterliche Sorge den nicht verheirateten und getrennt lebenden Eltern seit den Sorgeerklärungen vom 16. Oktober 2000 gemeinsam zustand, lebte seit seiner Geburt im Jahr 1995 im Haushalt seiner Mutter, die ab 1997 im Zuständigkeitsbereich des Klägers wohnte. Da die Mutter mit der Erziehung ihres Kindes überfordert war, bei dem aufgrund des häufigen Wechsels von Bezugspersonen Verhaltensauffälligkeiten festgestellt wurden, erhielt sie vom Kläger von November 2000 bis Ende Mai 2001 sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII. Da die Mutter des Kindes ab Mitte Mai 2001 zu einem Lebensgefährten in den Landkreis des Beklagten zog und andererseits die bestehenden Kontakte zum Vater des Kindes aufrechterhalten werden sollten, entschloss sich das Jugendamt des Klägers in Absprache mit den Eltern, das Kind in einem Heim unterzubringen. Um dem Kind vor der Heimunterbringung einen erneuten Ortswechsel mit der Mutter zu ersparen, versorgte der Vater zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin und jetzigen Ehefrau in der Zeit vom 11. Mai bis zum 23. Mai 2001 übergangsweise seinen Sohn im Haus der künftigen Schwiegereltern in der Gemeinde W. im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Von dort aus besuchte das Kind bis zur Heimunterbringung den gewohnten Kindergarten. Der Vater des Kindes, der damals noch im Nachbarlandkreis in der Wohnung seiner Eltern gemeldet war, arbeitete in der Gemeinde W. im selben Betrieb wie seine Lebensgefährtin und plante zum damaligen Zeitpunkt, im Haus seiner künftigen Schwiegereltern eine gemeinsame Wohnung für sich und seine künftige Ehefrau auszubauen. Nach dem Ende der Heimunterbringung im Juli 2003 lebte das Kind wieder im Haushalt seiner Mutter, die sich seit März 2003 im Landkreis H. aufhielt.

Mit Urteil vom 1. März 2004 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger die Heimkosten in Höhe von 69.659,16 € nebst Prozesszinsen zu erstatten. Nach § 89 c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sei der Beklagte als nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII zuständiger Jugendhilfeträger dem vorläufig tätig gewordenen Kläger zur Kostenerstattung verpflichtet. Das Kind habe vor Beginn der Leistung, die mit der sozialpädagogischen Familienhilfe begonnen habe und durch die Heimunterbringung fortgesetzt worden sei, seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seiner Mutter gehabt, so dass es auf deren gewöhnlichen Aufenthalt ankomme.

Die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Berufung begründet der Beklagte im Wesentlichen damit, dass zwischen der sozialpädagogischen Familienhilfe, die sich in wenigen Gesprächen mit Familienmitgliedern erschöpft habe, und der Heimunterbringung kein Zusammenhang bestanden habe. Anders als die sozialpädagogische Familienhilfe habe die Heimunterbringung nicht der Unterstützung der Mutter bei der Erziehung ihres Sohnes gedient. Vor der Heimunterbringung habe das Kind aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seinem Vater gehabt, so dass es nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf dessen gewöhnlichen Aufenthalt ankomme.

Er beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. März 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die sozialpädagogische Familienhilfe und die Hilfe zur Erziehung seien als einheitliche, den unverändert fortbestehenden jugendhilferechtlichen Bedarf abdeckende Leistung anzusehen, so dass es nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter ankomme. Im Übrigen hätten die Eltern im Zuständigkeitsbereich des Klägers niemals einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Der Vater des Kindes habe im maßgeblichen Zeitraum in der Gemeinde Z. im Nachbarlandkreis gelebt. Erst nach Fertigstellung der Wohnung im Jahr 2004 habe er zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Gemeinde W. begründet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in der mündlichen Verhandlung am 27. September 2006 durch Einvernahme des Vaters von Andreas B. als Zeugen Beweis erhoben über dessen gewöhnlichen Aufenthalt in der Zeit ab Oktober 2000.

Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift über die Sitzung, wegen weiterer Einzelheiten auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Beklagten hat Erfolg, weil dem Kläger gegen den Beklagten kein Erstattungsanspruch zusteht. Da der Kläger nach § 86 Abs. 1 S. 1 und § 86 Abs. 5 S. 2 SGB VIII für die Heimunterbringung nach § 34 S. 1 SGB VIII zuständig war, kann er sich nicht auf die im vorliegenden Fall allein in Betracht kommenden Varianten des § 89 c Abs. 1 SGB VIII berufen.

Nach § 86 Abs. 1 S. 1 SGB VIII ist für Jugendhilfeleistungen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Diese grundlegende Zuständigkeitsregelung des § 86 SGB VIII greift nicht nur ein, wenn die Eltern bei Beginn der Leistung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich desselben Trägers haben, sondern auch dann, wenn die Eltern während der Jugendhilfeleistung diesen im Zuständigkeitsbereich desselben Trägers begründen. Daher kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob die Eltern bereits zu Beginn der sozialpädagogischen Familienhilfe im November 2000 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers hatten, sofern - wofür vieles spricht - die sozialpädagogische Familienhilfe und die nachfolgende Heimunterbringung als einheitliche Leistung zu sehen sind (vgl. BVerwGE 120, 116). Ausreichend ist vielmehr, dass der Vater von Andreas seit dem Antrag der Eltern vom 22. Dezember 2000, Andreas in einem Heim unterzubringen, seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers hatte. Der Verwaltungsgerichtshof ist aufgrund der Zeugenaussage des Vaters von Andreas überzeugt, dass dieser - abgesehen vom Aufenthalt in B. von Juli 2002 bis Februar 2003 - spätestens Ende des Jahres 2000 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Gemeinde W. im Zuständigkeitsbereich des Klägers hatte. Nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgeblich ist daher, ob sich die Person in dem fraglichen Gebiet bis auf weiteres im Sinn eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort dem Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (vgl. BVerwG vom 18. 3.1999 NVwZ-RR 1999, 583). Da es einer sinnvollen Verwaltungsorganisation widersprechen würde, den für die örtliche Zuständigkeit maßgeblichen gewöhnlichen Aufenthalt des Vaters nach dem tageweise wechselnden, tatsächlichen Aufenthalt bei seiner damaligen Lebensgefährtin und jetzigen Ehefrau und in der elterlichen Wohnung in der Gemeinde Z. im Nachbarlandkreis aufzuspalten, ist es gerechtfertigt, die örtliche Zuständigkeit an den Ort zu knüpfen, der die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Vaters von Andreas maßgeblich bestimmte und seinen Lebensmittelpunkt bildete (vgl. BVerwGE 96, 152). Das ist die in den Zuständigkeitsbereich des Klägers fallende Gemeinde W., in der sich der Arbeitsplatz des Vaters befand und wo auch seine Lebensgefährtin im Haus ihrer Eltern wohnte, bei der sich der Vater von Andreas stets aufhielt, sofern seine Lebensgefährtin nicht während seiner Freizeit arbeiten musste oder er sich wegen seiner sportlichen Aktivitäten im Nachbarlandkreis aufhielt. Dass die Wohnung seiner Eltern, die er vorwiegend wegen des Trainings und der Spiele im Fußballverein aufsuchte, nicht mehr den "Schwerpunkt seiner Lebensbezüge" (vgl. VGH BW vom 21.6.1995 ESVGH 46, 75) darstellte, zeigt neben dem Übergewicht der zeitlichen Aufenthaltsdauer in der Gemeinde W., in der der Vater von Andreas nicht nur arbeitete, sondern auch soviel Zeit wie möglich mit seiner Lebensgefährtin verbrachte, insbesondere deren bereits im Jahr 2000 geäußerte und später verwirklichte Planung, die im Erdgeschoss des Hauses der künftigen Schwiegereltern gelegene Wohnung auszubauen und zu renovieren.

Da die Mutter von Andreas bis Mitte Mai 2001 und auch der Vater von Andreas spätestens seit dem Antrag, das Kind in einem Heim unterzubringen, ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Klägers hatten, war dieser für den Hilfefall nach § 86 Abs. 1 S. 1 SGB VIII zuständig. Der Umzug der Mutter von Andreas in den Bereich des Beklagten änderte daran nichts. Denn § 86 Abs. 5 S. 2 SGB VIII belässt es für den vorliegenden Fall, dass die Eltern, denen die Personensorge gemeinsam zusteht, nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen, bei der bisherigen Zuständigkeit.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 188 S. 2 HS. 2 VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat auf eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckung verzichtet, weil er davon ausgeht, dass der Beklagte nicht beabsichtigt, seine außergerichtlichen Kosten vor Eintritt der Rechtskraft zu vollstrecken.

3. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs.2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 69.659,16 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1 S. 1, § 52 Abs. 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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