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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 04.06.2007
Aktenzeichen: 12 B 06.2784
Rechtsgebiete: BSHG, BayEUG


Vorschriften:

BSHG § 2 Abs. 1
BSHG § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
BayEUG Art. 21
BayEUG Art. 41 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 B 06.2784

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Sozialhilferecht;

hier: Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 3. Mai 2005,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat, durch

den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

ohne mündliche Verhandlung am 4. Juni 2007

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 3. Mai 2005 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger für das Schuljahr 2004/2005 Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten des Integrationshelfers für den Besuch der Montessori-Schule in W. in Höhe von 13.115,40 Euro zu gewähren.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1998 geborene Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) für das Schuljahr 2004/2005 die Kosten eines Integrationshelfers für den Besuch der Montessori-Schule in W. zu übernehmen.

1. Der Kläger leidet an einer rechtsbetonten spastischen Tetraparese und ist dadurch wesentlich behindert. Seine Eltern beantragten mit Schreiben vom 16. Februar 2004 beim Beklagten die Übernahme der Kosten einer Unterstützungskraft bei der Einschulung ihres Sohnes. Wegen seiner körperlichen Beeinträchtigungen benötige er für Schulweg, Unterrichtsverlauf und Schülerarbeitsplatz während des gesamten Schulvormittags die pflegerische Unterstützung durch einen individuellen Schulhelfer. Mit dieser Unterstützung könne er eine Regelschule, hier die private Montessori-Schule in W., besuchen und dort aktiv am Unterricht teilnehmen. Dieses Vorbringen wurde durch ein privatärztliches Gutachten vom 15. April 2004 und eine Stellungnahme des zuständigen Gesundheitsamtes vom 14. Juli 2004 belegt.

Der Beklagte entschied über diesen Antrag nicht.

2. Am 20. Juli 2004 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht mit dem Antrag, den Beklagten zu verpflichten, die Kosten eines Schulbegleiters für das Schuljahr 2004/2005 im Umfang von 20 Stunden pro Woche und in Höhe von monatlich 1.170 Euro zu übernehmen.

Mit Urteil vom 3. Mai 2005 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Dem Kläger stehe kein Anspruch auf die begehrte Eingliederungshilfe für Behinderte zu. Unter Berufung auf den Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe könne der Beklagte den Kläger auf die Möglichkeit verweisen, vorrangig eine Förderschule zu besuchen und damit die Übernahme der Kosten des individuellen Schulbegleiters ablehnen. Der Kläger sei gemäß Art. 41 Abs. 1 Satz 1 BayEUG berechtigt, aber nicht verpflichtet, die Montessori-Schule zu besuchen. Diese Schule stelle deshalb für ihn nicht die einzige Möglichkeit dar, das Ziel einer angemessenen Schulbildung anzustreben. Wie die Beweisaufnahme ergeben habe, könne der Kläger am Unterricht der Montessori-Schule aktiv teilnehmen. Sein sonderpädagogischer Förderbedarf werde dort hinreichend erfüllt. Voraussetzung sei aber, dass er einen Schulbegleiter stelle. Geschehe dies nicht, sei ein Besuch der Montessori-Schule nicht möglich. Er erfülle auch die Voraussetzungen für die Aufnahme in eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung gemäß Art. 20 Abs. 1 Nr. 3 BayEUG. Der Besuch dieser Schule, die im selben Landkreis wie der Wohnort des Klägers liege, sei für ihn objektiv zumutbar. Für den Besuch der Förderschule benötige er keine Eingliederungshilfe in Form der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG. Damit könne er sich im Sinn von § 2 Abs. 1 BSHG selbst helfen. Höherrangiges Recht, wie etwa Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, gebiete nicht, dass der Nachranggrundsatz hinter dem Wunsch des Klägers und seiner Eltern nach Ermöglichung des Besuchs der Montessori-Schule zurücktrete.

3. Mit Beschluss vom 6. Oktober 2005 lehnte der Senat den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil ab. Auf die Begründung dieser Entscheidung wird Bezug genommen.

Auf die gegen diesen Beschluss und das Urteil des Verwaltungsgerichts erhobene Verfassungsbeschwerde hob der Bayerische Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 23. August 2006 den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Oktober 2005 auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurück. Im Übrigen wies er die Verfassungsbeschwerde ab.

Mit Beschluss vom 22. November 2006 hat der Verwaltungsgerichtshof die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 3. Mai 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten des Integrationshelfers für das Schuljahr 2004/2005 in Höhe von 13.115,40 Euro zu übernehmen.

Er erfülle die schulrechtlichen Voraussetzungen für den Besuch der Allgemeinschule, so dass der Beklagte als Sozialhilfeträger ihn nicht auf eine Förderschule verweisen könne. Auch wegen des Besuchs einer Privatschule dürfe er aus Gleichbehandlungsgründen nicht schlechter gestellt werden als wenn er eine staatliche Grundschule besuchen würde. Zudem weiche die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Juni 2005 (Az. 12 BV 03.3176) ab. Da er zur Finanzierung der Kosten des Schulbegleiters in Höhe von 14.215,40 Euro Unterstützung von einem Verein in Höhe von 1.100 Euro erhalten habe, mindere sich sein Anspruch auf 13.115,40 Euro.

Der Beklagte verzichtete angesichts der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auf eine inhaltliche Äußerung zur Berufung.

Die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreter des öffentlichen Interesses hält die Berufung für begründet.

Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden.

4. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten verwiesen (§ 125 Abs. 1, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers, über die der Verwaltungsgerichtshof mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.

1.1 Der Kläger hat gegen den Beklagten im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG Anspruch auf Übernahme der Kosten des Integrationshelfers für den Besuch der Montessori-Schule in W. im Schuljahr 2004/2005.

Der Kläger, der zum Personenkreis des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG gehört, benötigt zur Erreichung einer angemessenen Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht die Unterstützung eines Integrationshelfers, um während des Unterrichts seine körperlichen Defizite auszugleichen. Dieser Anspruch scheitert nicht daran, dass der Kläger bei einem Besuch der Förderschule mit Schwerpunkt im Bereich der körperlichen motorischen Entwicklung nicht auf einen gesonderten Integrationshelfer angewiesen wäre und seinem Begehren daher der Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 BSHG entgegenstünde. Eine "angemessene Schulbildung" im Sinn von § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG erhält der Kläger allein in der Volksschule seines Heimatorts. Halbsatz 2 dieser Vorschrift, wonach die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht unberührt bleiben, stellt klar, dass auch der Träger der Sozialhilfe an schulische Entscheidungen der hierfür zuständigen Stellen gebunden ist (vgl. BVerwG vom 16.1.1986 NDV 1986, 291). Ob der Besuch einer allgemeinen Schule dem behinderten Kind eine angemessene Schulbildung vermittelt, hat nicht der Träger der Sozialhilfe zu entscheiden, vielmehr richtet sich dies allein nach dem Schulrecht (vgl. VGH Baden-Württemberg vom 14.1.2003 FEVS 54, 218).

Der Kläger ist nach den schulrechtlichen Vorschriften nicht verpflichtet, die Förderschule zu besuchen, sondern berechtigt, seine Schulpflicht durch den Besuch einer allgemeinen Schule, hier der Volksschule, zu erfüllen. Die Schulpflicht der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, zu denen der Kläger gehört, wird durch Art. 41 des Bayerisches Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl 414) geregelt. Um die Unterrichtung behinderter Schüler an allgemeinen Schulen zu erleichtern, hat die Gesetzesänderung darauf verzichtet, behinderten Schülern die gleichen Lernziele zu setzen wie nicht behinderten Schülern (vgl. LT-Drs. 14/9152, Begründung, Allgemeiner Teil S. 19). Nach Art. 41 Abs. 1 Satz 1 BayEUG haben Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die am gemeinsamen Unterricht an der allgemeinen Schule nicht aktiv teilnehmen können oder deren sonderpädagogischer Förderbedarf an der allgemeinen Schule auch mit Unterstützung durch Mobile Sonderpädagogische Dienste nicht oder nicht hinreichend erfüllt werden kann, eine für sie geeignete Förderschule zu besuchen. Der Kläger kann nach den Stellungnahmen der von ihm besuchten privaten Montessori-Schule und des Gesundheitsamtes des Beklagten vom 14. Juli 2004 am gemeinsamen Unterricht in der allgemeinen Schule aktiv teilnehmen.

Auch die zweite Voraussetzung für eine Verpflichtung zum Besuch der Förderschule liegt nicht vor, weil der sonderpädagogische Förderbedarf des Klägers an der allgemeinen Schule mit Unterstützung des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes hinreichend erfüllt werden kann. Nach Art. 21 Abs. 3 BayEUG, der den Einsatz der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste zeitlich begrenzt, können für die Fördermaßnahmen einschließlich des anteiligen Lehrerstundeneinsatzes je Schüler in der besuchten allgemeinen Schule im längerfristigen Durchschnitt nicht mehr Lehrerstunden aufgewendet werden, als in der entsprechenden Förderschule je Schüler eingesetzt werden. In Bezug auf Art. 41 Abs. 1 BayEUG kann daraus entnommen werden, dass der sonderpädagogische Förderbedarf an der allgemeinen Schule nicht mehr zu erfüllen ist, wenn damit ein Lehrerstundeneinsatz verbunden wäre, der über die dort genannten Grenzen erheblich hinausgeht. Stellt man der Zeit von 1,12 Stunden, die ein Lehrer mit 28 Wochenstunden in einer allgemeinen Grundschulklasse mit 28 Kindern jedem Kind zur Verfügung steht, den Lehrerstundeneinsatz von 2,8 Stunden in einer Förderschule (28 Wochenstunden einer Förderschulklasse mit 10 Kindern) gegenüber, so kann als Richtwert abgeleitet werden, dass für ein Kind in einer allgemeinen Grundschulklasse über den Mobilen Sozialpädagogischen Dienst bis zu 2 Wochenstunden zur Verfügung gestellt werden können (vgl. BayVGH vom 6.10.2004 VGH n.F. 57/152).

Da der sozialpädagogische Förderbedarf des Klägers nach der Stellungnahme der privaten Montessori-Volksschule in W. vom 16. April 2007 mit 1 bis 2 Wochenstunden abgedeckt wird, kann der Kläger nicht in eine Förderschule überwiesen werden, sondern ist berechtigt, die örtliche Grundschule zu besuchen. Damit ist er auch berechtigt, die streitgegenständliche private Volksschule in W. zu besuchen.

Da der Sozialhilfeträger die Hilfegewährung trotz rechtzeitiger Beantragung rechtswidrig unterlassen hat, durfte sich der Hilfesuchende selbst helfen und vom Sozialhilfeträger die Übernahme der für den Einsatz des Integrationshelfers entstandenen Kosten verlangen. Ein Zuwarten auf eine bestandskräftige Entscheidung war dem Kläger nicht zuzumuten, da seine Einschulung im September 2004 nicht hinausgeschoben werden konnte.

Dass die Eltern den Bedarf des hilfebedürftigen Klägers gedeckt haben, kann dem Sozialhilfeanspruch nicht entgegengehalten werden. Denn sie haben die Hilfeleistung nicht als verlorenen Zuschuss, sondern nur deshalb erbracht, weil der Beklagte ein Eingreifen trotz rechtzeitiger Beantragung unterlassen hat. Die Eltern des Klägers haben ihre vorschussweise Zahlung dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie den Integrationshelfer beauftragten und gleichzeitig im Namen ihres Sohnes auf Kostenübernahme geklagt haben. Auf die Frage, ob die Eltern des Klägers im Rahmen ihrer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht zur Kostenübernahme verpflichtet gewesen wären, kommt es nicht an. Denn § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 BSHG mutet den Eltern behinderter Kinder unabhängig von ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen bei der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung allenfalls zu, die Kosten des Lebensunterhalts in Höhe der ersparten häuslichen Aufwendungen aufzubringen. Die mit dieser Regelung verfolgte wirtschaftliche Gleichstellung von Eltern behinderter mit denen nicht behinderter Kinder würde aber vereitelt, wenn der Sozialhilfeträger das behinderte Kind bei der Hilfe zur Schulbildung auf Unterhaltsansprüche gegen seine Eltern verweisen könnte (vgl. BVerwGE 94, 127).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.

3. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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