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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 09.06.2005
Aktenzeichen: 12 BV 02.969
Rechtsgebiete: SGB X, BSHG, SGB VIII


Vorschriften:

SGB X § 102
SGB X § 104
BSHG § 39 Abs. 1 Satz 1
BSHG § 39 Abs. 1 Satz 2
SGB VIII § 10 Abs. 2 Satz 2
SGB VIII § 35 a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 BV 02.969

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Jugendhilfe;

hier: Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. März 2002,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 8. Juni 2005

am 9. Juni 2005

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1. Der Kläger, ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe, begehrt vom Beklagten, einem örtlichen Träger der Jugendhilfe, die Erstattung der Kosten, die er bei der Gewährung von Eingliederungshilfe für die Hilfeempfängerin M. O. (HE) in Gestalt von deren Internatsunterbringung in einem Sehbehindertenzentrum aufwandte. Zu dieser Hilfegewährung war der Kläger durch Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 10. April 2004 verpflichtet worden.

2. Die am 5. Dezember 2001 erhobene Klage mit dem Antrag, den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die in der Zeit vom 29. Juli 1998 bis 30. Juni 2001 entstandenen Aufwendungen für die HE in Höhe von 189.403,71 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zu erstatten wies das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Urteil vom 26. März 2002 ab. Ein Erstattungsanspruch nach § 102 Abs. 1 SGBX bestehe nicht. Der Kläger sei gegenüber dem Beklagten nicht lediglich vorläufig zur Hilfeleistung für die HE zuständig gewesen, sondern endgültig und im Verhältnis zum beklagten Jugendhilfeträger vorrangig nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Die tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl eines jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfeanspruchs nach § 35 a SGB VIII als auch eines sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfeanspruchs nach § 39 Abs. 1 BSHG seien erfüllt, wobei die Leistung der Jugendhilfe mit der der Sozialhilfe gleich, gleichartig und kongruent sei. Nach dem Wortlaut des Gesetzes sei der Kläger vorrangig zur Leistung verpflichtet gewesen, auch wenn die HE i.S. des §39 Abs. 1 Satz 2 BSHG nicht wesentlich körperlich behindert sei. Es könne offen bleiben, ob bei diesem Verständnis der Vorschrift noch Raum für die landesgesetzliche Regelung des Art. 53 Abs. 1 BayKJHG sei. Auch hiernach habe der Kläger als Sozialhilfeträger die Leistung vorrangig erbringen müssen, und zwar als Muss-Leistung. Er könne gegenüber dem beklagten Jugendhilfeträger nicht einwenden, weil die HE nicht wesentlich körperlich behindert sei, seien seine Leistungen der Eingliederungshilfe in sein pflichtgemäßes Ermessen gestellt und daher den Muss-Leistungen der Jugendhilfe nachrangig. Bei einem Zusammentreffen eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe nach dem Jugendhilferecht als Muss-Leistung mit einem Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem Sozialhilferecht, die in das pflichtgemäße Ermessen des Trägers der Sozialhilfe gestellt ist, sei davon auszugehen, dass der zwingende Anspruch des Hilfesuchenden gegenüber dem Jugendhilfeträger sich dahingehend auswirke, dass er gegenüber dem Sozialhilfeträger ebenfalls einen zwingenden Anspruch auf diese Leistung habe.

3. Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung beantragt der Kläger,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. März 2002 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm die Sozialhilfeaufwendungen für M.O. in der Zeit vom 29. Juli 1998 bis 30. Juni 2001 in Höhe von 189.403,71 DM nebst Zinsen in Höhe von 5 % über den jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.

Der Beklagte sei vorliegend der endgültig zur Leistung verpflichtete Sozialleistungsträger i.S. des § 102 SGB X. Die HE sei körperlich nicht wesentlich behindert und habe ihm gegenüber daher gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 BSHG lediglich einen Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens bezüglich der Gewährung von Eingliederungshilfe. Gegen den Beklagten stehe der HE jedoch ein Rechtsanspruch auf Gewährung der Eingliederungshilfe zu, weil sie seelisch wesentlich behindert sei. Der Beklagte hätte im Gegensatz zu ihm die Leistung erbringen müssen. Weder § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII noch Art. 53 Abs. 1 BayKJHG ändere daran etwas, dass er als Sozialhilfeträger die Leistung nicht habe erbringen müssen, sondern die Erbringung der Leistung in seinem Ermessen stand. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts könne von gleichartigen, kongruenten oder gleichrangigen Eingliederungshilfeleistungen keine Rede sein, wenn es sich einmal um eine Ermessens-Leistung und zum andern um eine Muss-Leistung handle. Im übrigen ergebe sich auch aus dem Gutachten des Landesarztes vom 7. August 2000, dass die Maßnahmen in dem Sehbehindertenzentrum vorrangig auf die bei der HE bestehende seelische Behinderung ausgerichtet gewesen seien. Die körperliche Sehbehinderung der HE habe nicht in gleichem Umfang die Maßnahmen der Eingliederungshilfe notwendig gemacht.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

4. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten der vorgelegten Unterlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Kläger kann vom Beklagten die von ihm für die sehbehinderte HE aufgewandten Kosten der Eingliederungshilfe nicht erstattet bekommen.

Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Klage abgewiesen. Allerdings steht dem Kläger nach § 102 SGB X schon deshalb kein Erstattungsanspruch gegen den Beklagten zu, weil er jedenfalls im Verhältnis zum Beklagten nicht "auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht" hat. Der Kläger hat vielmehr auf Grund des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 10. April 2001 als "endgültig" verpflichteter Sozialleistungsträger der HE Eingliederungshilfe geleistet. Bei seinem Erstattungsbegehren kann er deshalb gegenüber dem Beklagten allenfalls geltend machen, er sei hierzu im Verhältnis zum Beklagten nachrangig und dieser vorrangig verpflichtet gewesen. Jedoch sind auch die Voraussetzungen des § 104 SGBX, der den Kostenerstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers regelt, nicht erfüllt, weil der Kläger vorrangig und der Beklagte nachrangig verpflichtet war, die Eingliederungshilfe für die HE zu leisten. Das ergibt sich aus § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII in der hier maßgeblichen bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl I S. 1088), geändert durch das Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts vom 23. Juli 1994 (BGBl I S. 646). Danach gehen Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) vor. Die HE war in diesem Sinne körperlich behindert. Insofern ist unerheblich, ob es sich dabei um eine wesentliche Behinderung im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG oder um eine nicht wesentliche Behinderung im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 2 BSHG handelt. Ebenso wenig kann dem Einwand des Klägers gefolgt werden, dass die Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz deshalb nicht vorrangig seien, weil er der HE wegen ihrer nicht wesentlichen körperlichen Behinderung eine Eingliederungshilfe nur habe gewähren können nach § 39 Abs. 1 Satz 2 BSHG, aber nicht habe gewähren müssen nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Der Kläger verkennt, dass er der HE die Hilfe nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG gewähren musste, weil diese u.a. "seelisch wesentlich behindert" war. Hiervon ist nicht nur auf Grund des rechtskräftigen Urteils vom 10. April 2001 auszugehen (vgl. auch den hierzu ergangenen Beschluss des Senats vom 21.8.2001 über die Nichtzulassung der Berufung); vielmehr ist der Senat hiervon auch überzeugt auf Grund der Feststellungen des Landesarztes in seiner Stellungnahme vom 7. August 2000, des Kurzberichtes der Diplom-Psychologin Dr. M. S. vom Verein für Sehgeschädigtenerziehung e.V. vom 10. Januar 2000 sowie der Stellungnahme dieses Vereins vom 13. Oktober 1998 (Berufswahlhilfe). Der Kläger hat das auch nicht bestritten, sondern nur verkannt, dass er wegen dieser wesentlichen seelischen Behinderung zur Gewährung der Eingliederungshilfe verpflichtet war. Bei dieser Sach- und Rechtslage erübrigt sich die Prüfung der landesrechtlichen Zuständigkeitsregelung des Art. 53 Abs. 1 BayKJHG.

2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 188 Satz 2 VwGO in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung. Der Senat hat von einer Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt abgesehen, weil er davon ausgeht, dass der Beklagte nicht beabsichtigt, seine ohnehin nicht in nennenswerter Höhe angefallenen außergerichtlichen Kosten vor Rechtskraft der Entscheidung zu vollstrecken.

3. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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